Evidenz der Physiotherapie bei Schwindel Stellt Manuelle Therapie bei Patienten mit Verdacht auf zervikogenen Schwindel eine effektive Behandlungsmaßnahme dar? Elke Schulze PT OMT, Sulzbach-Rosenberg Kopfschmerz & Schwindel Symposium, München, 07.06.2008
Evidenz in der Physiotherapie Es besteht die Forderung an die Physiotherapie wie für alle anderen Berufsfelder in der Medizin auch Evidenz in die Praxis zu integrieren. Bridges et al., 2007 2
Evidenz in der Physiotherapie Evidenz engl. evidence = Beweis; Ergebnis, Beleg Evidenz basierte Praxis/Medizin Def.: Gebrauch der gegenwärtig besten Evidenz aus der Forschung und unseres klinischen Expertenwissens für Entscheidungen in der Versorgung am individuellen Patienten. Sacket et al.,2005 3
Evidenz in der Physiotherapie Stufen der evidenz-basierten Praxis 1. Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung 2. Finden der Evidenz - Suchstrategie in den Datenbanken 3. Bewerten der Evidenz 4. Implementieren der Evidenz in die Praxis 5. Bewerten der Veränderungen in der Praxis Empfehlungen für die Praxis Straus and Sackett, 1998 4
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung Hintergrundinformationen Prävalenz des Symptoms Schwindel: 1.8% bei Heranwachsenden mehr als 30 % bei Älteren Sloane et al., 2001 5
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung Hintergrundinformationen Ursachen für Schwindel: Periphere vestibuläre Erkrankungen Cardiovaskuläre Erkrankungen Infektionen Psychiatrische Erkrankungen Zentrale vestibuläre Erkrankungen Metabolische und endokrine Ursachen Nebenwirkungen von Medikamenten oder Alkohol andere Ursachen Sloane et al., 2001, Abdul-Bagi et al., 2004, Brandt and Bornstein, 2001, Hoffman et al, 1999 6
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung Hintergrundinformationen Evidenz der Physiotherapie bei peripheren vestibulären Erkrankungen? Vestibuläre Rehabilitation zeigt moderate bis starke Evidenz in ihrer Wirksamkeit physikalische Manöver für BPPV durch Therapeuten angeleitete Übungen Medikation Hiller and Hollohan, 2007, Hilton and Pinder, 2007 7
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung Hintergrundinformationen Zervikogener Schwindel HWS als Ursache für Schwindel? Evidenz von Therapiemaßnahmen? 8
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung Hintergrundinformationen Sammelbegriff zervikales Syndrom als Ursache für Schwindel vaskuläre Theorie und/oder neurale Sympathikus Theorie Rezeptorentheorie Stoll, 2004 9
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung Hintergrundinformationen Zusammenhang zwischen arterielle Minderdurchblutung in der A. vertebralis und zervikaler Spondylosis oder Kopfrotation Minderversorgung zentraler Gleichgewichtsmechanismen Schwindel kann resultieren Olszewski et al., 2006 zählen zu zentralen vestibulären Ursachen zervikale Spondylosis Sloane et al., 2001 oder zu vaskulären Ursachen rotational vertebral artery occlusion Brandt and Bornstein, 2001 10
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung Hintergrundinformationen Abnorme Informationen von Propriozeptoren in der Halswirbelsäule können zu einem Mismatch (engl. = Fehlanpassung, Nichtübereinstimmung) zwischen den Systemen, die das Gleichgewicht steuern, führen. Schwindel kann resultieren Treleaven, 2007, Hülse and Hölzl, 2000, Oostendrop et al., 1993, Richmond and Bakker, 1982, Bogduk, 1986 11
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung Zervikogener Schwindel: Ursache in einer Dysfunktion der oberen HWS geht einher mit HWS-Schmerzen und - Funktionsstörungen oder Kopfschmerzen Hintergrundinformationen häufig mit Verletzung/Erkrankung der HWS verbunden, z.b. Schleudertrauma oder Degeneration Diagnosestellung nur durch Ausschluß anderer Ursachen Wirsley et al., 2000, Heikkila, 2004 12
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung Hintergrundinformationen verschiedene Experten diskutieren die Existenz von Schwindel mit zervikogenem Ursprung Brandt and Bornstein, 2001, Biesinger, 2007, p 125, Malmström, 2007, Hülse and Hölzl, 2004 bisher gibt es keine validen diagnostischen Tests Biesinger, 2007, p 122, Brandt and Bornstein, 2001 13
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung Hintergrundinformationen In der Disziplin der Manuellen Therapie / Medizin wird davon berichtet, dass spezifische Behandlungstechniken an der Halswirbelsäule Schwindelsymptome reduzieren können. Kondratek et al., 2006, Schenk et al., 2006, Wirsley et al., 2000, Borg-Stein et al., 2001, Hülse and Hölzl, 2004, Grgic, 2006 14
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung PICO- Struktur Population Intervention Comparison Intervention Outcomes patients with dizziness of suspected cervicogenic origin treatment with manual therapy no treatment reducing dizziness nach Straus et al., 2005, p 257, Flemming, 1998 15
Entwicklung einer spezifischen klinischen Fragestellung In patients with dizziness of suspected cervicogenic origin, is manual therapy an effective treatment to reduce dizziness? Stellt Manuelle Therapie bei Patienten mit Verdacht auf zervicogenen Schwindel eine effektive Behandlungsmaßnahme dar, um den Schwindel zu reduzieren? 16
Finden der Evidenz Charakteristiken der Fragestellung Fragen-Typ: Studiendesign, das die Frage beantworten kann: (Effektivität?) Informationsquellen (Datenbanken,Journals, Suchmaschinen), die Informationen liefern können: Interventionsfrage controlled trials (RCTs) systematic reviews (SRs) or meta-analysis CHOCHRANE Databases MEDLINE, CINAHL, EMBASE, AMED, PEDRo, AJP, Google Scholar, Referenzen Greenhalgh, 1997, Sackett and Wennberg, 1997 17
Finden der Evidenz Hierarchie der Evidenz bei Therapiestudien SRs RCTs andere kontrollierte Studien observierende Studien Fallstudien, Expertenmeinungen, Anekdoten Greenhalgh, 2006 18
Finden der Evidenz Suchstrategie 19
Autor Reid, S. A. and Rivett, D. A. Finden der Evidenz Liste der gefundenen Studien zur Fragestellung Reid, S. A., Rivett, D. A., Katekar, M. G. and Callister, R. Malmström, E. M., Karlberg, M., Melander, A., Magnusson, M. and Moritz, U. Jahr 2005 2007 2007 Titel Manual therapy treatment of cervicogenic dizziness: a systematic review Sustained natural apophyseal glides (SNAGs) are an effective treatment for cervicogenic dizziness Cervicogenic dizziness - musculoskeletal findings before and after treatment and long-term outcome SR RCT Design RCT (abstract only) Quelle Suchstrategie und in PEDRo Australian Journal of Physiotherapy Suchstrategie und in PEDRo Karlberg, M., Magnusson, M., Malmström, E. M., Melander, A., and Moritz, U. 1996 Postural and symptomatic improvement after physiotherapy in patients with dizziness of suspected cervical origin main report of the RCT Heikkilä, H., Johansson, M. and Weegren, B. I. 2000 Effects of a acupuncture, cervical manipulation and NSAID therapy on dizziness and impaired head repositioning of suspected cervical origin: a pilot study controlled trail Suchstrategie und in PEDRo Bracher, E. S. Almeida, C. I. Almeida, R. R., Duprat, A. C. and Bracher, C. B 2000 A combined approach for the treatment of cervical vertigo controlled trial Suchstrategie Zhou, W., Jiang, W., Li, X. and Wu, Z 1999 Clinical study on manipulative treatment of derangement of the atlantoaxial joint controlled trial Referenzlisten Galm, R., Rittmeister, M., and Schmitt, E. 1998 Vertigo in patients with cervical spine dysfunction controlled trail Referenzlisten 20
Finden der Evidenz Einziger systematischer Review: Reid and Rivett (2005) zeigt limitierte Evidenz (Level 3) für Manuelle Therapie bei zervikogenem Schwindel auf Centre for Reviews and Dissemination (2008) stimmt den Ergebnissen von Reid and Rivett (2005) zu 21
Finden der Evidenz Die meisten identifizierten kontrollierten Studien sind im SR of Reid and Rivett (2005) enthalten liefern keine weitere Evidenz: Galm et al., 1998 Bracher et al., 2000 Heikkilä et al., 2000 Karlberg et al., 1996 (= Malmstörm et al., 2007) Zhou et al., 1999 22
Finden der Evidenz Eine aktuelle Studie bleibt übrig, die neue Evidence liefern könnte: Reid et al., (2007) Sustained natural apophyseal glides (SNAGs) are an effective treatment for cervicogenic dizziness nur ein Abstact im AJP erfolgreiche Korrespondenz mit den Autoren der Studie full text stellt die Basis für diesen Bericht dar 23
Evaluierung der Evidenz Critical Appraisal Skill Programme (CASP) (2006) Checkliste zur Überprüfung der Validität und der Anwendbarkeit der Ergebnisse der Studie in der Praxis 24
Evaluierung der Evidenz Die ersten zwei Fragen aus dem CASP-Programm können klar mit ja beantwortet werden: Die Studie von Reid et al. (2007) ist eine randomisierte kontrollierte Studie (RCT) PICO-Struktur ist offensichtlich erhöht die interne Valitdität der Studie 25
Evaluierung der Evidenz Beschreibung der Studie Population 34 Patienten mit Schwindel (kein Drehschwindel) und zusätzlichen Beschwerden an der HWS umfassende neurologsiche Voruntersuchung unter Berücksichtigung der Ausschlußkritereien Reid et al., 2007 26
Evaluierung der Evidenz Beschreibung der Studie Achlusskriterien BPPV Periphere Vestibulopathie Morbus Meniere Schlaganfall Demyelinisierung und andere zentrale Ursachen Migräne assoziierter Schwindel u.a Reid et al., 2007 27
Evaluierung der Evidenz Beschreibung der Studie Ausschlusskritereien Reid et al. (2007) 28
Evaluierung der Evidenz Beschreibung der Studie Intervention Spezifische Technik aus der Manuellen Therapie genannt Sustained Natural Apophyseal Glides (SNAGs) beschrieben durch Brian Mulligan (1999) translatorische Techniken an C1 oder C2 plus aktive Bewegungskomponente Reid et al., 2007 29
Evaluierung der Evidenz Beschreibung der Studie Comparison Intervention Intervention wird verglichen mit Placebo durch einen ausgeschaltenen Laser beide Interventionen wurden 4 x in 4 Wochen durchgeführt (bei zwei Pateinten in jeder Gruppe 6 x) Reid et al., 2007 30
Evaluierung der Evidenz Beschreibung der Studie Outcomes (6- und 12-Wochen Follow-up) Primäre Ergebnisse Intensität des Schwindels Schmerzintensität Häufigkeit des Schwindels Handicap durch Schwindel Generell erreichter Effekt Sekundäre Ergebnisse Veränderungen in Gleichgewicht und in der HWS-Beweglichkeit Reid et al., 2007 31
Evaluierung der Evidenz Ergebnisse Resultate in der Manuelle-Therapie-Gruppe: alle primären und sekundären Ergebnisse liegen nach der Behandlung unter einem p- Wert von unter 0.05 auch nach den 6- and 12-Wochen follow-ups Reid et al., 2007 32
Evaluierung der Evidenz Ergebnisse Resultate in der Placebogruppe: direkt nach der Behandlung mit dem Plazebolaser gab es keine signifikanten Effekte auch nicht nach 6 Wochen, jedoch zeigten sich nach 12 Wochen bei drei primären Outcomes signifikante Veränderungen Reid et al., 2007 33
Evaluierung der Evidenz Ergebnisse Reid et al., 2007 34
Evaluierung der Evidenz Ergebnisse Reid et al., 2007 35
Evaluierung der Evidenz Ergebnisse Die Angabe eines Konfidenzintervall (CI) für den Global Percieved Effect macht den Unterschied zwischen den beiden Vergleichgruppen deutlich und gibt uns somit Sicherheit bezüglich eines Therapieeffekts Reid et al., 2007 36
Evaluierung der Evidenz Interne Validität Sind alle Störfaktoren, die die Ergebnisse verfälschen können, ausgeschaltet? adäquater Randomisierungsprozess beide Gruppen à 17 Patienten sind vergleichbar sehr geringe Verlustquote im Follow-up während des Studienverlaufs wurden keine anderen Interventionen verabreicht Patienten waren geblindet gebenüber Plazebo beide Interventionen wurden durch den selben erfahrenen Therapeuten verabreicht Therapeut war nicht geblindet gegenüber Plazebo Reid et al. (2007) 37
Evaluierung der Evidenz externe Validität Lassen sich die Ergebnisse verallgemeinern? präzise Beschreibung der Intervention (SNAGs) explizite Ein- und Ausschlusskriterien gefordert von vielen Experten: Biesinger, 2007, Vidal and Huijbregts, 2005, Abdul-Baqi et al., 2004, Sloane et al., 2001, Brandt and Bornstein, 2001, Wirsley et al., 2000, Hoffman et al., 1999, Stoll, 1996 DD wird nicht von jedem Arzt so durchgeführt, bevor Patient zum Manualtherapeuten kommt 6 and 12 Wochen follow-ups Power Calculation, die die Gruppengröße berücksichtigt Verwendung adäquater Meßinstrumente/Tests Reid et al., 2007 38
Evaluierung der Evidenz Berücksichtigung von möglichen Nebenwirkungen durch die Intervention Ausschluss möglicher Kontraindikationen vor einer spezifischen Technik an der Halswirbelsäule Manipulationstechniken Techniken mit Rotation bis ans Bewegungsende (Magarey et al., 2004, Refshauge et al., 2002, Jull et al, 2002) Die Autoren machen zu den applizierten Techiken keine Angaben bezüglich möglicher Kontraindikationen. keiner der Patienten hat über Nebenwirkungen geklagt Reid et al., 2007 39
Evaluierung der Evidenz Berücksichtigung ökonomischer Gesichtspunkte geringer zeitlicher / finanzieller Aufwand der Intervention im Vergleich zu multimodaler Rehabilitation psychosozialen Effekten und daraus resultierenden finaziellen Konsequenzen bei weiter bestehendem Schwindel (Yardley, 1992) Reid et al., 2007 40
Evaluierung der Evidenz Zusammenfassung der Ergebnisse der Studien von Reid et al. Abgesehen von wenigen Schwächen stellt ist Studie eine High Quality RCT liefert eine statistische und klinische Signifikanz dass eine Behandlung mit Manueller Therapie bei Patienten mit Schwindel effektiver ist als Plazebo Zusätzlich liefert die Studie aufgrund der signifikanten Veränderungen in Gleichgewicht und Bewegungsausmaß der HWS weitere Anhaltspunkte, dass Funktionsstörungen der Halswirbelsäule Schwindel auslösen können. Reid et al., 2007 41
Evaluierung der Evidenz Derzeit beste Evidence Strengths of Evidence (Gray 1997) 1 Strong evidence from at least one systematic review of multiple, well auf designed die Fragestellung: randomised controlled trials 2 Strong evidence from at least one properly designed randomised controlled trial of appropriate size 3 Evidence from well-designed trials without randomisation, single group pre-post, cohort, time series or matched-case Stellt Manuelle Therapie bei Patienten mit Verdacht auf zervicogenen Schwindel eine control studies effektive Behandlungsmaßnahme dar, um den Schwindel zu reduzieren? 4 Evidence from well designed, non-experimental studies from more than one centre or research group 5 Opinions of respected authorities, based on clinical evidence, descriptive studies or report of expert committees 42
Evaluierung der Evidenz Derzeit beste Evidence Strengths of Evidence (Gray 1997) 1 Strong evidence from at least one systematic review of multiple, well auf designed die Fragestellung: randomised controlled trials 2 Strong evidence from at least one properly designed randomised controlled trial of appropriate size 3 Evidence from well-designed trials without randomisation, single group pre-post, cohort, time series or matched-case Stellt Manuelle Therapie bei Patienten mit Verdacht auf zervicogenen Schwindel eine control studies effektive Behandlungsmaßnahme dar, um den Schwindel zu reduzieren? 4 Evidence from well designed, non-experimental studies from more than one centre or research group 5 Opinions of respected authorities, based on clinical evidence, descriptive studies or report of expert committees 43
Evaluierung der Evidenz Derzeit beste Evidence Aktuelle Untersuchungsergebnisse zeigen eine moderate bis starke Evidenz (Level 2), dass Manuelle Therapie bei cervigogenem Schwindel wirksam ist. Vergleiche Level of Evidence Criteria: van Poppel et al., 1997 zitiert in Herbert, 2005, oder Gray, 1997 44
Empfehlungen für die Praxis Manuelle Therapie sollte in die Behandlung von Schwindel integriert werden, wenn die Patienten gleichzeitig unter Funktionsstörungen oder Schmerzen an der HWS leiden und andere Ursachen ausgeschlossen sind. Eine allgemeine Akzeptanz einer zervikogenen Ursache für Schwindel wäre, trotz fehlender valider Untersuchgsmöglichkeiten, zum Wohle des Patienten wünschenswert. 45
Dankeschön