Allgemeines Verwaltungsrecht Klausur für den Angestelltenlehrgang II Dauer: 180 Minuten Sachverhalt In der Stadt K wird intensiv über den Neubau einer Moschee diskutiert. Die Partei für "Sozialismus und Demokratie" (ASD) will dazu eine Informationsveranstaltung durchführen. Im Verfassungsschutzbericht des Innenministeriums wird die Partei als unbedenklich eingestuft. Der Vorsitzende V des ASD-Stadtverbandes der Stadt K mietet eine in K befindliche Fabrikhalle für eine große Informationsveranstaltung. Die örtliche Partei-Jugendorganisation "Junge Anarchos" möchte an der Veranstaltung teilnehmen; ihre Mitglieder treten in der Regel mit Springerstiefeln und Baseball-Schlägern auf und sind schon mehrfach mit Gewalttätigkeiten in Erscheinung getreten. Auf Nachfrage der zuständigen Behörde erklärt der Vorsitzende V, dass er allen Interessierten den Zutritt zur Informationsveranstaltung ermöglichen wird, also auch den jungen Anarchos. Nunmehr verbietet der zuständige Oberbürgermeister mit Bescheid vom 20.7.2012 die Durchführung der o.g. Informationsveranstaltung. Der Bescheid wurde am selben Tag zugestellt. In der ausführlichen Begründung erklärt der Oberbürgermeister, dass aufgrund der ungehinderten Teilnahme der Jungen Anarchos gewalttätige Zwischenfälle zu erwarten seien. Demzufolge sei 5 des Versammlungsgesetzes erfüllt und die Veranstaltung müsse verboten werden. Aufgabe Ist der Bescheid vom 20.7.2012 rechtmäßig? Bearbeitungshinweis: 5 Nr. 2 Versammlungsgesetz (Verbot öffentlicher Versammlungen in geschlossenen Räumen): "Die Abhaltung einer Versammlung kann nur im Einzelfall und nur dann verboten werden, wenn... der Veranstalter oder Leiter der Versammlung Teilnehmern Zutritt gewährt, die Waffen oder sonstige Gegenstände im Sinne von 2 Abs. 3 mit sich führen." 2 Abs. 3 Versammlungsgesetz: "Niemand darf bei öffentlichen Versammlungen oder Aufzügen Waffen oder sonstige Gegenstände, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen oder zur Beschädigung von Sachen geeignet sind, mit sich führen, ohne dazu behördlich ermächtigt zu sein." 1
Lösungsskizze Der Bescheid vom 20.7.2012 ist rechtmäßig, wenn die formellen und materiellen Voraussetzungen erfüllt sind I. FORMELLE VORAUSSETZUNGEN 1. Zuständigkeit Lt. Sachverhalt hat die zuständige Behörde, der Oberbürgermeister der Stadt K, gehandelt. 2. Formvorschriften Die Schriftform gemäß 37 Abs. 2 VwVfG wurde eingehalten 3. Begründung Nach 39 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ist ein Verwaltungsakt zu begründen. Gemäß Satz 2 sind in der Begründung die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Nach Satz 3 soll die Begründung von Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Lt. Sachverhalt enthält der Bescheid eine ausführliche Begründung. Auf das Ermessen wird im materiellen Teil eingegangen. 4. Anhörung 28 Abs. 1 VwVfG enthält folgende Regelung: "Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern". Der Bescheid greift ohne Zweifel in die Rechte der ASD ein. Somit ist eine Anhörung erforderlich. Lt. Sachverhalt hat keine Anhörung stattgefunden. Der Bescheid ist somit formell rechtswidrig. Ausnahmen von der Anhörungspflicht nach 28 Abs. 2 und 3 VwVfG liegen nicht vor. 5. Bekanntgabe Gemäß 41 Abs. 1 VwVfG ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen ist. Lt. Sachverhalt wurde der Bescheid am selben Tag zugestellt an V. Die Bekanntgabe ist somit ordnungsgemäß erfolgt. Zwischenergebnis: Der Bescheid ist formell rechtswidrig. 2
II. Materielle Voraussetzungen 1. Gesetzliche Ermächtigung Nach Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes ist die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden. Demzufolge bedarf jeder Eingriff in die Rechte eines Bürgers einer gesetzlichen Grundlage. Das ist der "Vorbehalt des Gesetzes." Im vorliegenden Fall könnte 5 Nr. 2 des Versammlungsgesetzes die gesetzliche Grundlage sein. Dazu sind die einzelnen Tatbestandsmerkmale zu prüfen. a) Der Ermächtigungstatbestand setzt zunächst voraus, dass es sich bei der verbotenen Versammlung um eine öffentliche Veranstaltung in einem geschlossenen Raum handelt. Der Versammlungsbegriff verlangt einen gemeinsamen Zweck der Teilnehmer, um sich gegenüber der bloßen Ansammlung abzugrenzen; die Veranstaltung soll zur Information der Öffentlichkeit über den geplanten Moscheebau führen. Somit liegt der gemeinsame Zweck der Teilnehmer vor. Außerdem ist die Versammlung für jedermann zugänglich und damit öffentlich. Die angemietete Fabrikhalle stellt einen geschlossenen Raum (in Abgrenzung zu Veranstaltungen unter freiem Himmel) dar. Demnach handelt es sich um eine öffentliche Veranstaltung in einem geschlossenen Raum. b) Weiter ist zu prüfen, ob es Teilnehmer gibt, die Waffen oder ähnliche Gegenstände mit sich führen. In Betracht kämen hier die jungen Anarchos, die ihr Kommen ja bereits fest zugesagt haben. Lt. Sachverhalt treten diese mit Springerstiefeln und Baseball-Schlägern auf. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die jungen Anarchos auf ihre Ausrüstung bei der Veranstaltung zu verzichten bereit sind. Sowohl bei den Stiefeln wie bei den Baseball-Schlägern handelt es sich zwar nicht um Waffen im eigentlichen Sinn; ihrer Funktion nach stellen die Stiefel Bekleidungsstücke und die Baseball-Schläger Sportgeräte dar. Allerdings würde es schon ausreichen, wenn diese Gegenstände zur Verursachung von Personenoder Sachschäden geeignet und bestimmt wären; auf die eigentliche Funktion kommt es dabei nicht an. Mit Baseball-Schlägern können durch gezieltes Zuschlagen sowohl schwere Verletzungen wie erhebliche Sachschäden verursacht werden, weshalb für die Schläger die Schädigungseignung vorliegt. Mit den Stiefeln lassen sich durch Tritte ebenfalls Verletzungen und Schäden anrichten; aber das kann mit gewissen Einschränkungen mit allen etwas festeren Schuhen passieren. Allerdings muss noch das zweite Erfordernis hinzutreten, dass diese schadensgeeigneten Gegenstände für die schadensverursachende Verwendung vorgesehen sind. Davon ist bei den jungen Anarchos aufgrund der Vorfälle in der Vergangenheit mit ausreichender Wahrscheinlichkeit auszugehen. Somit stellen die jungen Anarchos bewaffnete Teilnehmer i.s. von 5 Nr. 2 Versammlungsgesetz dar. c) Schließlich müsste die ASD als Veranstalterin (durch ihren Vertreter V) diesen Teilnehmern Zutritt zur Versammlung gewähren. Die Versammlung hat zwar zum Zeitpunkt des Verbots noch gar nicht begonnen, aber für die Zutrittsgewährung reicht schon die Ankündigung aus, allen Interessierten den Zutritt gewähren zu wollen, ausdrücklich auch den jungen Anarchos. Zwischenergebnis: Die Tatbestandsvoraussetzungen des 5 Nr. 2 des Versammlungsgesetzes sind erfüllt; eine gesetzliche Grundlage liegt vor. 3
2. Entschließungsermessen Die gesetzliche Grundlage schreibt bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nicht zwingend das Versammlungsverbot vor, sondern erlaubt lediglich der Behörde ein solches Vorgehen; dies wird durch das Wort "kann" deutlich. Demzufolge hat der Gesetzgeber der Behörde ein Entschließungs- und Auswahlermessen eingeräumt, also ob und wie die Behörde eingreift. Hier ist das Entschließungsermessen zu prüfen. Im vorliegenden Fall ist die Behörde tätig geworden. Das ist nicht zu beanstanden. 3. Verhältnismäßigkeit Als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips muss die Behörde der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Die Maßnahme muss geeignet, erforderlich und angemessen sein. Geeignetheit Die Maßnahme muss zum Ziel führen Ziel der Behörde ist es, die Versammlung waffenfrei zu halten; dahinter steht die Sicherstellung eines friedlichen Ablaufs der Versammlung. Dieses Ziel wird durch das Verbot der Veranstaltung erreicht. Erforderlichkeit Hier ist zu prüfen, ob die Behörde das mildeste Mittel angewendet hat. Aus dem Sachverhalt sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass von anderen Personen als den jungen Anarchos eine waffenbezogene Gefährdung der Versammlung ausgehen würde. Somit lässt sich das Gefahrenpotenzial auf eine konkrete Gruppe reduzieren. Demnach hätte schon ein behördliches Teilverbot der Versammlung, nämlich für die jungen Anarchos, für die Zielerreichung ausgereicht. Das wesentlich weitergehende Vollverbot war demnach nicht erforderlich und somit unverhältnismäßig. Angemessenheit Die Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. Hier ist eine Abwägung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Interesse durchzuführen. Die Partei wird hier in der Erfüllung ihrer Aufgabe, zur politischen Willensbildung beizutragen, erheblich beschränkt. Da diese Aufgabe der Parteien in Art. 21 des Grundgesetzes ausdrücklich und verfassungsrechtlich verankert ist, kommt diesem Punkt besondere Bedeutung zu. Andererseits kommt dem Recht auf die Durchführung waffenfreier und friedlicher Versammlungen ein erhebliches Gewicht zu, ebenfalls das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Hier sind ebenfalls Grundrechte tangiert (Art. 5 und Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes). Hier überwiegt das öffentliche Interesse; die Maßnahme ist angemessen. 4
4. Auswahlermessen Hier entscheidet die Behörde, wie sie tätig wird. Die Behörde muss ihr Ermessen fehlerfrei ausüben; Ermessensfehler sind zu vermeiden. Ein Ermessensfehler ist der Ermessensmangel. Hier übt die Behörde ihr Ermessen nicht aus, weil sie sich z.b. gebunden fühlt. Die Behörde erklärt in ihrer Begründung, dass die Versammlung verboten werden müsse. Aus dieser Formulierung ist zu erkennen, dass die Behörde nicht erkannt hat, dass eine Ermessensentscheidung vorliegt. Es liegt ein Ermessensfehler (Ermessensmangel) vor. Der Bescheid ist auch hier materiell rechtswidrig. 5. Inhaltliche Bestimmtheit Nach 37 Abs. 1 VwVfG muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Der Bürger muss genau wissen, was von ihm verlangt wird bzw. was nunmehr geregelt ist. Im vorliegenden Fall verbietet die Behörde die Durchführung der Versammlung. Somit ist der Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt. Gesamtergebnis: Der Bescheid ist formell rechtwidrig aufgrund der fehlenden Anhörung. Ferner ist der Bescheid materiell rechtswidrig, weil der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet wurde und ein Ermessensfehler (Ermessensmangel) vorliegt. 5