ältere Menschen im Spital: übertherapiert? vernachlässigt? Nationale Konferenz Gesundheit2020 Auf dem Weg zu einer koordinierten Versorgung 26.Januar 2015 Bern Prof. Dr. med. Christoph Hürny St.Gallen Alte Menschen im Spital: übertherapiert? vernachlässigt? 1
Demografie der >65jährigen in der Schweiz 65+ 85+ 100 Bevölkerung 1860 5,1 % 0,1 % 10 2,5 Mio 1960 10,2 % 0,5 % 23 5,4 Mio 2000 15,4 % 2 % 796 7,2 Mio 2050 28 % 8 % 8 Mio Bundesamt für Statistik, 2003, 2007 Übertherapiert? Vernachlässigt?* Übersicht Übertherapie: das unkoordinierte Zuviel Patientinnenbeispiel Übertherapie: Faktoren, die dazu beitragen Altersfeindlichkeit in der Überversorgung: das subtile Zuwenig Massgerechte Therapie: Geriatrische Prinzipien Beispiele koordinierter Versorgung im Spital, Schlussfolgerungen *Hürny Ch Münzer Th.Uebertherapiert? Vernachlässigt? Die vierte Generation aus geriatrischer Sicht. In: Sozialalmanach 2011:135-145, Caritas-Verlag Luzern Januar 2011 2
Übertherapie : das unkoordinierte Zuviel Frau A.M., 1928 18.01. Zuweisung aus dem Pflegeheim auf die zentrale Notfallstation: Diagnosen: - akuter Bauchschmerz - schwallartiges Erbrechen - Demenz Vorgehen: -Untersuchung Notfallarzt - chirurgisches Konsilium - anästhesiologisches Konsilium - gastroenterologisches Konsilium Befunde: - Abdomen konventionell: Subileus/Ileus - Abdomen CT: Dünndarmvolvulus, Gallenstein - Thorax: Pleuraergüsse bds., Plattenatelektase, sonst o. B. 18.01. Indikation zur Operation: - Patientin seit 2006 schwer dement, wird nicht aufgeklärt - 01.00 Uhr nachts jüngere Schwester telefonisch informiert: Einverständnis 19.01. Laparaskopie Laparatomie bei gesichertem Ileus: Dünndarmteilresektion Extubation Re-Intubation wegen respiratorischer Insuffizienz Verlegung auf Chirurgische Intensivstation 20.- Nierenfunktion schlecht, CPAP-Beatmung, Tienam, Dobutamin, Solu-Cort 24.01. Verlegung auf Abteilung: 2 L O 2 27.01. Endokrinologisches Konsilium: Verdacht auf Nebenniereninsuffizienz - ausgedehnte Abklärung Fieber unter Tienam: Abdomen-CT, keine Passagestörung, Pleuraergüsse bds. Infektiologisches Konsilium: Blutkulturen positiv auf Pilze: Diflucan, Fungämie Augenkonsil, Herz-Echo 3
08.02. Augenkonsil: chronische Blepharitis, Maculadegeneration, Cellufluid- Augentropfen, Tobradex Augensalbe 14.02. Echokardiographie: hypertropher linker Ventrikel, Wand-dyskinesien, degenerative Aortenklappe, offenes Foramen ovale 15.02. Generalisierter Krampfanfall: Demenz, EEG: keine Epilepsie, CT ZNS: Neurologisches Konsilium: Hirnatrophie 16.02. Pat. Verweigert Essen: nasogastrale Sonde, Indikation für PEG 17.02. Anmeldung auf Geriatrie: Kostaufbau, ev. PEG-Sonde, Rehabilitation - bei Übertritt 17 Medikamente 18.02. Übernahme durch die Geriatrie Wer ist Frau A. M.? - Gelernte Schneiderin, in Graubünden aufgewachsen, arbeitete 1932 in Basel in einem Bekleidungsgeschäft für noble Kinderkleider aus Frankreich. Eines Tages kam ein Mann in das Geschäft und wollte eine Krawatte kaufen, dieser Mann wurde ihr erster Ehemann. - Sie folgte ihm nach Tschechien, wo er aber nach der Machtübernahme durch die Nazis als Jude deportiert und getötet wurde. - Die Patientin blieb zunächst in Tschechien, heiratete später noch einmal. Dieser Mann starb nach drei Jahren Ehe an einem Karzinom. - Frau A.M. blieb kinderlos und lebte von ihren Erinnerungen an früher, vor allem an den ersten Mann. - Seit 2003 besteht eine schwere Demenz, die damals zur Verlegung ins Pflegeheim geführt hat. Die Patientin wurde von einer Schwester regelmässig besucht. Sie kannte ihre Schwester aber nicht immer. 4
Was will Frau A.M. oder was hätte sie gewollt? Die Patientin ist nicht urteilsfähig Die Patientin hat keine Patientenverfügung Mutmasslicher Wille 21.02. Gespräch mit der Schwester: - progrediente Demenz - Unfähigkeit Nahrung aufzunehmen - Schwere Pilzinfektion - Patientin war im Pflegeheim zufrieden - hat vor der Demenzerkrankung betont, nicht von Pflege abhängig sein zu wollen Konsensbeschluss: Absetzen aller therapeutischen Massnahmen 22.02. Die Patientin stirbt im Beisein ihrer Schwester. Faktoren, die zur Überbehandlung beitragen Fehlende Gesamtsicht Veränderungen im hohen Alter: Verlangsamung, Gebrechlichkeit(frailty) Polymorbidität und Krankheitsverlauf: je älter, desto individueller Erschwerte Kommunikation - Wahrnehmung: Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken Sprach- und Sprechstörungen (Hirnschlag) Kognitive Einschränkungen 5
Faktoren, die zur Übertherapie beitragen Fehlende Gesamtsicht Fokus Körperbefund/Psychosoziales ausgeblendet Fragmentierung der Medizin Urteilsfähigkeit der Patientin Mutmasslicher Wille, wohlverstandenes Interesse der Patientin Nähe zum Tod Point of no return Altersfeindlichkeit in der Überversorgung Kostendruck (DRG) - Frühzeitige Entlassungen - Nicht Ausschöpfen Rehabilitationspotential - Vorschneller Übertritt ins Pflegeheim - Wertigkeit der Geriatrie - Schleichende Rationierung - 1/3 > 80-jährige mit Herzinfarkt nicht gemäss offiziellen Guidelines behandelt (Schönenberger et al. 2008) 6
Massgerechte Therapie :Geriatrische Prinzipien Geriatrisches Assessment: Biopsychosoziale Daten Biographische Daten Entscheidungsfähigkeit Frailty / Polymorbidität Lebenszyklus: Nähe zum Tod curativ / palliativ Lebensqualität vor Lebensquantität Frage nach dem Sinn: bei jeder medizinischen Massnahme Wissen versus Ermessen Bouchardy C, J Clin Oncol 2003 21:3580-3587 7
Überbehandelt? Vernachlässigt? Ältere Brustkrebspatientinnen: Geriatrisches Assessment ist mit schlechter Toleranz der Nebenwirkungen der Behandlung assoziiert und sagt die Mortalität über 7 Jahre follow-up aus. Clough-Gorr et al JCO 2009; 28:380-386 Studienpopulation: 660 Brustkrebspatientinnen I IIIa (Alter 74% 70) Intervention: Geriatrisches Assessment 3 Monate nach Diagnose 4 Bereiche - soziodemographisch (+ Finanzen) - klinisch (Charlson comorbidity Index/BMI) - functional (ADL, Anzahl Einschränkungen) - psychosozial (MHIS MOS-SS5) Behandlungen: Chirurgie, Bestrahlung, Chemotherapie, Hormontherapie Design: Crosssectional/longitudinal Follow-up: 7 Jahre Resultate: Assessment Defizit schlechte Therapietoleranz Mortalität 0 Bereich 1 % 11 % 1 Bereich 5 % 22 % 2 Bereiche 4 % 34 % 3 Bereiche 11 % 43 % 4 Bereiche 28 % 44 % Überbehandelt? Vernachlässigt Die Wirksamkeit eines vom Geriater geleiteten,umfassenden,kollaborativen Hüftbehandlungsprogramms in einer neuen akuten Hüftbehandlungseinheit in einem Allgemeinspital in UK. Gupta A.J R Coll Physicians Edinb.2014;44(1):20-26 Studienpopulation: Studiendesign: Intervention: 494 Patienten mit Hüftfraktur,235 vor und 259 nach Intervention Vergleich prae-post Intervention Acute Hip Unit(AHU) 15 Betten,straff organisiert, nach festem Konzept, vom Geriater geleitet, direkte Patientenaufnahme Geriatrisches Assessment zu Beginn, medizinisches Management,Schmerztherapie, Beginn Rehab am 1.postop Tag Resultate: -Verkürzung der Zeit vom Notfall auf Abteilung: 7h(10,3 auf 3.3) -Operation innerhalb 48h regulär 64% AUH 77% -Sturzabklärung 5% 74 % -präop.geriatrisches Assessment 4% 76% -Aufenthaltsdauer AHU/ward 19.3 15.1 Tage -Aufenthaltsdauer(inkl.Rehab) 34 19,6 8
Optimierung der Sturzprävention bei Personen mit erhöhtem Sturzrisiko im Kanton St. Gallen Erarbeitung Modell Sturzprävention mit den wichtigsten Institutionen und Akteuren Leitung :Amt für Gesundheitsvorsorge Aufgaben und Rollen definiert Finanzierung in Abklärung Schulung der Beteiligten Infomaterialien für Patienten Sturzpräventionsnetzwerke 2 Pilotregionen Alte Menschen im Spital: übertherapiert? vernachlässigt? Schlussfolgerungen Für eine koordinierte,effektive und adäquate Versorgung von alten Menschen im Spital braucht es eine höhere Dosis Geriatrie *: Aus und Weiterbildung aller Professionellen im Gesundheitswesen Pflegefachleute, Aerzte, paramedizinische Fachleute etc Interdisziplinäre und Interprofessionelle Koordination und Kooperation: Geriatrische Kompetenz der Nichtgeriater Geriatrischer Konsiliardienst Geriatrischer Stützpunkt Interprofessionelle Spezialeinheiten: strukturell oder definierte Kooperation *Stuck A E,Goeldlin AO, Münzer T. Reformbedarf :Es braucht eine höhere Dosis Geriatrie! Swiss Medical Forum 2015;15(1-2):15-17 9