Heinz Fritsche/Klaus Pickshaus* Mit dem Rückenwind der Rentenproteste: Reform-Unfall im Leistungsrecht vorerst verhindert!



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Erschienen in: Sozialismus Heft 10-2007 Heinz Fritsche/Klaus Pickshaus* Mit dem Rückenwind der Rentenproteste: Reform-Unfall im Leistungsrecht vorerst verhindert! Nach Gesundheit, Rente und Pflege wollte die Bundesregierung auch das Leistungsrecht in der gesetzlichen Unfallversicherung umbauen. Für die meisten neu Betroffenen wären in der Folge die Ansprüche aus der Unfallversicherung pro Monat mehrere Hundert Euro niedriger ausgefallen. Dieses Reformvorhaben konnte gestoppt werden. Welche Kräfte konnten dies erreichen? Eine kleine Zwischenbilanz zu einem weithin unbeachteten politischen Erfolg gegen den neoliberalen Umbau. 1. Die Unfallversicherungsreform Die gesetzliche Unfallversicherung gehört zu den kleinsten Zweigen des gesamten Sozialversicherungssystems einem System, das seit Jahren dem neoliberalen Umbau ausgesetzt ist. Sie hat einen sinkendem Anteil mit nur 1,5 Prozent des gesamten Sozialbudgets und besitzt einige Besonderheiten: Es wird seit Bismarcks Zeiten nach dem Verursacherprinzip allein aus Arbeitgeberbeiträgen finanziert, weil dies die kollektive Haftungsablösung für die Arbeitgeber garantiert und damit mögliche Sozialklagen gegen einzelne Unternehmen wie in den angelsächsischen Ländern verhindert. Alle Arbeits- und Wegeunfälle und anerkannten Berufskrankheiten können allerdings auf Basis eines komplizierten und zu Recht viel kritisierten Verfahrens entschädigt werden. Aufgrund dieser Konstruktion einer Haftungsablösung sind alle Versuche einer Privatisierung bisher ins Leere gelaufen, und die Versicherungswirtschaft hat allein aufgrund der Altlasten eine Übernahme dankend abgelehnt. Das Unfallversicherungssystem ist außerordentlich beitragsstabil und befördert durch eingebaute Präventionsanreize eher eine Tendenz der Beitragssenkung (wohlgemerkt: für die Arbeitgeber). Der durchschnittliche Beitragssatz schwankt seit 20 Jahren um 1,3 Prozent. Und das obwohl es in der gesetzlichen Unfallversicherung keine Leistungskürzungen gab. 1 1 Angaben nach Dr. Joachim Breuer, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV, ehemals HVBG), in: FAZ 4.9.2006 * Heinz Fritsche ist Gewerkschaftssekretär im Ressort Arbeits- und Gesundheitsschutz beim Vorstand der IG Metall; Klaus Pickshaus leitet das Ressort Arbeits- und Gesundheitsschutz beim Vorstand der IG Metall.

Anteil der Unfallversicherung am gesamten Sozialversicherungssystem Strukturanteil in% Leistungen in Millionen Euro 2000 2006 2000 2006 Rentenversicherung 31,9 32,5 217.428 239.963 Krankenversicherung 19,4 19,9 132.043 146.830 Pflegeversicherung 2,4 2,4 16.668 18.040 Unfallversicherung 1,6 1,5 10.834 11.181 Quelle: BMAS (Hrsg.), Sozialbudget 2006, Berlin Mai 2007 Warum also ein solch stabiles System grundlegend umbauen? Was sind die unterschiedlichen Interessen und Begründungen der jeweiligen Kräfte? Im Koalitionsvertrag der CDU/SPD-Bundesregierung 2005 wurde das Ziel einer Reform der Unfallversicherungen erstmals anvisiert: Wir werden in einer Bund-Länder- Arbeitsgruppe ein Konzept für eine Reform der Unfallversicherung entwickeln, um das System auf Dauer zukunftssicher zu machen. Geplant waren zwei von einander unabhängige Reformen: Einerseits eine Organisationsreform, die auf eine Reduzierung der Unfallversicherungsträger und Zusammenlegung von gewerblichen Berufsgenossenschaften und öffentlichen Unfallkassen in einen gemeinsamen Spitzenverband hinauslaufen sollte. Dieser Prozess der Modernisierung fand trotz aller Einzelkritik eine Unterstützung aller beteiligten Kreise. Aber auf der anderen Seite war auch ein grundlegender Umbau des Leistungsrechts intendiert. Damit war auf diesem Feld eine harte Auseinandersetzung eröffnet. Trotz des geringen Anteils am Sozialbudget und den stabilen Beitragssätzen stehen die Unfallversicherungen seit vielen Jahren unter Beschuss der Arbeitgeberverbände. So fordern die Arbeitgeber seit langem, dass die Entschädigung von Wegeunfällen aus dem Leistungskatalog gestrichen wird, und dies, obwohl eine berufliche Mobilität mit allen Folgen längerer Arbeitswege verlangt wird und die langen Arme der Arbeit vielfach auch das Verhalten der beruflichen Verkehrsteilnehmer prägt. Die BDA fordert generelle Leistungseinschnitte: Eine Strukturreform muss zu einer Konzentration der Leistungen auf betriebsspezifische Risiken führen, bestehende Überversorgung abbauen, die Wirtschaftlichkeit verbessern sowie die Organisationsstruktur straffen. 2 Solche Zielsetzungen fanden insbesondere bei den CDU/CSU-geführten Bundesländern Unterstützung. Das SPD-geführte Bundesarbeitsministerium hier vor allem der für das Thema federführende Staatssekretär Tiemann begründete die Notwendigkeit der Reform vor allem damit, dass eine größere Zielgenauigkeit der Leistungsverteilung erreicht werden müsse, denn Schwerverletzte seien derzeit im Vergleich zu Leicht -Verletzten benachtei- 2 BDA (Hrsg.): Soziale Selbstverwaltung, Juli 2007 2

ligt. 3 Damit wird das Argument der Überversorgung aufgegriffen. Gleichzeitig sollte das Leistungssystem stärkere Anreize für eine wirksame berufliche Rehabilitation und Integration geben. Ganz im Sinne der neusozialdemokratischen Philosophie eines aktivierenden Sozialstaats sollten durch eine faktische Etablierung von Zumutbarkeitskriterien auch Risiken auf die Betroffenen abgewälzt werden. Als Zugeständnis an die Gewerkschaften hingegen galt, dass Wegeunfälle weiter versichert bleiben. Soweit die hehre Reformankündigung. Die tatsächlich vorgelegten Konzepte zeigten dann, dass die Versicherten erhebliche Einbußen und Nachteile zu erwarten hatten. Hierbei sind zwei Etappen mit Konzeptionen unterschiedlicher Tragweite zu unterscheiden. Beiden Etappen gemeinsam war das Ziel eines grundlegenden Systemwechsels im Leistungsrecht: Die bisher lebenslang gezahlte Unfallrente sollte künftig in zwei getrennte Leistungen aufgespalten werden: den Gesundheitsschadensausgleich (gleichsam ein Schmerzensgeld ) und den Ausgleich der Erwerbsminderung (nur bis zum gesetzlichen Renteneintritt). Allein diese Aufspaltung erwies sich als unpraktikabel. Die erste Etappe wurde durch die Bund-Länder-Kommission eingeleitet, die Ende Juni 2006 Eckpunkte vorlegte, aus denen ein drastischer Umfang an Leistungseinschränkungen ablesbar war: So sollte zwar der quantitativ kleine Kreis der Schwerstgeschädigten künftig bessere Leistungen erhalten; für die Mehrheit der Geschädigten drohte eine zum Teil dramatische Verschlechterung der Lage. Die Entschädigungsgrenze sollte von heute 20% MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit) auf 30% MdE angehoben werden mit der Folge, dass knapp 75% aller neuen Rentenfälle keine Leistungen mehr erhalten würden. Für die 30%- und 40%-MdE-Fälle waren nach Altersklassen gestaffelte obligatorische Einmalzahlungen vorgesehen. Diese hätten das Versorgungsniveau der Betroffenen dramatisch verschlechtert. Nach dieser Veröffentlichung im Juni 2006 hüllte sich das Bundesarbeitsministerium über neun Monate lang in Schweigen, obwohl immer wieder ein konkreter Arbeitsentwurf angekündigt wurde. Bekanntlich war dieser Zeitraum durch wachsende öffentliche Proteste und auch betriebliche Aktionen gegen die Rente mit 67 geprägt. So verwunderte es wenig, dass einige Wochen nach der parlamentarischen Verabschiedung der Rentenpläne mit 67 das Arbeitsministerium Ende April 2007 endlich einen Arbeitsentwurf zum Leistungsrecht veröffentlichte, der gegenüber den Eckpunkten der Bund- Länder-Kommission deutliche Kompromisssignale in Richtung Gewerkschaften aussenden sollte. Eine Prüfung des Arbeitsentwurfs kam allerdings in allen DGB-Gewerkschaften übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass trotz des Verzichts auf die schlimmsten Einschnitte, wie sie in den Eckpunkten der Bund-Länder-Kommission vorgesehen waren, die negativen Folgen für die Versicherten überwogen. Hinzu kamen zahlreiche Widersprüche in der Konstruktion des neuen Leistungssystems, die auf gravierende fachliche Mängel 3 Vgl. zur Sicht des Ministeriums Heinrich Tiemann, Teilhabe stärken, Leistungen richtig gestalten, Gerechtigkeit schaffen, in: Soziale Sicherheit 6-7/2007, S. 205 ff. 3

hinwiesen und eine Umsetzung in der Praxis außerordentlich erschwerten. Neue gravierende Ungerechtigkeiten und Leistungseinschränkungen waren vor allem in den folgenden Punkten zu sehen: 4 Versicherte sollten künftig bis zu 10 Prozent Erwerbsminderung durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit selbst tragen. Der vorgesehene Gesundheitsschadensausgleich war skandalös niedrig bemessen (Beispiel: 50 Euro monatlich bei 20% MdE etwa bei einer schweren Hauterkrankung). In der Rentenphase drohte eine massive Schlechterstellung für sehr viele Berufserkrankte oder Verunfallte, da die Erwerbsminderungsrente dann auslaufen würde. In den Monaten Mai bis Juli 2007 zeigte sich, dass diese Kritik aus Sicht der Gewerkschaften auch bei anderen Verbänden, in der Fachwelt und zunehmend in der Politik Resonanz fand. Die aktuell zugespitzte Forderung der Gewerkschaften lautete, das Leistungsrecht zeitlich von der Organisationsreform der Unfallversicherungen zu entkoppeln und auf die geplante Kabinettsentscheidung im August zu verzichten. Im Juli deutete dann Franz Müntefering in einem Schreiben an die Koalitionsfraktionen eine zeitliche Verschiebung an, die er mit der von den Gewerkschaften geäußerten Sorge begründete, dass schwerwiegende Fälle einen Vorteil, aber sehr viel mehr leichte Fälle einen Nachteil gegenüber der bisherigen Regelung hätten. Damit positionierte er sich erstmals deutlich gegen anders lautende Behauptungen seines Staatssekretärs. Am 2. August richteten Klaus Brandner und Wolfgang Grotthaus dann ein Schreiben an die SPD-Fraktion, in dem sie den ursprünglichen Plan aufgaben, dieses Thema noch in diesem Jahr parlamentarisch abzuschließen. Damit war die Reform des Leistungsrechts faktisch vertagt. 2. Wie es zum Scheitern kam Im Verlauf der Debatten und der sich ausweitenden Proteste entwickelte sich eine blockierende Interessenkonstellation, die zum vorläufigen Stopp der Regierungspläne beitrug: Während die Gewerkschaften einmütig den vorgelegten Reformplan ablehnten, kritisierten die Arbeitgeberverbände und die CDU/CSU-Länder den Arbeitsentwurf vom April, weil er sich viel zu stark von den ursprünglichen Eckpunkten der Bund-Länder- Kommission entfernt hatte. Die Arbeitgeberverbände forderten darüber hinaus radikale Kürzungen im Leistungsrecht. Aus den Fachverwaltungen der Berufsgenossenschaften konzentrierte sich eine massive Kritik an den Unzulänglichkeiten und gravierenden Umsetzungsproblemen des Systemwechsels, der zu einer bürokratischen Mehrbelastung der Fachabteilungen führen würde. Während in der Organisationsreform 20% der Verwaltungskosten eingespart werden sollten, ergäben sich hier unkalkulierbare Mehrkosten. 4 Vgl. zur fachlichen Kritik im einzelnen Klaus Pickshaus/Heinz Fritsche, Neue und alte Ungerechtigkeiten, in: Soziale Sicherheit 6-7/2007, S. 213 ff. 4

Diese Position erhielt im Juli noch einmal eine kräftige Unterstützung durch eine Stellungnahme des Deutschen Richterbundes. Der Richterbund bezweifelte aus den Erfahrungen der gerichtlichen Praxis das zentrale Argument des BMAS eines Gerechtigkeitsdefizits für einen radikalen Systemwechsel im Leistungsrecht. Er meinte ferner: Der Übergang des bewährten Systems der abstrakten Schadensbemessung zu einer konkreten Betrachtungsweise ist daher aus der Sicht der gerichtlichen Praxis abzulehnen. 5 Außerdem wäre mit einem massiven Ansteigen der Zahl der Prozesse in der Unfallversicherung zu rechnen. Nach der Welle der Hartz IV-Verfahren seien die Sozialgerichte sowieso überfordert. Fazit: Eine fachlich vernichtende Kritik am BMAS! Aber auch die Arbeitgebervertreter in den Selbstverwaltungsgremien der Berufsgenossenschaften waren im Unterschied zu ihren Verbandsstellungnahmen eher auf Seiten der fachlichen Positionierungen des Hauptamtes und fürchteten eine Belastung der begrüßten Organisationsreform. In einigen Fällen wie bei der Berufsgenossenschaft Metall Nord-Süd kam es zu gemeinsamen kritischen Stellungsnahmen mit den Versichertenvertretern. Hier wirkte das Konsensprinzip in der Selbstverwaltung als Hemmschuh gegen neoliberale Umbaupläne. Gegen diese Blockadekonstellation hatte die große Koalition kaum Chancen. Der Versuch des Ministeriums war deshalb ab April 2007 darauf gerichtet, zumindest die Gewerkschaften als Bündnispartner zu gewinnen oder sie als Widerstand zu neutralisieren. Letztlich vertrat außer dem Ministerium keiner mehr diese Reforminitiative. 3. Gewerkschaftliche Gegenstrategie In den Gewerkschaften fehlte es nicht an Ratschlägen, die getragen vom Wunsch nach einer erneuerten privilegierten Partnerschaft mit der SPD schon im gemäßigteren Arbeitsentwurf vom April eine mögliche Konfliktvermeidung erhofften und deshalb von einer Mobilisierung abrieten. Einer solchen Bewertung des Arbeitsentwurfs des BMAS widersprach hingegen diametral die fachliche Beurteilung seiner Substanz. Die IG Metall setzte auf Mobilisierung, gleichzeitigen Dialog mit der Politik und den Aufbau neuer bündnispolitischer Konstellationen. Als erste Gewerkschaft beschloss deshalb der geschäftsführende Vorstand der IG Metall Anfang April, die schon begonnene Informationskampagne auszuweiten und in eine betriebliche Mobilisierungsphase überzuleiten. Gleichzeitig sollten die Dialogangebote aufgenommen und in konkreten Verhandlungen fortgeführt werden. Bei alldem sollte die Mobilisierung als kontinuierliches Druckpotential dienen. Deshalb begann die IG Metall im Frühsommer ihre Kampagne Meld dich mal beim Ministerium, in deren Gefolge bis Ende August Tausende Plakate und Zigtausende Postkarten in den Betrieben verteilt wurden und dies begleitet durch die elektronischen Medien der IG Metall. In zahlreichen Betrieben wurden Resolutionen, Unterschriftensammlungen (bei Opel bis zu 10.000 Unterschriften), Veranstaltungen mit Bundestagsabgeordneten und andere Aktionen durchgeführt. 5 Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Arbeitsentwurf Juli 2007, vgl. www.gutearbeit-online.de sowie Marina Schröder, Reform der gesetzlichen Unfallversicherung vertagt: Der weitere Verlauf bleibt unklar, in: Gute Arbeit 9/2007, S. 11 ff. 5

Es gelang auch, eine für dieses Thema beachtliche Medienresonanz zu erreichen. Außerordentlich hilfreich war die Internetplattform der Zeitschrift Gute Arbeit, auf der sämtliche Stellungnahmen aus Politik, den Gewerkschaften und Betrieben dokumentiert werden. 6 Erstmals konnten auch alle drei Sozialverbände in Deutschland der Vdk, SoVD und die Volkssolidarität zu einer gemeinsamen Stellungnahme mit der IG Metall bewegt werden. Dieser von den jeweiligen Vorsitzenden unterschriebene gemeinsame Brief an Minister Müntefering, der ebenfalls aufgrund der zahlreichen Ungereimtheiten und Kritikpunkte einen zeitlichen Aufschub forderte, hat so wird berichtet eine besondere Wirkung gegenüber der Politik erzielt. Als bündnispolitische Konstellation ist diese Zusammenarbeit zudem ein hoffnungsvolles Signal. Bei der Einflussnahme auf die politisch-parlamentarische Ebene ging es darum, unter Nutzung einer neuen strategischen Flexibilität mit den unterschiedlichen Kräften in den Dialog zu treten. 7 Die SPD-Fraktion, insbesondere Klaus Brandner und Wolfgang Grotthaus, legte nach den Erfahrungen der Rentenauseinandersetzungen hohen Wert auf gemeinsame Aushandlungen, an denen die DGB-Gewerkschaften beteiligt wurden. Für die weitere Arbeit der Bund-Länder-Arbeitsgruppe war wichtig, dass das Bundesland Berlin, repräsentiert durch den Bereich der Senatorin Heidi Knake-Werner von der LINKEN, die gewerkschaftlichen Kritikpositionen übernahm. Bei der CDU war die kritische Position von Gerald Weiß, Vorsitzender des Sozialausschusses des Bundestages, zentral, der ebenfalls die Forderung nach einer zeitlichen Entkoppelung erhob und von seiner Rüsselsheimer Basis in diesem Sinne bestärkt wurde. Die außerordentlich erfolgreiche Unterschriftensammlung bei Opel durch IG Metall-Kollegen mit Zehntausend Unterschriften wird hier auch Wirkung erzielt haben. Die Bundestagsfraktion der LINKEN zeigte sich mit zwei kleinen Anfragen außerordentlich initiativ und schuf dadurch einen zusätzlichen öffentlichen Druck auf das BMAS. Ein neues Selbstbewusstsein gewannen die gewerkschaftlichen Selbstverwaltungsmitglieder in den Berufsgenossenschaften. Die allein im IG Metall-Bereich fast 400 Mitglieder in der Selbstverwaltung in der Regel Betriebsratsmitglieder erwiesen sich als wichtige Träger und sogar Motoren der betrieblichen Mobilisierung gegen die BMAS- Pläne. Hier zeigt sich, dass mit den Selbstverwaltungen in den Berufsgenossenschaften eine wichtige, oftmals unbeachtete (paritätische) Mitbestimmungsstruktur auch politisch aktivierbar ist. 6 Vgl. die von Jürgen Reusch und Frank Walensky gepflegte Website www.gutearbeit-online.de. Es wird kolportiert, dass im Verlauf der Kampagne auch das BMAS sich hier über den Widerstand informierte. 7 Das Ende der privilegierten Partnerschaft mit der SPD und das Konzept einer strategischen Flexibilität gegenüber allen Parteien ist ausführlich begründet bei Hans-Jürgen Urban, Licht am Ende des Tunnels? Probleme und Chancen einer Revitalisierung der Gewerkschaften, in: isw (Hrsg.), Zukunft braucht Gegenmacht. Erneuerung der Gewerkschaften und Aufbau eines gesellschaftlichen Bündnisses gegen den Neoliberalismus, München 2007, isw-report Nr. 71, S. 26 f. 6

4. Resümee Schaut man auf unerschlossene Potentiale einer Revitalisierung gewerkschaftlicher Widerstandsfähigkeit und Macht, so belegen die geschilderten Aktionen durchaus die aktivierbare Widerstandskraft noch existierender korporatistischer Strukturen gegen einen neoliberalen Totalumbau. Zweifellos gibt es auch einen Konservatismus der BG- Kulturen, der sich etwa in den Ambivalenzen bei der notwendigen Organisationsreform der Berufsgenossenschaften artikuliert. Dennoch ist eine Nutzung der institutionellen Macht der Gewerkschaften auch in diesen BG-Strukturen dann möglich, wenn sie mit einer Mobilisierung der betrieblichen Basis rückgekoppelt wird. Auch hier gilt die Erfahrung, dass diejenigen Gewerkschaften erfolgreich sind, die sich stärker als soziale Bewegungen profilieren, eine intelligente Kampagnenorientierung entwickeln, neue gesellschaftliche Bündnisse zur Stärkung ihrer eigenen Organisationsmacht nutzen und auch vor einer konfliktorischen Politik nicht zurückscheuen. 8 All diese Elemente waren exemplarisch im Konflikt um das Leistungsrecht sichtbar. Eines ist klar: Dieser Erfolg eines vorläufigen Stopps der Reform des Leistungsrechts in der Unfallversicherung wäre nicht möglich gewesen, ohne den Mobilisierungsschub und die Drucksensibilität der Politik durch den Konflikt um die Rente mit 67. Die Verhandlungsposition der Gewerkschaften war gestärkt. Maßgeblich war aber auch die Entwicklung eines eigenständigen Druckpotentials im Konflikt um das Leistungsrecht. 8 Klaus Dörre: Einführung Gewerkschaften und die kapitalistische Landnahme: Niedergang oder strategische Wahl?, in: Geiselberger, Heinrich (2007): Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda, Frankfurt, S. 71 7