Zentrische Kondylenpositionsanalyse - Übersicht und klinische Bewertung nach Untersuchungen mittels computergestützter Messsysteme



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Aus dem Funktionsbereich CAD/CAM- und CMD-Behandlung (Leiter: Prof. Dr. med. dent. B. Kordaß) der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde (Direktor: Prof. Dr. med. dent. R. Biffar) im Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (Wissenschaftlicher Direktor: Prof. Dr. med. dent. G. Meyer) der Universitätsmedizin der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Zentrische Kondylenpositionsanalyse - Übersicht und klinische Bewertung nach Untersuchungen mittels computergestützter Messsysteme Inaugural-Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Zahnmedizin (Dr. med. dent.) der Universitätsmedizin der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 2012 vorgelegt von: Dipl.-Stom. Bert Bräunig M. Sc. geb. am 16.05.1966 in: Lutherstadt-Wittenberg

Dekan: Prof. Dr. rer. nat. H. K. Kroemer 1. Gutachter: Prof. Dr. B. Kordaß 2. Gutachter: Prof. Dr. H. Küppers Ort, Raum: Hörsaal der neuen Zahnklinik, W.-Rathenau-Str. 42a, Greifswald Tag der Disputation: 11. Oktober 2012

Inhaltsverzeichnis Seite 1. Einleitung 1 2. Zielstellung 4 3. Grundlagen 5 3.1. Physiologische Aspekte der Unterkieferbewegungen 5 3.1.1. Das Kiefergelenk 5 3.1.2. Die Kaumuskulatur 8 3.1.3. Die Bewegungen des Unterkiefers 11 3.2. Biomechanische Aspekte der Unterkieferbewegung 16 3.3. Die Kondylenpositionen 19 3.4. Die Okklusion in ihrer Beziehung zur Kondylenposition 22 3.5. Die Kieferrelationsbestimmung 25 3.5.1. Passive Verfahren zur Bestimmung der zentrischen Kondylenposition 28 3.5.2. Aktive und kombiniert Aktiv/Passive Registrierverfahren 30 3.5.3. Semiaktive Verfahren zur Bestimmung der zentrischen Kondylenposition 31 3.5.4. Das IPR-System 36 3.5.5. Klinische Ergebnisse und Wertungen 39 3.6. Materialien zur Kieferrelationsbestimmung 44 3.7. Computergestützte elektronische Registriersysteme zur Aufzeichnung von Unterkieferbewegungen 48 3.8. Die Kondylenpositionsanalyse 51 4. Material und Methoden 56 4.1. Ausgangshypothesen 56 4.2. Auswahl der Patienten 57 4.3. Vorbereitende Maßnahmen 59 4.4. Das ARCUSdigma II 63 4.5. Ablauf der Messungen 67 4.5.1. Teil A 67 4.5.2. Teil B 72 4.6. Statistische und deskriptive Auswertung 73 5. Ergebnisse 75 5.1. Zuverlässigkeit der angewandten Verfahren 75 5.2. Auswertung der kraftabhängigen Messreihen 77 5.3. Auswertung der Verteilung der Messwerte für den Teil A 79 5.4. Auswertung der Verteilung der Messwerte für den Teil B 82 5.5. Vergleichende Auswertung der Teile A und B 85

5.6. Statistische Auswertung 88 5.6.1. Teil A 88 5.6.2. Teil B 89 5.6.3. Vergleich der Untersuchungsreihen aus Teil A und B je angewandter Methode 90 5.7. Deskriptive Auswertung 91 5.7.1. Vergleich des Gleitweges in zentrischer Relation mit der Größe der Streuung der Messergebnisse 91 5.7.2. Vergleich der Größe der Bisssperrung mit den Auswirkungen auf die Verlagerung der Kondylenposition 92 5.7.3. Auswertung der von den Patienten subjektiv bevorzugten Unterkieferlage nach Inkorporation der Positionierungsschienen 93 5.7.4. Auswertung der EMG-Messung 94 6. Diskussion 95 7. Zusammenfassung 106 8. Empfehlungen für die Praxis 109 9. Anhang 111 10. Literaturverzeichnis 123 Eidesstattliche Erklärung 132 Danksagung 133

1. Einleitung Für verschiedene zahnärztliche diagnostische und therapeutische Maßnahmen ist es erforderlich, den Unterkiefer in der richtigen räumlichen Position dem Gesichtsschädel zuordnen zu können. Besondere Bedeutung hat die Bestimmung der Kieferrelation im Rahmen prothetischer Rekonstruktionen in der Behandlung craniomandibulärer Dysfunktionen und bei der Planung komplexer 1, kieferorthopädisch-kieferchirurgischer Behandlungsmaßnahmen 2. Sie dient speziell der Versorgung von: zahnlosen Kiefern bezahnten oder teilbezahnten Kiefern mit starker okklusaler Attrition teilbezahnten Kiefern mit Verlust einer oder mehrerer Stützzonen veränderten Kieferrelationen infolge von Veränderungen der Fossa-Diskus- Kondylus-Relation Dysgnathien. Im Ergebnis einer intraoralen Registrierung der dreidimensionalen Lage des Unterkiefers zum Oberkiefer erfolgt die Übertragung der Patientensituation in einen Artikulator. Damit wird es möglich, extraoral Befunde zu erheben und Behandlungsstrategien festzulegen bzw. umzusetzen. Entsprechend ist es erforderlich, dass die zur Anwendung kommenden Methoden und Materialien zuverlässige und reproduzierbare Ergebnisse erlauben. Ausgangspunkt ist aber die Frage nach der richtigen Position des Unterkiefers im Verhältnis zum Gesichtsschädel und damit der dreidimensionalen physiologischen Gelenkposition. Diese Frage wurde in der Vergangenheit oft unterschiedlich beantwortet. Die Bestimmung einer zentrischen Kondylenposition bzw. der centric relation ist ein wichtiges Thema in der Zahnmedizin, das aber infolge vieler kontrovers geführter Diskussionen und bisweilen unübersichtlicher Nomenklatur sehr heterogen wirkt. So weist das Glossary of Prosthodontic Terms der Acadamy of Prosthodontics aus dem Jahr 2005 sieben verschiedene Erklärungen zum Thema centric relation auf 3. TRUITT et al. nutzten 2009 5 verschiedene Definitionen des Glossary of Prostothodontic Terms für eine Studie unter Kieferorthopäden und chirurgisch tätigen Kollegen. Dabei zeigte sich trotz gewisser Präferenzen eine uneinheitliche Interpretation des Begriffes centric 1

relation. Dementsprechend waren auch Aussagen zu den therapeutischen Konsequenzen nicht einheitlich 4. Zu einem ähnlichen Ergebnis waren bereits BAKER et al. 2005 in einer Untersuchung gekommen, als sie verschiedene Behandlungsphilosophien bei prothetischen Versorgungen in Bezug auf die Zuordnung des Unterkiefers zum Oberkiefer hinterfragten 5. Die unterschiedlichen Auslegungen hinsichtlich der physiologischen Position des Processus condylaris mandibulae zur Fossa mandibularis spiegeln sich in den akademischen Lehrmeinungen verschiedener Hochschuleinrichtungen wieder. Zu diesem Ergebnis kamen JASINEVICIUS et al. in einer Befragung an sieben amerikanischen Dental Schools 6. Die Bedeutung der Thematik zeigt sich auch in der wissenschaftlichen Literatur. STAMM et al. konnten aus dem Zeitraum 1899 bis 2001 1903 Artikel mit Bezug zur Kondylenposition auffinden 7. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass trotz intensivster Forschung nur wenige evidente Fakten über eine dreidimensionale physiologische Gelenkposition existieren 7. Grundsätzlich ist dabei zu bedenken, dass in einem biologischen System Veränderungen immer möglich sind und eine Zentrik für immer daher nicht bestehen kann 8. Somit beschreibt die zentrische Kondylenposition eine ideale Zuordnung des Kiefergelenkes 2, die aber durch anatomische, physiologische und pathologische Faktoren beeinflusst wird. Der praktisch tätige Zahnarzt befindet sich daher in einem Spannungsfeld zwischen seinem Wunsch nach exakt bestimmbaren Grenzpositionen des Unterkiefers und der biologisch bedingten Variabilität der Unterkieferposition. Daher ist die Frage berechtigt, ob es überhaupt einen definierten Standard zur Festlegung der zentrischen Kondylenposition geben kann. In der täglichen Praxis haben sich einige Verfahren durchgesetzt, deren Reliabilität und Reproduzierbarkeit in verschiedenen Studien belegt werden konnte. Es zeigte sich, dass Abweichungen aus unterschiedlichsten Gründen bei der Bestimmung der zentrischen Relation möglich sind. Dabei ist zu beachten, dass der überwiegende Teil der Studien an stomatognath gesunden, vollbezahnten Probanden 9-25 Patienten mit Symptomen einer craniomandibulären Dysfunktion 26-28 zahnlosen Patienten 29-33 durchgeführt wurde. In der täglichen Praxis ist die Bestimmung der zentrischen Kondylenposition dagegen vorwiegend im Rahmen umfassender prothetischer Rehabilitationsmaßnahmen notwendig. Die Reliabilität der in der Literatur 2

beschriebenen Verfahren wird für diese Behandlungsfälle zumeist indirekt abgeleitet. Die zu Studienzwecken eingesetzten Verfahren zur Kontrolle und Auswertung der erfolgten Registrierungen (Kondylenpositionsmessinstrumente, bildgebende Verfahren etc.) kommen in der täglichen Praxis auf Grund ihres zeitlichen und apparativen Aufwandes nur selten zum Einsatz. In der Regel werden mehrere Registrate genommen und anschließend im zahntechnischem Labor miteinander verglichen. Eine direkte, einzeitige Überprüfung der erfolgten Bestimmung der zentrischen Kondylenposition am Patienten bedingt den Einsatz computergestützter Systeme. Inwieweit damit höhere Qualitätsstandards erreicht werden können, ist noch nicht umfassend geklärt. Betrachtet man zusätzlich die derzeitigen Fehlerquellen in der Verfahrenskette (Registrierung, Fixierung, Kontrolle, Umsetzung) im Verhältnis zu den technischen Optionen (z. B. elektronisches Zentrikregistrat, elektronische Positionsanalyse, virtuelle Abformungen und Artikulatoren) sind weitere Untersuchungen unumgänglich. Die Qualität bei der Ermittlung der zentrischen Relation kontrolliert zu verbessern ist einerseits wünschenswert, andererseits aber auch an die Frage gekoppelt, wie exakt eine Messung im Verhältnis zur biologischen Variabilität des stomatognathen Systems sein kann und muss. Die Anforderungen an die Ermittlung patientenindividueller Daten zur dreidimensionalen Zuordnung des Unterkiefers zum Oberkiefer steigen, wenn die bestehende Relation verändert werden muss 34-38. Neben technischen Parametern gilt es auch subjektive Faktoren bei der Bestimmung der zentrischen Kondylenposition, wie z. B. den Behandlereinfluss 21, 39 zu beachten. Die aufgeführten Aspekte zeigen, dass neben der grundsätzlichen Frage über die physiologische Position des Processus condylaris mandibulae zur Fossa mandibularis die für die tägliche Praxis wichtigen praktischen Abläufe unter Beachtung patientenindividueller Besonderheiten diskutiert werden müssen. 3

2. Zielstellung Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen, ausgehend vom gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, verschiedene Fragen zur praktischen Erfassung der dreidimensionalen Zuordnung des Unterkiefers zum Oberkiefer beantwortet werden. Mithilfe computergestützter Verfahren werden Registrate zur Bestimmung der zentrischen Kondylenpositionsanalyse relativ zueinander vor und nach Umsetzung in einem zahntechnischen Labor am Patienten direkt miteinander verglichen. Ausgangshypothese ist dazu, dass verschiedene, in Theorie und Praxis bewährte und als reliabel eingeordnete Verfahren zueinander keine signifikanten Abweichungen bei ihrem Einsatz am Patienten aufweisen. Zusätzlich sind der Einfluss der Kaukraft, mögliche systematische Material- und Verfahrensfehler und patientenindividuelle Gegebenheiten zu beachten. Im Einzelnen sind folgende Aspekte von Interesse: I. Gibt es statistisch signifikante Abweichungen der Kondylenposition bei der Anwendung verschiedener Registriermethoden am Patienten? II. Wie verändern sich die Ergebnisse zur Bestimmung der Zentrik nach Umsetzung der Registrate in einen volljustierbaren Artikulator unter Beachtung der patientenindividuellen Werte? III. Sind Aussagen zur Reliabilität einzelner Verfahren am Patienten möglich? IV. Welche Vorteile und Grenzen ergeben sich für einzelne Verfahren bei der Anwendung am Patienten? V. Welche Faktoren können auf die Registrierung der dreidimensionalen Unterkieferlage und auf die Ermittlung der Kondylenposition nach erfolgter Fixierung und deren Umsetzung Einfluss haben? VI. Wie relevant sind die zu erwartenden Abweichungen bei der Bestimmung der zentrischen Kondylenposition auf weiterführende Behandlungsmaßnahmen? VII. Ist der Einsatz einer elektronischen Kondylenpositionsanalyse für die Qualitätssicherung der Registrierung zu empfehlen? 4

3. Grundlagen 3.1. Physiologische Aspekte der Unterkieferbewegungen Unterkieferbewegungen sind für die Funktionen des stomatognathen Systems von entscheidender Bedeutung. Kauen, Sprechen, Schlucken, Pressen, Knirschen etc. erfordern die Bewegung der Mandibula 40. Die dazu erforderlichen dreidimensionalen Bewegungsformen ergeben sich aus dem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher anatomischer Strukturen. Verschiedene Komponenten ergeben eine Funktionseinheit. Dazu gehören die Zähne, das Parodontium, der Ober- und Unterkiefer, Muskeln des Kopf-Hals-Bereiches, neuronale und vaskuläre Strukturen, die Haut und Schleimhäute, die Speicheldrüsen, das Zentralnervensystem und das Kiefergelenk. Zusammengefasst wird vom Kauorgan gesprochen. Zum Verständnis der funktionellen Zusammenhänge innerhalb des Kauorgans wird ein kurzer Überblick über wesentliche anatomische, histologische, physiologische und pathologische Aspekte gegeben. 3.1.1. Das Kiefergelenk Das Kiefergelenk nimmt unter den menschlichen Gelenken eine Sonderstellung ein. Es stellt unter physiologischen Bedingungen ein druckbeanspruchtes Gelenk dar, dessen einzelne artikulierende Komponenten aufgrund der Hebelverhältnisse je nach Lage okklusaler Kontakte sowie Größe und Kontraktion der Kaumuskulatur unterschiedlich belastet werden 41. Die Größe der Belastung im Kiefergelenk kann 50-80 kp betragen, womit es das am meisten belastete Gelenk im menschlichen Körper ist 42, 43. Funktionelle Belastungen durch Druck-, Zugund Scherkräfte bedingen aber im Normalfall ein Gleichgewicht zwischen Struktur und Funktion 41. Einfluss auf die Gelenkform und bestimmte Bewegungen haben u. a. auch die Kauflächen der Zähne, so dass strukturelle Veränderungen durch mangelhafte Okklusion, aber auch durch physiologische Veränderungen wie z. B. Alterungsprozesse bedingt sein können 42, 43. Als weitere Besonderheiten gelten, dass das Kiefergelenk keinen festen Drehpunkt hat, sechs Freiheitsgrade aufweist und dass das linke und rechte Kiefergelenk immer zusammenwirken müssen 41-43. 5

Dementsprechend zeigen sich seine morphologischen Charakteristika. Das Kiefergelenk ist ein synoviales Gelenk, d. h., dass die Gelenkflächen mit Faserknorpel überzogen sind, die Gelenkteile durch eine fibröse Gelenkkapsel und durch Bänder in Kontakt gehalten, sowie durch die Synovialflüssigkeit gleitfähig gemacht werden 44. Zum Kiefergelenk werden folgende Bestandteile gezählt: Processus condylaris mandibulae (Kondylus) Tuberculum articulare / Fossa mandibularis Discus articularis Capsula articularis Ligament. Der Kondylus kann verschiedene Formen haben 45-47. Form- und Oberflächenveränderungen verstärken sich mit zunehmendem Alter erheblich 47, wobei die Form selber keinen Einfluss auf die Arbeitsweise des Kiefergelenks hat. Die artikulierenden Gelenkflächenanteile sind mit einer Schicht dichten, fibrösen Bindegewebes, das hauptsächlich aus Kollagen-Typ-I-Fasern besteht, bedeckt 48. Darunter liegt eine Proliferationszone mit undifferenzierten Bindegewebszellen, an die sich eine Faserknorpelschicht anschließt. Der Gelenkflächenknorpel dient dazu, in Funktion die Reibung zu minimieren und Krafteinwirkungen gleichmäßiger auf den subchondralen Knochen abzuleiten 2. Dem Kondylus steht die Pars squamosa ossis temporalis gegenüber. Dazu gehören die konkave Fossa mandibularis und das konvexe Tuberculum articulare. Sie sorgen für die knöcherne Führung des Kondylus bei allen Unterkieferbewegungen. Die temporale Gelenkfläche ist mehr als doppelt so groß wie die durch den Kondylus gebildete Gelenkfläche und nicht kongruent 48. Die temporalen Gelenkanteile weisen in Regionen erhöhter Belastungen eine größere Knochendichte auf. Die Fossa mandibularis ist somit wesentlich weniger zur Aufnahme von hohen Drücken geeignet als das Tuberculum articulare. Entsprechend einer funktionellen Unterteilung in den Processus postglenoidalis, die Fossa glenoidalis, die Protuberantia articularis und den Zenit der Eminentia 2 zeigen sich auch strukturelle Unterschiede. Die Neigung der Protuberantia im Verhältnis zur Okklusionsebene ist sowohl alters- und funktionsabhängig. Funktionelle Überlastungen können an den knöchernen Strukturen des Kiefergelenks zu Veränderungen führen. Eine Knorpelhypertrophie kann dabei 6

alleine oder in Verbindung mit einer Knochenapposition auftreten und im Sinne einer Adaptation als biologische Antwort gewertet werden. Ist dieses Potential erschöpft oder sind weitergehende funktionelle Störungen vorhanden, kann es zu Knorpeldegenerationen, Knochendeformationen, Entzündungen oder Ankylose kommen 2. Zur Kompensation der fehlenden Größen- und Formkongruenz zwischen dem Kondylus und den temporären Gelenkflächenanteilen dient der Discus articularis 48. Der gefäßfreie Discus articularis mit seiner Pars anterior, Pars intermedia und Pars posterior dient als bewegliche Gelenkfläche und zur Abfederung und Ableitung von Druck-, Zug- und Scherkräften. Dementsprechend ist sein struktureller Aufbau nicht gleichmäßig. Er besteht aus Typ-I-Kollagen und Proteoglykanen 48. Der Discus ist bikonkav und verdickt sich von der Mitte zu den Rändern hin. In seinem vorderen Abschnitt hat er Verbindung zur Capsula articularis und zur Pars superior des Musculus pterygoideus lateralis. In seinem hinteren Abschnitt weist der Discus zur Hinterwand der Fossa mandibularis ein fibroelastisches Gewebe auf. Zum Hinterrand des Caput mandibulae zeigt sich ein fibröser Gewebsanteil 42. Allgemein dienen seine kollagenen Faseranteile einer erhöhten Widerstandsfähigkeit, während die elastischen Faseranteile zur Wiederherstellung seiner Form nach Entlastung benötigt werden 2. In seinem dorsalen Anteil ist der Discus über das Stratum superius der bilaminären Zone mit dem Kondylus verbunden. Dieses Stratum superius ist zudem an der Fossa mandibularis fixiert und stellt einen Antagonisten zum M. pterygoideus lateralis dar. Damit wird zusätzlich eine Lagestabilisierung des Discus articularis erreicht. Das Stratum superius ist aus elastischen und kollagenen Fasern, Fett und Gefäßen aufgebaut 2. Dagegen besteht das Stratum inferius der bilaminären Zone aus straffen kollagenen Fasern. Es setzt an der Rückseite des Kondylus an. Zwischen den beiden Strata liegt das Genu vasculosum. Es besteht aus Fettgewebe, Bindegewebe und Gefäßen. Damit kann es Volumenänderungen ausgleichen und dient als hydropneumatisches Polster bei Lageveränderungen 42. Die knöchernen Gelenkanteile sind von einer Kapsel umschlossen. Die Capsula articularis besteht aus lockeren elastischen Fasern. Dadurch wird eine größtmögliche Bewegungsfreiheit zugelassen. Die Innenseite der Capsula ist ein 7

Synovialgewebe, deren Zellen die Synovialflüssigkeit bilden. Diese dient als Gleitmittel zur Optimierung der Bewegungsabläufe im Gelenk und als nutritives Medium des nicht vaskularisierten Gelenkknorpels. Zur Verstärkung der relativ schwachen Kapsel dient das Ligamentum laterale. Im Zusammenwirken mit dem Ligamentum stylomandibulare und dem Ligamentum sphenomandibulare werden Unterkieferbewegungen begrenzt. Zusätzlich beschrieben wurden dazu das Ligamentum discomalleare und das Tanaka-Ligament. Die Kapsel ist mit dem Diskus entlang dessen gesamter Zirkumferenz fest verbunden. 44 Die Verbindung des Discus mit der Capsula articularis und die Verbindung Discus-Capsula-Kondylus erlaubt die Unterteilung des Kiefergelenks in zwei Teilgelenke ( Diskokapsuläres System nach Dauber 44 ). 3.1.2. Die Kaumuskulatur Die Kaumuskulatur bewirkt und steuert maßgeblich die dreidimensionalen Bewegungen des Unterkiefers. Ihr komplexer Aufbau und die daraus resultierenden vielfältigen Kontraktionseigenschaften machen die Kaumuskeln zu den kräftigsten und einzigartigen Muskeln im menschlichen Körper 49, 50. Die günstigen Kraftvektoren der Kaumuskulatur ermöglichen effektive Bewegungsabläufe im Sinne einer Abduktion, Adduktion, Protrusion, Retrusion und Laterotrusion. Dazu ist eine isotonische, eine isometrische oder eine auxotonische Muskelaktivierung erforderlich. Desweiteren ergeben sich durch die Einbindung in entsprechende Muskelketten Beziehung zu allen Teilen des Skeletts 42. An der Mandibula setzen sieben paarige Einzelmuskel an 40, 51, 52. Dazu gehören der M. temporalis, M. masseter, M. pterygoideus medialis, M. pterygoideus lateralis und die suprahyoidale Muskulatur (M. digastricus venter anterior, M. mylohyoideus, M. geniohyoideus). Die suprahyoidale Muskulatur (zusätzlich mit dem M. stylohyoideus und M. digastricus venter posterior) steht direkt oder indirekt mit dem Hyoid in Verbindung und arbeitet dort mit den Mm. Infrahyoidei zusammen 44. Die Funktion der Kaumuskeln ergibt sich aus ihrem dreidimensionalen Verlauf vom Ursprung zum Ansatz 40. Bei Kontraktion der betreffenden Muskeln nähert sich das Punctum mobile (meist Muskelansatz) dem Punctum fixum (meist Muskelursprung) an 40. Bei der Betrachtung eines Frontalschnittes des Kopfes werden die Angulationen der Adduktoren (M. 8

temporalis, M. masseter, M. pterygoideus medialis) zusammen mit dem horizontalen Verlauf der Muskelfasern des M. pterygoideus lateralis deutlich. Diese Anordnung ist Grundlage für die große Vielzahl der Kraftvektoren, die eine hocheffiziente Okklusion ermöglichen. Dazu lässt sich die durch Sehnenspiegel ermöglichte multiple Fiederung der Adduktoren erkennen 51. Diese ergibt einen kleinen anatomischen, aber einen großen physiologischen Querschnitt. Im Gegensatz zu diesen komplexen Muskeln weisen der M. digastricus und der M. pterygoideus lateralis eine einfachere Struktur auf. Dieser Unterschied ergibt sich daraus, dass diese beiden Muskeln nicht solche hohen Kräfte entwickeln müssen. Die nachfolgende Übersicht fasst die Kaumuskeln mit ihrer funktionellen Bedeutung zusammen: Tabelle 1: Die Kaumuskeln und ihre Funktionen nach SCHINDLER und TÜRP 51 Muskeln Hauptfunktion Hinweis M. temporalis Kieferschluss / Kieferpressen Unterkiefer-Rückschub M. masseter Kieferschluss/ Kieferpressen Protrusion M. pterygoideus Kieferschluss / Kieferpressen medialis Protrusion M. pterygoideus Kieferöffnung (pars inferior) lateralis Unterkiefer-Vorschub (pars inferior) Stabilisierung bei Unterkiefer- Rückschub (pars superior) Kieferpressen (pars superior) M. digastricus (venter Kieferöffnung anterior) Retrusion bei einseitiger Kontraktion Seitschub zur ipsilateralen Seite bei einseitiger Kontraktion Seitschub zur ipsilateralen Seite Bbei einseitiger Kontraktion Seitschub zur kontralateralen Seite bei einseitiger Kontraktion Seitschub zur kontralateralen Seite Pars inferior und pars superior sind funktionelle Antagonisten M. mylohyoideus Kieferöffnung M. geniohyoideus Kieferöffnung 9

Die Kaumuskeln gehören zur Gruppe der quergestreiften Muskulatur und weisen eine komplex organisierte, hierarchisch aufgebaute innere Struktur auf Dennoch zeigen sie im Gegensatz zur Extremitätenmuskulatur spezifische Eigenheiten auf: Ein Kaumuskel besteht aus vielen lang gestreckten Muskelzellen (Muskelfasern). Diese Kaumuskelfasern haben deutlich dünnere Durchmesser (10-50 μm) als die Fasern der Extremitätenmuskulatur (10 100 μm) 52. Einzelne motorische Einheiten gruppieren sich zu kleinen Faserbündeln. Die für quergestreifte Muskulatur bekannten 3 Fasertypen (entsprechend ihrem Gehalt an myofibrillärer ATP-ase und mitochondrialem Enzym in S-, FR- und FF-Fasern eingeteilt) sind im Gegensatz zur Extremitätenmuskulatur nicht gleichmäßig, sondern heterogen verteilt. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit einer differenzierten, heterogenen Aktivierbarkeit der Kaumuskulatur 52. Auf diese Weise lassen sich angepasste Funktionsmusteränderungen, entsprechend der Lageveränderung des Unterkiefers, erklären. Es ergibt sich daraus ein Modell zur Erklärung regionaler Muskelschmerzen. Auf der Ebene der kontraktilen Elemente sind gleichfalls Besonderheiten im Vergleich zur Extremitätenmuskulatur festzustellen. Es konnte die Bildung von Myosinen (Myosin-Isoforme) nachgewiesen werden, die in den Extremitäten nicht vorkommen 51. Verschiedene Motorische Einheiten und einzelne Muskelfasern bestehen aus unterschiedlichen Myosin-Isoformen, d. h. aus Myosinen, die sich in ihrem Kontraktionsverhalten voneinander unterscheiden 51. Es ergeben sich größere Variationsmöglichkeiten für die Geschwindigkeit der Muskelkontraktion. Somit können die Kaumuskeln bei einer geringen Bewegungskapazität ein hohes Kraftpotential entwickeln 49. Motorische und sensorische Nerven innervieren über mehrere Äste die Kaumuskulatur. Im Gegensatz zur Skelettmuskulatur begrenzt sich der Versorgungsbereich eines Motoneurons in der Kaumuskulatur auf kleinere und begrenzte Kompartimente 50. Es gestattet eine differenzierte Aktivierung einzelner Muskelregionen 40. 10 49.

Die Kaumuskulatur ist über die γ-motorik mit dem limbischen System verbunden 53. Psychosozialer Stress kann sich somit auf den Tonus der Kaumuskulatur auswirken 54, 55. Die einzelnen Komponenten des Kausystems wirken in ihrer Gesamtheit als komplexes biologisches System. Dadurch unterliegt es einer Vielzahl von Einflüssen wie z. B. Traumen, Parafunktionen, Dysfunktionen der statischen und dynamischen Okklusion, Malokklusion. Auch die Wirkung orthopädischer Störeinflüsse ist in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen 56-60. Im Ergebnis dieser Einflüsse sind Kompensations- und Adaptationsreaktionen nachweisbar. Wird die Fähigkeit zur Kompensation und Adaptation maximal ausgereizt bzw. deren Kapazität überschritten, tritt der Zustand der Dekompensation, progressiven (Modeling) oder regressiven Adaptation (Remodeling) ein 2. Die Adaptations- und Kompensationskapazität sind nicht steuerbar. 3.1.3. Die Bewegungen des Unterkiefers Die teilweise sehr komplexen Unterkieferbewegungen beginnen aus einer gewohnheitsmäßigen Unterkiefer-Ausgangsposition heraus, die in der Regel einen maximalen Vielpunktkontakt (maximale Interkuspidation, IKP) zwischen den Zähnen aufweist 40. Davon ausgehend werden die Öffnungsbewegung Vorschubbewegung (Protrusion) Seitwärtsbewegung (Laterotrusion nach rechts oder links; wobei sich eine Unterkieferseite von der Medianebene wegbewegt und die andere zur Medianebene hinbewegt. Diese wird dann als Mediotrusionsseite oder Balanceseite bezeichnet.) Rückschubbewegung (Retrusion) unterschieden 40. In der initialen Mundöffnungsphase wird die Rotation durch die Aktivierung der suprahyoidalen Muskulatur ausgelöst. Die Rotation erfolgt unter Beteiligung einer Translationskomponente 61. Die einsetzende Translation erfordert die Beteiligung des M. pterygoideus lateralis. Der Diskus verändert seine Position relativ zum Kondylus nach dorsal. 11

Die intermediäre Phase der Mundöffnung ist geprägt von der Translation. Dabei kommt es zu einer Erhöhung der Spannung im Stratum superius und der vorderen Gelenkkapsel. Dagegen sinkt der Spannungszustand im Stratum inferius. Das Venengeflecht im Genu vasculosum vergrößert sich um das 4- bis 5fache und füllt sich auf Grund des Unterdrucks mit Blut 62. Der Diskus bewegt sich in Relation zur Fossa nach ventral 2. In der terminalen Phase erfolgt die maximale Rotation und Translation. Die Mundschließbewegung lässt sich gleichermaßen in 3 Phasen darstellen. Daran beteiligt sind der M. temporalis, der M. masseter, der M. pterygoideus medialis und das Caput superior des M. pterygoideus lateralis. In der initialen Phase wird der Diskus passiv durch die Spannung des Stratum superius nach dorsal geführt 63, nachdem der Kondylus durch das Caput superius des M. pterygoideus lateralis gebremst wurde. In der intermediären Phase wird der Kondylus an der Protuberantia durch das Caput superius stabilisiert 2. Der Diskus wird passiv nach dorsal geführt. In der terminalen Phase baut das Stratum inferius Spannung auf und hält damit den Diskus auf dem Kondylus. Die schematische Darstellung dieser Bewegungsphasen ergibt, bezogen auf den Inzisalpunkt, in der Sagittalebene folgendes Bild nach Posselt: -------------------------------- O (O = Parallele zur Okklusionsebene, P = protrudierte Kontaktposition, M = maximale Öffnungsposition, h = habituelle Schließbewegung, RC = retrudierte Kontaktposition, r = Ruheposition, H = Scharnierachsenbewegung ) 64 Abb.1: POSSELT-Diagramm zur Darstellung der Grenzbewegungen des Unterkiefers in der Sagittalebene 12

Die Darstellung der Grenzbewegungen anhand der Aufzeichnung der Bewegungen des Unterkiefer-Inzisalpunktes in der Sagittalen und frontalen Ebene zeigen, dass die jeweils superioren Anteile der Bewegungsbahn von der Zahnführung der unteren Incisivi aus der Ausgangslage heraus an den Palatinalflächen der oberen Incisivi nach anterior und inferior (unter Berücksichtigung des vorhandenen Overjet und Overbite) bzw. das Seitwärts gleiten der Unterkieferzähne entlang der Palatinalflächen der Eckzähne (und eventuell der Höcker der Seitenzähne) auf der Arbeitsseite nach lateral und inferior bestimmt sind 41. In Anlehnung an die Erfassung dieses Grenzbewegungsraum bestimmten KUBEIN-MEESENBURG et al. die kranialen Grenzfunktionen des stomatognathen Systems 65. Die Unterkiefer- Bewegungskapazität für den Inzisal- und Kondylarbereich wird in der Literatur metrisch unterschiedlich angegeben. Die folgende Tabelle fasst die Wertbereiche zusammen: Tabelle 2: Orientierende Werte zur Unterkiefer-Bewegungskapazität 66 Inzisalbereich Kondylarbereich Protrusion Retrusion Öffnung Laterotrusion in anetriorposteriorer in anterior- vertikale Distanz in transversaler Richtung posteriorer Richtung Richtung 9 11 mm ~ 1 mm 51 ± 7 mm 9 11 mm 7 11 mm ~ 1 mm 14 ± 4 mm 1 2 mm In der Horizontalebene wird zwischen der Latero- und Mediotrusion unterschieden. Dabei wird der Kondylus der Arbeitsseite nach lateral geführt (= Bennett-Bewegung) und der Kondylus der Nichtarbeitsseite führt die Mediotrusion aus. Für den Kondylus auf der Arbeitsseite kann im Idealfall die Rotation um eine vertikale Achse angenommen werden, die im Idealfall durch die Mitte des Kondylus geht 2. Tatsächlich findet sich aber sehr oft zu Beginn der Lateralbewegung ein unmittelbarer Seitversatz des Kondylus (= immediat side shift). Die Kondylenposition kann dabei entweder muskulär oder ligamentär stabilisiert werden, wobei bei Stabilisation durch den M. pterygoideus lateralis das Rotationszentrum mehr medial und bei ligamentärer Stabilisation 13

mehr lateral liegt 2. In diesem Fall ist bei entlasteten Gelenkflächen eine Komprimierung der bilaminären Zone zu erwarten. Dagegen erfolgt auf der Mediotrusionsseite eine Bewegungg des Kondylus nach ventral, medial und kaudal 2. Für die Laterotrusion ist die maximale Kontraktion des unteren Anteils des M. pterygoideus lateralis und des M. pterygoideus medialis der jeweils kontralateralen Seitee erforderlich 40. Für eine Protrusionsbewegung ist hauptsächlich die Aktivierung des unteren Kopfes des M. pterygoideus lateralis notwendig. Der M. pterygoideus medialis und der anteriore M. digastricus sind ebenfalls hochaktiv 40. Bei Protrusion unter inzisal-okklusaler Führung kann der Kondylus in geringstmöglichen Abstand an der Konvexität des Os temporale entlang gleiten 65. Für eine Retrusion des Unterkiefers ist die Aktivierung des oberen Kopfes des M. pterygoideus lateralis, des M. temporalis posterior und des M. digastricus anterior erforderlich. Die Darstellung der Grenzbewegungen in der Horizontalebene ergibt ein Pfeilwinkel - Muster. Dieses wird auch als Gotischer Bogen bezeichnet. Dabei ist die Spitze dieses Pfeilwinkels diejenige Position, bei der der Unterkieferr sich in der retralsten Position befindet, von dem aus noch Laterotrusionsbewegungen möglich sind: Retrusivee Unterkieferbewegung Laterotrusive Grenzbewegung nach rechts Laterotrusive Grenzbewegung nach links Protrusive Unterkieferbewegung Abb.2: Das Pfeilwinkeldiagramm einer Patientenaufzeichnung Grenzbewegungen des Unterkiefers in der Horizontalebene zeigt die 14

Die willkürlich und reflektorisch ausgeführten Bewegungen des Unterkiefers sowie die Positionierung der Mandibula zur Maxilla werden über kortikale, subkortikale und lokale Zentren gesteuert, die durch eine Vielzahl afferenter und efferenter Bahnen miteinander verbunden sind 67. So erfolgt auf afferenten Bahnen der Input an das Zentral-Nerven-System (ZNS) mit Informationen über den Druck auf den Zähnen bzw. den Zahnhalteapparat, über die Stellung der Kiefergelenke und über den Spannungs- und Dehnungszustand der Kaumuskulatur Verantwortlich sind eine Vielzahl von Sensoren, die im Kiefergelenk, in der Haut und Schleimhaut, in den Zähnen, im Parodontium und in den Kaumuskeln zu finden sind 69. Neben Kiefergelenkrezeptoren, Muskel- und Sehnenspindeln, Odontoblastenfortsätzen, parodontalen Rezeptoren sind es vorallem Nozizeptoren, Chemo-, Temperatur- und Mechanorezeptoren, die für die Funktionsabläufe des orofazialen Systems bedeutsam sind. Besonders die Mechanorezeptoren sind für Vibrations-, Druck-, und Berührungsempfindung verantwortlich und leisten einen wesentlichen Beitrag zur Steuerung oraler Funktionen wie Kauen, Saugen, Schlucken oder Artikulation 40, 69. Der Output erfolgt über Steuerimpulse an die die Unterkieferbewegung auslösenden Muskeln 68. Dazu stehen die extrapyramidalen und pyramidalen Bahnen zur Verfügung 43, 68. Infolge der Koordination hemmender und aktivierender Impulse entstehen komplizierte Reglerzyklen 43, 67, 68. So sind z. B. Teile des extrapyramidalen Systems (Basalganglien) für die Einleitung und Durchführung unbewusster langsamer rampenförmiger Bewegungen sowie für die zeitliche und räumliche Koordination der Muskeltätigkeit verantwortlich 68. Dazu veranlassen die Kerne der Hirn- und Zervikalnerven über die Pyramidenbahnen die willkürliche Innervation der Muskulatur und der Cortex kontrolliert die subkortikalen (extrapyramidalen) motorischen Zentren 68. Die Existenz neuronaler Regelkreise ermöglicht es, dass Zyklen der Mandibulabewegung beliebig wiederholbar, durch die Vielfalt der Vernetzung in verschiedenen Zykluspunkten umschaltbar sind und ohne Zeitverzug arbeiten 68. Die Präzision des Systems zeigt sich z. B. daran, dass bei einer übermäßigen Aktivierung der Pressorezeptoren die Elevatoren inhibiert werden, Kräfte von weniger als 0,01 N registriert und okklusale Suprakontakte mit einem Auflösungsvermögen von 10 μm wahrgenommen werden 67. 68. 15

3.2. Biomechanische Aspekte der Unterkieferbewegung Die Komplexität der Kiefergelenkbewegung ist bedingt durch das Zusammenwirken von rotativen und translativen Phasen sowie aktiven und muskulär-passiven Bewegungsphasen. Die transversale Verbindung der beiden Kondylenmittelpunkte dient als Scharnierachse. Diese ist in Relation zum Unterkiefer unveränderlich, aber in Beziehung zum Oberkiefer und in Verbindung mit Translationsbewegungen variabel. Zu den genannten Bewegungskomponenten kommt noch die Möglichkeit der Seitwärtsbewegung. Damit vollziehen sich die Unterkieferbewegungen in drei Ebenen. Zur Vereinfachung der Bewegungsabläufe kann als Anschauungsmodell ein Dreiachsensystem dienen, in dem der Kondylus im Nullpunkt liegt 16. In der initialen Mundöffnungsphase und der terminalen Phase der Mundschließbewegung ist von einem fixen Drehpunkt im Kondylenmittelpunkt auszugehen. Darauf basiert die Möglichkeit der Bestimmung eines arbiträren Scharnierachsenpunktes. In der Literatur finden sich zahlreiche differierende Angaben über die Lage der Scharnierachse zum Unterkiefer 2. Das Ausmaß der Öffnungsamplitude und die Art der eventuell angewandten Manipulationstechnik zur passiven Unterstützung der Unterkieferbewegung sind die Hauptursachen für die teilweise deutlich variierenden Scharnierachsenpositionen 67. Bezogen auf die Linie lateraler Kondylenpol Infraorbitalpunkt liegt er Scharnierachsenpunkt nach REIBER und DICKBERTEL 3 mm hinter dem lateralen Kondylenpol und im rechten Winkel 6 mm oberhalb dieser Linie 70. Um unterschiedliche Studien besser miteinander vergleichen zu können wird bei einem Interkondylarabstand von 110 mm die Bezugsebene Tragus medialis Kantus gewählt. Als Koordinaten für den Scharnierachsenpunkt geben REIBER und DICKBERTEL in der x-achse 10,8 mm und in der y-achse 1,8 mm an, während BIAS und KORDAß in Abhängigkeit des verwendeten Registrierverfahrens in der x-achse Werte von 7,7 bis 9,4 mm und in der y-achse von - 0,2 bis 1,4 mm (+ = ventral, kranial; - = dorsal, kaudal) erhalten 70, 71. Untersuchungen belegen die Annahme, dass in einem Großteil der Fälle bei habitueller Mundöffnung eine unmittelbare Kondylentranslation auftritt 72, 73. OKAMURA und HATATE gingen sogar von einer linearen Korrelation zwischen 16

Rotation und Translation mit ca. 2 Grad Rotation pro Millimeter Translation aus 74. Eine Analyse von SALAORNI und PALLA über die Beziehung zwischen der Anteriortranslation des Kondylus und der mandibulären Rotation während willkürlicher Öffnungs- und Schließbewegung zeigte eine deutliche intra- und interindividuelle Variabilität dieser Beziehung, die sie klassifizierten und in 5 Hauptgruppen einteilten 75. Dabei konnte nur in Gruppe 2 mit 34 % der untersuchten Fälle eine lineare Übereinstimmung zwischen Öffnungswinkel und Translation festgestellt werden 75. Mit Einsetzen der Translation verschiebt sich das Rotationszentrum. Damit erfolgt die Bewegung um eine kinematische Scharnierachse 76. Die kinematische Scharnierachse ist bestimmt durch den Punkt der größtmöglichen Übereinstimmung zwischen der Bahn der Kieferöffnungs- und -schließbewegung sowie der Protrusions- und Retrusionsspur 77. Kondylenbewegungen werden in der Regel mit den Bahnen von Scharnierachsenpunkten gleichgesetzt, wobei diese Assoziation nur dann gelten würde, wenn der betrachtete Kondylenpunkt Mittelpunkt einer Kugel wäre, die sich entlang der Fossa bewegen würde 78. Die von der kinematischen Achse ausgehenden Registrierungen ergeben nur dann die geringstmögliche Varianz, wenn der auf die Interkondylardistanz zurückgerechnete Registrierort somit innerhalb des Kondylus liegen würde 67. Dagegen verweisen GALLO et al. darauf, dass das kinematic center unabhängig von der Kondylenform ist, meist außerhalb der Kondylen liegt und nicht adäquat zur Form der Fossa mandibularis verläuft 77. Bei freien neuromuskulär geführten Bewegungen wie z. B. beim Kauen kann der Kondylenpunkt seine Eigenschaft als Rotationszentrum verlieren und seinerseits um translatorisch gleiche Drehzentren rotieren, wodurch benachbarte Punkte je nach ihrer Lage zum momentanen Drehzentrum unterschiedliche Bahnen zeichnen 78. Das Ergebnis aus der Berechnung momentaner Drehzentren für alle Bewegungsabläufe im dreidimensionalen Raum wird zur Angabe der Helical Axis - (Schraubenachse) genutzt 79. Sie basiert darauf, dass jedem kleinsten Bewegungsabschnitt ein momentanes, wanderndes Drehzentrum zugeordnet werden kann. Besonders bei Dyskoordinationen mandibularer Bewegungen zeigt sich, dass die Bewegungsbahnen momentaner Drehzentren sehr sensibel auf die 17

Entdifferenzierung zwischen Translation und Rotation reagieren und mit sprunghaften Richtungsänderungen vergesellschaftet sein können 79, 80. Bahnen beliebiger kiefergelenknaher Messpunkte, die nicht auf der Scharnierachse liegen, ergeben Schleifen oder Hysteresen und umfahren somit eine Fläche 65. Über eine spezielle computergestützte Analysemöglichkeiten wird für das individuelle Grenzbewegungsmuster die Lage des Messpunktes solange verändert, bis die durch resultierenden Bahnkurven eingeschlossene Fläche minimal ist 67. Diese Bewegungsbahn ist für alle Funktionszustände der Mandibula bei exkursiven und inkursiven Bewegungen deckungsgleich 79. Sie lässt sich annähernd als eine Kreisbahn um ein Drehzentrum darstellen, wodurch die Bewegung auf dieser Kreisbahn auch als Vergrößerung bzw. Verkleinerung eines Winkels mit Ursprung im Drehzentrum beschrieben werden kann 79. Dieser wird in Beziehung zum Rotationswinkel der Mandibula bei der Mundöffnung gestellt und soll somit Anhaltspunkte für die Funktionstüchtigkeit und Adaptationsfähigkeit des stomatognathen Systems bieten 79. Im Ergebnis lässt sich also eine Achse beschreiben um die die Mandibula rotiert, wobei sich die Achse gleichzeitig parallel zu sich selbst und noch zusätzlich auf einer approximierten kreisförmigen Bahn hin und her bewegt 65, 67. Diese Achse wird auch als Neuromuskuläre Achse bezeichnet. Aus klinischer Sicht werden kinematische und neuromuskuläre Achse als wesensgleich bewertet, wobei der neuromuskulären Achsenbestimmung der Vorteil zugeschrieben wird, auch bei muskulär verspannten und neuromuskulär inkoordinierten Patienten eine präzise und reproduzierbare Bestimmung der Scharnierachse zu ermöglichen. 67 Neben der Diskussion über die Lage der Scharnierachse ist auch die Frage des Bewegungsablaufes des Kondylus auf dem Diskus unter biomechanischen Gesichtspunkten von Interesse. FREESMEYER und STEHLE kommen nach Bewertung des Nußknackerprinzips nach Mörike und des Pendelprinzips nach Jähnig und Kubein zu dem Schluss, dass diese Modelle nicht ausreichen, um bei strenger mathematisch-physikalischer Betrachtung alle Fragen zu klären 81. So ist z. B. die Vorstellung von KUBEIN und JÄHNIG über eine Abrollbewegung des Kondylus auf dem Diskus, wobei der Diskus während der Mundöffnung durch den 18

Kondylus mit nach anterior bewegt wird, gut nachvollziehbar 82, lässt sich aber nur schwer mit der initialen Rotation des Kondylus in Einklang bringen 81. Somit liegt der Schluss nahe, dass der Bewegungsablauf nicht immer einer Pendelbewegung, sondern einer ungleichförmigen Bewegung entspricht, die vom Spannungszustand im Ligamentum laterale abhängt 81. Bei einem bestimmten Spannungszustand des Bandes geht die initiale Rotationsbewegung zwangsläufig in eine Translation über 81. 3.3. Die Kondylenpositionen Bisher gibt es keine evidenten klinischen Ergebnisse über die orthograde dreidimensionale Positionierung des Processus condylaris mandibulae zur Fossa mandibularis 7. Die Kondylenposition ist primär unabhängig von der Okklusion. In der Praxis ist eine isolierte Betrachtung der momentanen dreidimensionalen Lage der Kondylen wenig relevant. Die Zuordnung neuromuskulärer und okklusaler Faktoren ermöglicht eine differenziertere Beurteilung mandibulärer und kondylärer Referenzpositionen. In Abhängigkeit von der statischen Okklusion eines Menschen kann von einer gewohnheitsmäßig eingenommenen Lage der Kondylen, der habituellen Kondylenposition, gesprochen werden. Liegt eine unphysiologische Kondylus- Diskus-Fossa-Relation vor, die subjektiv keine Beschwerden verursacht, wird diese als adaptierten Kondylenposition bezeichnet 83. Ist aber aus therapeutischen Gründen eine Veränderung dieser Kondylenpostion angezeigt, stellt sich sofort die Frage nach einer physiologischen, idealen und reproduzierbaren Fossa-Diskus-Kondylus-Relation. Für diese Situationen wird eine zentrische Kondylenposition angestrebt. Die Diskussion über die zentrische Kondylenposition wurde immer sehr kontrovers geführt 84. Durchgesetzt hat sich ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der Unterkieferposition in der Sagittalebene. Galt zu therapeutischen Zwecken in der Vergangenheit eine weit retrale Lage der Kondylen als sinnvoll 84-87, so wird eine weiter anteriore Position inzwischen bevorzugt 88. KUBEIN et al. konnten u. a. einen retrusiven Bewegungsraum nachweisen 89, wobei die Kondylen nach CHRISTIANSEN eine passive Bewegungskapazität in dorsokranialer und medialer Richtung zeigen 90. FREESMEYER bewies, dass 19

eine retrale Kontaktposition eine initiale Dehnung des Ligamentum laterale nicht zulassen würde, womit ein fließender Übergang von der Rotationsbewegung in die Translation behindert wäre. Die Folgen wären Überlastungen bzw. Überdehnungen ligamentärer Strukturen mit anschließendem pathologischen Bewegungsmuster 81. Die Konzentration der Diskussion auf die anterior-posteriore Richtung der Unterkieferlage reduziert aber eine dreidimensionale Lagebeziehung auf zwei Ebenen. Die Praxis erfordert eine reproduzierbare, räumliche Zuordnung des Unterkiefers zum Oberkiefer. In einer gemeinsamen Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und Therapie und der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde wird die zentrische Kondylenposition als kranio-ventrale, nicht seitenverschobene Position beider Kondylen bei physiologischer Kondylus-Diskus-Relation und physiologischer Belastung der beteiligten Gewebestrukturen definiert 83. Diese Definition trägt der Tatsache Rechnung, dass die zentrische Kondylenlage sich durch verschiedene Einflussfaktoren beeinflussen lässt. Dazu gehören: Veränderungen der Kopf- und Körperhaltung tageszeitliche Einflüsse 19, 23, 94 22, 91-93 der Muskeltonus (Disstress; Müdigkeit) und propriozeptive Einflüsse 1 psychosomatische Faktoren vorhandene Schmerzen 96, 97. 54, 55, 95 DANNER et al beschrieben wiederholt ausführlich die Zusammenhänge zwischen Körperhaltung und Kieferrelation 93, 98. Dabei spielt besonders die Interaktion zwischen hyoidaler Muskulatur mit der Bewegung des Kopfes und Kiefers eine entscheidende Rolle 93. So führt die horizontale Rückwärtsverlagerung des Kopfes und Neigung des Kopfes zu einer protrusiven Position der Mandibula, während die horizontale Vorwärtsverlagerung und die Neigung des Kopfes nach hinten eine Retrusion des Unterkiefers bedingen 93. FUHR et al. wiesen diesen Zusammenhang bereits für die Auswirkungen der Dorsalflexion des Kopfes auf die Lageveränderung der Mandibula nach 91. TRIPODAKIS et al. ermittelten eine durchschnittliche Abweichung bei der Bestimmung der zentrischen Relation von 0,23 mm zwischen der sitzenden Position des Probanden und der auf dem Rücken liegenden Position 22. CORDRAY betont daher die Notwendigkeit der 20

sitzenden Position im Winkel von 45, als die reliabelste Methode im Rahmen von Untersuchungen zur Bestimmung der zentrischen Kondylenposition 92. Als indirekter Beweis für die Zusammenhänge zwischen der Kondylenposition und orthopädischen Einflüssen können auch die zahlreichen Untersuchungen über Interaktionen zwischen kraniomandibulären Dysfunktionen sowie Haltung bzw. Fehlhaltung bzw. Funktion und Fehlfunktion der (Hals-) Wirbelsäule angesehen werden 56, 60, 93, 99-104 Tageszeitliche Einflüsse auf die dreidimensionale Zuordnung des Unterkiefers zum Oberkiefer werden gleichfalls in der Literatur diskutiert. SHAFAGH et al. kamen zu dem Ergebnis, dass Registrierungen der zentrischen Relation am Morgen eine mehr anterior-inferiore Position der Kondylen ergeben, während sich am Abend eine mehr posterior-superiore Lage bestimmen lässt 19. LATTA untersuchte an Patienten mit totalem Zahnersatz die Reproduzierbarkeit der zentrischen Relation im tageszeitlichen Vergleich. Er fand dabei ebenfalls signifikante Unterschiede zwischen der Gruppe, die am Morgen und derjenigen die am Abend untersucht wurde 94. KESHVAD und WINSTANLEY verglichen in einer Studie drei Methoden zur Bestimmung der zentrischen Kondylenposition zu verschiedenen Zeitpunkten miteinander. Bei 14 Probanden erfolgen vier Messungen mittels Jig und Dawson- Griff, Jig und modifiziertem Lauritzen-Griff sowie Stützstiftregistrierung zur Erstregistrierung nach einer Stunde, nach einem Tag und nach einer Woche. Es zeigt sich eine große Variabilität der Ergebnisse. Je nach Methode und Zeitpunkt schwankten die Messergebnisse zwischen 0,03 1,6 mm 23. OBREZ und STOHLER untersuchten den Einfluss von Muskelschmerzen auf die Bestimmung der zentrischen Relation. Unter provoziertem Schmerzen mittels Injektion von 5%iger hypertoner Kochsalzlösung erfolgte die Registrierung an fünf Probanden mittels intraoralem Stützstiftregistrat im Vergleich zur Gabe von isotonischer Kochsalzlösung. Diese einfach-verblindete randomisierte Studie ergab eine anteriore und asymmetrische Verlagerung der Mandibula als Folge des muskulären Schmerzes 96. In einer Literaturstudie beschreiben OBREZ und TÜRP die Auswirkungen muskuloskeletaler Schmerzen auf die maxillomandibulären Beziehungen 97. 21

Der Einfluss psychosozialer Faktoren auf mögliche dreidimensionale Lageveränderungen des Unterkiefers kann nur indirekt abgeleitet werden. Als Ausgangspunkt dienen dazu Untersuchungen, die sich mit den Wechselwirkungen zwischen psycho-sozialen bzw. psycho-emotionalen Stresssituationen und dem Auftreten craniomandibulärer Dysfunktionen beschäftigen 54, 55, 95. Einen weiteren Anhaltspunkt liefert eine Studie von CUENI und GRABER, die an zwölf Probanden die Grenzbewegungen des Unterkiefers unter Normalbedingungen und unter experimentellen Stress aufzeichneten. Dabei konnten sie deutliche Auswirkungen der Psychomotorik auf das Bewegungsspektrum der Mandibula nachweisen 105 Als entscheidende Quintessenz aus den ausgewerteten Untersuchungen muss daher angenommen werden, dass die zentrische Kondylenposition keine fixe Position ist, sondern ein Bereich unterschiedlicher Ausdehnung 1, 10, 106, 107. Die Angaben dazu schwanken je nach verwendeter Messmethodik. PIEHSLINGER et al. ermittelten ein Areal mit einem Durchmesser von etwa 0,2 mm 27. 3.4. Die Okklusion in ihrer Beziehung zur Kondylenposition Der Begriff Okklusion ist definiert als jeder Kontakt zwischen den Zähnen des Ober- und Unterkiefers 83. Zahnkontakte in Interkuspidation ohne Bewegung des Unterkiefers werden als statische Okklusion bezeichnet. Entsprechend gelten Zahnkontakte, die infolge einer Bewegung des Unterkiefers entstehen, als dynamische Okklusion 83. Die statische Okklusion wird in habituelle, maximale und zentrische Okklusion unterteilt. Die Habituelle beschreibt die gewohnheitsmäßig eingenommene statische Okklusion, während die maximale Okklusion durch maximalen Vielpunktkontakt gekennzeichnet ist. Die Definition der zentrischen Okklusion stand und steht immer in Verbindung mit der Lage der Kondylen. So gibt es verschiedene, historisch geprägte Synonyme wie z. B. zentrale Okklusion, zentrale Okklusion in zentraler Relation, Zentrik und 22

maximale Interkuspidation in terminaler Scharnierachsenposition 85. In der wissenschaftlichen Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und Therapie und der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde wird die zentrische Okklusion als statische Okklusion in zentrischer Kondylenposition bestimmt 83. Dabei kann es sich um einen einzelnen Kontakt (= Frühkontakt) oder einen maximalen Vielpunktkontakt handeln 2. Zur Überprüfung eines möglichen Frühkontaktes wird bei zwanglosem Kieferschluss der erste Zahnkontakt aufgesucht. In der Vergangenheit wurde dagegen die manuelle Führung bis zum ersten Zahnkontakt favorisiert und als retrudierte Kontaktposition bezeichnet 108. Von diesem Erstkontakt kann es zu einem Gleiten in die habituelle Okklusion kommen. Damit ergeben sich Anhaltspunkte für mögliche okklusale Störkontakte, die von hoher therapeutischer Relevanz sein können 98. Zum einen bezieht sich die Bedeutung der Okklusion und möglicher okklusaler Fehlkontakte auf deren Einfluss bei der Ätiologie und Pathogenese einer Craniomandibulären Dysfunktion 109, 110 und zum anderen auf die Gestaltung okklusaler Flächen bei prothetischen Versorgungen 111-113. Die gleiche Relevanz ergibt sich für die dynamische Okklusion. Hierfür sind klinisch drei Konzepte von Bedeutung: die Front-, eckzahngeführte Okklusion bei vorhandener Disklusion aller anderen Zähne, die unilateral balancierte Okklusion bei gleichzeitiger Disklusion der Gegenseite, die bilateral balancierte Okklusion. Grundsätzlich sind aber Abweichungen von einer wie auch immer definierten idealen oder optimalen Okklusion praktisch in jedem natürlichen Gebiss vorhanden 114. TÜRP und SCHINDLER verweisen dazu auf Studien, die nachweisen, dass okklusale Variationen bezüglich Zahl und Lage der okklusalen Kontakte in maximaler Interkuspidation, beim Vorhandensein von Vorkontakten bei Okklusion in retraler Unterkieferlage oder bei Seit- und Vorschub, infolge eines unterschiedlich stark ausgeprägten Gleiten in die Zentrik, 23