Die Bedeutung der Eltern-Kind- Bindung aus entwicklungspsychologischer

Ähnliche Dokumente
Bindung. Definition nach John Bowlby:

Bindung und Bildung: Die Bedeutung der kindlichen Bindungsentwicklung für den Lernprozess

Einführung in die Bindungstheorie

Kinder stark machen Die Bedeutung von Bindung und Autonomie in der Pädagogik

Bindung in Erziehung und Beratung

Eigene MC-Fragen Bindungstheorie (online Vorlesung) 1. Wie lautet die Ausgangsfrage der Bindungstheorie von John Bowlby?

Von Anpassungsleistungen zum flexiblen Nähe-Distanz- Verhalten das Zürcher Modell als Erweiterung der Bindungstheorie

Warum wir ohne Bindungen nicht leben können

Bindung als Voraussetzung für die weitere Entwicklung

Bindung und Bindungsstörungen

Die Bedeutung der sicheren Bindung. Chancen und Risiken der kindlichen Entwicklung

Entwicklungspsychologie für Lehrer. Das Bindungskonzept und seine Bedeutung für die Entwicklung

Überblick. Alles Wachsen ist Veränderung. JOHN BOWLBY. Bindung und Beziehung. Basel, 10.September 2013

Du nervst mich schon, wenn Du den Mund aufmachst!

John Bowlby, Mary Ainsworth, Bindung

Die Bedeutung von Bindung im Lernprozess - Vor der Bildung steht die Bindung

Mütterliche Bindungserfahrung und Beziehungsqualität zum eigenen Kind

Stopp! Festhalten! Grundlagen der Bindungstheorien und ihre Bedeutung für die Therapie

Diagnostik der Bindungsqualität. Einführung in die Diagnostik der Frühen Bildung und Frühförderung

Bindungsbeziehung und kindliche Entwicklung

Die Bedeutung von Bindung in Sozialer Arbeit, Pädagogik und Beratung

Verschiedene Bindungsmuster

THEORIE FRÜHKINDLICHER BINDUNGSSTÖRUNGEN WORKSHOP FÜR HEBAMMEN UND ÄRZTE DR MED JÖRG LANGLITZ KLINIK FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN EUREGIO-KLINIK

IV Der personzentrierte Ansatz und die Bindungstheorie

Neugier braucht Sicherheit

Entwicklung, Bindung und Risiko

Identitätsentwicklung und Bindung im Kontext der Familie. Übersicht. Überlebenswichtige Bedürfnisse. Karl Heinz Brisch

Aggression und Gewalt von Patienten und Angehörigen gegen Pflegende am Arbeitsplatz Ursachen und Prävention

Bindungen im Lebenslauf. Frühjahrstrimester 2017 Prof. Dr. Kerstin Dietzel

Bindung Trennung Loyalität. Jörg Maywald, Cottbus,

Bindung und Ablösung bei Jugendlichen mit mehreren Eltern

Bindungstheorie (John Bowlby) Evolutionsbiologische Perspektive. Bindungs-Explorations-Balance (Mary Ainsworth)

Sichere Bindungserfahrungen: Das Fundament einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung.

Bindungstheorie. Bindungstheorie. Video Harlows Rhesusaffen. Bindungstheorie. MMag. Katrin Draxl Entwicklungspsychologie SS 2017.

Veränderung in Partnerschaft und Familie und Auswirkungen auf die Psyche

Bindungen stärken bei kindlichem Stress und in Risikokonstellation Regensburger Fachtagung - Frühe Hilfen April 2015

Bindungsentwicklung und Bindungsstörungen. John Bowlby. Übersicht. Karl Heinz Brisch

KINDER BRAUCHEN (FRÜHE) BINDUNG

KINDER BRAUCHEN (FRÜHE) BINDUNG

Sichere Bindung - Das beste Fundament für eine glückliche Entwicklung von Kindern. Folien?

Bindung zentrale Voraussetzung für ein gesundes Aufwachsen

Wie wichtig sind sichere Beziehungen? Über Kompetenz und Verletzlichkeit von Kleinkindern

Einführung in die Bindungstheorie sowie Diagnostik und Behandlung von Bindungsstörungen

Bindung und Beziehung im Kontext von Kindeswohlgefährdung

Emotionale Entwicklung

Die Bedeutung von Bindung im Kontext der Familienbildung

Die Bedeutung von Bindung in der Entwicklung eines Kindes

Kindern Grenzen setzen wie geht das liebevoll und feinfühlig?

Bindungstheorien Aufbau von Bindungen. FTS 2017 Prof. Dr. Kerstin Dietzel

Das Kind und ich eine Bindung, die stärkt

Psychotherapeutische Praxis und Institut für Supervision und Weiterbildung. Trauma und Bindung

Regulationsstörungen Schlafstörungen

KAPITEL I.1 Historische und evolutionsbiologische Wurzeln der Bindungsforschung

Traumatisierung durch häusliche Gewalt und die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und Bindungsfähigkeit von Frauen und Kindern

Bindung und Gefühle. Übersicht. Affekte nach Paul Ekman. Karl Heinz Brisch

Gesundheitsförderung in der Geburtshilfe: Über den Zusammenhang von Stillförderung, Bonding und Familiengesundheit

Schulsystem und Verwahrlosung: wer gibt Halt? Dr.phil. Roland Müller Malters, 3. Januar 2008

Bindungsfördernde Gruppenarbeit vom Säugling zum Kleinkind

Bindung - Trennung. InfoserviceVollzeitpflege, LJA Brandenburg 1 von 5

Guter Start ins Kinderleben

Auswirkung der psychischen Erkrankung der Eltern auf die Beziehungsgestaltung mit den Kindern

Bindungstheorie Bindung und Autonomie die Basis für Kompetenzentwicklung der Kinder

Attachment. Bonding. Bindung der Eltern an das Kind. Bindung des Kindes an die Eltern. Pflegesystem. Sicherheitssystem.

Sichere Bindung zwischen Eltern und Kind als Basis für gesunde Entwicklung

SYTEMISCHE SELBST-INTEGRATION. Dr. med. Ero Langlotz. Psychiater, Systemtherapeut

Bindungsentwicklung und Bindungsstörungen

Regulationsstörungen Schlafstörungen

Bindungstheorie. Bedeutung für die sozialpädagogische Familienarbeit

RETRAUMATISIERUNG IM KONTEXT VON KONTAKTRECHTEN

Selbstverletzendes Verhalten

Frühe Bindungen und Sozialisation

Erkenntnisse der Säuglings- bzw. Bindungsforschung

Katzen als Begleiterinnen in der Psychotherapie

Bindungserfahrungen von Kindern bei Übergängen, Trennungen und Verlusten

Bindung und Trauma. Erfahrungen aus der Ambulanz und Tagesklinik für Familien mit Babys und Kleinkindern

HfH Interkantonale Hochschule für Pädagogik Trauma und Lernen 16./17.Mai 2014

Einführung Was brauchen Eltern, damit eine sichere Bindung gelingt?

Bindungsforschung. Prof. Dr. Bernhard Strauß Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie Universitätsklinikum FSU JENA

Rene SPITZ. Bindung Bindung und Beziehung Herausforderungen für Erziehungseinrichtungen und Behörden

Papilio. Papilio. Tagung Papilio und U-3-Betreuung, 16. Juni 2010, Köln. Papilio e.v. 1. Der Ablauf. Papilio. Papilio

Eine gemeinsame Präsentation der. Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Köln. und der. Kindertagesstätte Am Steinberg (Caritasverband Leverkusen)

Der präventive Auftrag in den Frühen Hilfen aus der Sicht bindungstheoretischer Erkenntnisse

BINDUNGSREPRÄSENTANZEN BEI KINDERN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND

Einführung in die Erziehungswissenschaften, 2. Semester, B.A. Studiengang Soziale Arbeit

Bindungsstörungen: Förderung der Beziehungsund Erziehungskompetenzen von Eltern

sibe Sichere Bindungsentwicklungen über den Lebenslauf begleiten und fördern Dr. Julia Berkic Staatsinstitut für Frühpädagogik

Aggression. Umgang mit einem wichtigen Gefühl

Bindungsstörung bei psychisch kranken Eltern

Bindungstheoretisches Handlungskonzept Zusammenfassung von Dr. Eva Hasenauer Bindung Bindung ist ein verinnerlichtes Muster

Die seelische Gesundheit unserer Kinder

Bindungsstörungen und Suchtverhalten. Karl Heinz Brisch

Bindungsstörungen und Co., Versuch einer Differenzierung

Ein Platz allein genügt nicht Beste Qualität für Kleinkinder in der Krippe

"Bindung als Voraussetzung für gesunde kindliche Entwicklung"

Bindungsbasierte Therapie für früh und schwerst traumatisierte Kinder und ihre Bindungspersonen

Frühkindliche Bindung und ihre Auswirkungen auf die sozial-emotionale Entwicklung von Vorschulkindern. Karl Heinz Brisch

Transkript:

Die Bedeutung der Eltern-Kind- Bindung aus entwicklungspsychologischer Sicht OA Joachim Perlberg Salus-Tagesklinik für KJPP Puschkinstr. 7, 06886 Luth. Wittenberg www.salus-lsa.de

2

0. Fallvorstellung MELANIE, 12 Jahre Erstvorstellung in Institutsambulanz mit Kindesmutter und Heimerzieherin Familie: broken home, Km traumatisiert M. bei der Großmutter schwer misshandelt im Heim erhebliche dissoziale Symptomatik massive Schulstörung aggressives und autoaggressives Verhalten, Sehnsucht nach der überforderten Mutter 3

Ablauf 1. Vorstellung und Einführung BINDUNG 2. Grundlagen der Bindungstheorie 3. Diagnostik und Herangehen 4. Bindungstypen, Bindungsstörungen & Co. 5. Klinische bzw. alltägliche Auswirkungen 6. Therapeutische Optionen Wittenberger Thesen 7. Take Home Message 4

der deutsche Bindungs-Papst spricht: Mit einer sicheren Bindung werden die Eltern große Freude an ihrem Kind haben, weil sicher gebundene Kinder eine bessere Sprachentwicklung haben, flexibler und ausdauernder Aufgaben lösen, sich in die Gefühlswelt von anderen Kindern besser hineinversetzen können, mehr Freundschaften schließen und in ihren Beziehungen voraussichtlich glücklichere Menschen sein werden. Karl Heinz Brisch 5

1. Tagesklinik Wittenberg Salus-Tagesklinik für KJPP seit 2003 am Netz Fuhrmann sche Villa in Wittenberg zunächst 12, jetzt 18 Plätze Kinder und Jugendliche von 4 bis 18 Jahren, bei Bedarf auch bis 21 Jahre drei Behandlungsgruppen nach Alter/Entw. fast alle Störungsbilder des Fachgebiets Kontra: manifeste Sucht, Delinquenz, Weglaufen, akute Psychose, akute Suizidalität 6

1. schulenübergreifende Psychotherapie (Verhaltensth., Tiefenpsych., systemische Therapie je nach Störungsbild und Bedarf) Schwerpunkt auf Psychotherapie, dazu psychiatrische Interventionen, Psychopharmaka, Sozialpädagogik, Kooperationsverbund Einzel- und Gruppenangebote gleich wichtig! Die Psychodynamik der individuellen Störung prägt den Therapieverlauf 7

1. Dauer im Durchschnitt 56 Behandlungstage anfangs eingehende Diagnostik, dann fließender Übergang in Therapiephase parallel Beschulung im Haus, vor Entlassung meist Außenschulversuch Schwerpunkte: intensive Familientherapie Kooperationsverbund/Gemeindepsychiatrie Konfliktzentrierung 8

9

1. Bindung - Einführung BINDUNG: RÜCKGRAT JEDER BEZIEHUNG John Bowlby erkannte mit seiner Theorie die frühkindliche Bindung als für die weitere Entwicklung wesentlich an (1944-1969). Mary Ainsworth erforschte u.a. mit dem Minidrama Fremde Situation die theoretischen Grundlagen zum Bindungs- und Trennungsverhalten von 12 14 Monate alten Kindern. 10

1. Mary Main gab wichtige Impulse zum desorganisierten Bindungsverhalten und zur elterlichen Feinfühligkeit. Im deutschsprachigen Raum haben sich u.a. das Regensburger Forscherehepaar Grossmann, der Frankfurter Soziologe Martin Dornes ( Der kompetente Säugling ) und der Münchner Kinderpsychiater und -analytiker Karl Heinz Brisch um die Bindung verdient gemacht. 11

1. Eine neuere Erkenntnis ist die Beschreibung der Bindungsentwicklung als Kompetenzentwicklung für das jeweils typische Alter (nicht ausschließlich bis zum 2. oder 3. Lebensjahr) und der Einfluss von Schutz- und Risikofaktoren (K. H. Brisch). Dennoch muss mit Donald Winnicott gesagt werden, dass in der frühen kindlichen Entwicklung bis zum fünften Lebensjahr mit einer verlässlich verfügbaren und Halt gebenden Beziehung zu einer primären Bindungsperson eine entscheidende Bedingung für das spätere Bindungsverhalten des Kindes bzw. Erwachsenen liegt. 12

2. Bindung - Grundlagen Bindung = enge und überdauernde emotionale Beziehung von Kindern zu ihren Eltern (und anderen Bezugspersonen) Bindung = Grundbedürfnis des sozialen Wesens angeborenes Bindungssystem in jedem Menschen - wird bei Unwohlsein aktiviert - hat eine überlebenssichernde Funktion - Suche nach psychischer und physischer Nähe und Schutz bei primärer Bezugsperson 13

2. Bowlby: Das Bindungssystem ist ein primäres, genetisch verankertes motivationales System, das zwischen der primären Bezugsperson und dem Säugling in gewisser biologischer Präformiertheit nach der Geburt aktiviert wird und überlebenssichernde Funktion hat. 14

2. Bindungsverhaltensweisen (entwicklungsabhängig): Rufen Weinen Anklammern Nachlaufen Schreien Protest in Trennungssituationen Ziel: schützende Nähe zu vertrauten Personen 15

2. Bezugsperson soll: Signale wahrnehmen und richtig deuten angemessen und möglichst zeitnah befriedigen Regulationshilfe und Quelle emotionaler Sicherheit darstellen (Ermutigung des Kindes zur Selbstständigkeit!) dafür ist Feinfühligkeit notwendig ständige Regulation und Nachjustierung 16

2. Bindungs- und Explorationssystem des Kindes sind gegenläufig ( Wippe ) Kind bildet zunächst innere Arbeitsmodelle von der Bindung zu wichtigster Bezugsperson später entwickelt sich eine individuelle Bindungsrepräsentanz/Bindungsstil 17

2. Balance zwischen. Bindung und Exploration Bindungsbedürfnis wird aktiviert, wenn das Kind ängstlich misstrauisch unsicher krank müde hungrig einsam ist. Explorationsbedürfnis wird aktiviert, wenn im Kind ein Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden herrscht. Das Kind ist dann neugierig und unternehmungslustig. 18

2. Bindung ist so wichtig wie Luft zum Atmen und Ernährung Durch Angst wird das Bindungssystem aktiviert, durch körperliche und emotionale Nähe der Bindungsperson wieder beruhigt Bindungssystem reagiert auf Angst wie ein Rauchmelder auf Rauch Bindungsperson ist der sichere emotionale Hafen für den Säugling (nach Brisch) 19

3. Diagnostik und Herangehen strange situation bahnbrechende Experimente zur Bindungssicherheit von Säuglingen und Kleinkindern (M. Ainsworth) vgl. Video: https://youtu.be/qtsewnrhuhu u.a. In der fremden Situation lassen sich typische Bindungsstile des Säuglings/Kleinkinds beobachten und Rückschlüsse auf sichere oder unsichere Bindungsmuster ziehen 20

3. still face Experiment (Edward Tronick): Mutter ist nach einer Phase der freundlichen, liebevollen Interaktion mit ihrem Kind angehalten, unvermittelt ein starres, unbewegliches Gesicht zu zeigen und jede mimische bzw. gestische Interaktion einzustellen Reaktion des Babies verdeutlicht das Ausmaß seiner psychischen Verunsicherung vgl. Video: https://youtu.be/apzxgebzht0 21

3. Neben der halbstandardisierten Beobachtung der Interaktion von Bindungsperson und Kleinkind existieren weitere diagnostische Verfahren: Vorschul- und jüngere Schulkinder: Attachment Story Completion Task (ASCT) Methode zur Erfassung der Bindungsqualität im Kindergartenalter durch Geschichtenergänzungen 8.-13. LJ: Child Attachment Interview (CAI) 22

3. Erwachsene: Adult Attachment Interview (AAI) von Mary Main Bedeutsam sind auch Beobachtungen bzw. Untersuchungen zur Bindungseinstellung Erwachsener gegenüber Ihren Kindern Aussagen über ihr Beziehungs- und Erziehungsverhalten 23

4. Bindungsstile und -störungen Bindungsstile nach Mary Ainsworth: a) sichere Bindung b) unsicher-vermeidende Bindung c) unsicher-ängstliche (ambivalente) Bindung d) desorganisierte/desorientierte Bindung Hochrisikogruppen: vernachlässigte, psychisch kranke und stark traumatisierte Kinder 24

Sichere BQ Unsichervermeidende BQ Unsicherambivalente BQ Desorganisation Ausdrücken der Bedürfnisse und Gefühle; Bindungsperson als Sicherheitsbasis; Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten Schutzbedürfnis verbergen; Vermeidung von Nähe, da oft Zurückweisung durch Bezugspersonen erfolgt Pseudo- Autonomie hoch aktiviertes Bindungssystem; zeigen Bedürfnis und Ärger überdeutlich, da Bezugspersonen als unstet und ambivalent erlebt wurden Keine klare Bindungsstrategie; Desorganisation in Verhalten und Motorik, stereotype Bewegungen, widersprüchliches Verhalten, Impulsivität 25

4. Bindungsstörungen (psychopathologisch) nach Klaus Minde: a) Kinder ohne Bindungen b) Kinder mit akuten Störungen in ihrem Bindungsverhalten c) Kinder, die dem Verlust einer wichtigen Bezugsperson nachtrauern 26

4. bei Brisch: Ordnung der Bindungsstörungen nach der altersbezogenen Hauptsymptomatik frühe seelische Traumata führen oft zu Bindungsproblemen oder störungen, die nicht unbedingt sichtbare Symptome produzieren deshalb ist es sinnvoll, bei gravierenden Bindungsstörungen diese in der ICD 10 zu klassifizieren: 27

Bindungsstörungen nach ICD-10 - F94.1 reaktive Bindungsstörung Symptome: Tritt bei Kleinkindern und jungen Kindern auf Furchtsamkeit, Übervorsichtigkeit gegenüber Menschen Wenig soziale Kontakte mit Gleichaltrigen Autoaggressionen Unglücklichsein Ursache: vermutlich direkte Folge von Elterlicher Vernachlässigung Missbrauch Schwerer Misshandlung 28

Bindungsstörungen nach ICD-10 - F94.2 reaktive Bindungsstörung mit Enthemmung Symptome: Tritt während der ersten 5 Lebensjahre auf Nichtselektives, diffuses Bindungsverhalten wahllos freundlich, aber auch grenzüberschreitend Emotional bedingte Verhaltensstörung, wenig ausgestaltete Interaktion mit Gleichaltrigen Ursache: Aufwachsen in Institutionen Wenig Gelegenheit zur selektiven Bindung Extrem häufiger Wechsel von Bezugspersonen 29

4. Fritz Riemann ( Grundformen der Angst ) und Karl König ( Kleine psychoanalytische Charakterkunde ) haben sich mit der Entstehung des individuellen Charakters beschäftigt, der stark mit Bindungserfahrungen zusammen hängt und unser Alltagsverhalten prägt. Bindungserfahrungen beeinflussen demnach wesentlich die gesunde wie die krankhaft veränderte Psyche und deren Behandlung. 30

4. Gerd Rudolf hat eine Strukturbezogene Psychotherapie beschrieben, bei der für die Behandlung von psychischen Krankheiten besonders die strukturellen Störungen der Persönlichkeit heran gezogen werden. FAZIT: Gesunde wie kranke Persönlichkeitsanteile unserer Patienten lassen sich gut verstehen und für die psychiatrische Behandlung nutzbar machen. 31

4. Bei Deprivation und früher Traumatisierung des Kindes lässt sich über die Analyse des Bindungsverhaltens und Rückschlüsse auf die Struktur ein besseres Herangehen an seine Seele erreichen als durch reine Beobachtung des sichtbaren Verhaltens und Testdiagnostik. Klinische Bindungstests und Bindungsinterviews sind dafür nicht zwingend erforderlich, aber unsere geschulte Wahrnehmung! 32

5. Klinisch-alltägliche Auswirkung in unserer Tagesklinik versuchen wir, die jeweilige Identität des Kindes/Jugendlichen mit seiner Struktur zunächst aufzugreifen, bevor wir sie behutsam zu beeinflussen versuchen Tagesklinik als INSEL mit größtmöglichem Eingehen auf die Erfahrungen des Patienten erst im Verlauf der Therapie allmähliche Wiederannäherung an die Außenwelt ZIEL: kein Umformen, sondern Annähern 33

5. Methode: bindungsorientierte Psychotherapie in Anlehnung an Karl Heinz Brisch Ähnlichkeiten erkennbar mit der psychoanalytisch-interaktionellen Methode von Annelise Heigl-Evers und Jürgen Ott Therapeuten lassen sich stark als Person in den therapeutischen Prozess einbeziehen, was die Angst und Abwehr des Kindes reduziert und ein wesentlich besseres Arbeitsbündnis möglich macht 34

5. um es deprivierten und traumatisierten Kindern zu erleichtern, das Beziehungsangebot anzunehmen, gehen wir oft proaktiv vor (nicht auf Aktivität des Kindes warten) Kinder sind nicht primär motiviert für Therapie Beziehung stiften statt Behandlungsauftrag annehmen! neue Bindungserfahrungen korrigierende emotionale Erfahrung (Franz Alexander) in Abgrenzung zur Abstinenz nach Sigmund Freud; Übertragung gestalten! 35

5. Brisch: Bindung kommt vor Bildung! Sichere Bindung ist die Voraussetzung für neugierige Exploration, Lernen, Bildung Korreliert mit Ergebnissen der Neurobiologie Die sichere Bindung an ErzieherInnen und LehrerInnen fördert wesentlich das Explorationsverhalten der Kinder, indem sie Angst reduziert und Bindungssystem beruhigt 36

5. Aggressionen gegenüber Dingen und Personen. sind immer Ausdruck von Angst. (Brisch) Angst aktiviert das Bindungssystem und mindert das Explorations- und Lernverhalten Schutz und Unterstützung des aggressiven Kindes notwendig! sichere, verlässliche, emotionale Basis anbieten! Gerade aggressive Kinder benötigen besonders intensive und feinfühlig-ausdauernde Bindungsangebote!!! 37

6. Wittenberger Thesen Jede psychische Störung, auch jedes Symptom im Sozialverhalten ist Ausdruck eines ganz bestimmten inneren Konflikts und hat seinen SINN Die besten Lösungen solcher Probleme bestehen im angemessenen Aufgreifen des mutmaßlichen Hintergrunds, wobei dem Kind die alleinige Verantwortung abgenommen wird, ohne die Eltern zu überfordern 38

6. Wittenberger Thesen Im Umgang mit unruhigen und aggressiven Kindern hilft die Rückbesinnung darauf, dass es sich oft um traumatisierte Menschen handelt, die nach ihrem Selbstwert suchen Medikamentöse Behandlung allein hilft nur auf der äußeren Symptomebene!!! komplexes Verstehen und multimodales Vorgehen notwendig 39

6. Wittenberger Thesen starke und selbstsichere Persönlichkeit beim Erwachsenen kann auch Angriffe des Kindes parieren, ohne mit Gegenaggression zu reagieren! Eltern im 21. Jahrhundert: Die abgetauchte Generation Durch gesellschaftliche Verunsicherung entstehen Defizite im Erziehungsverhalten 40

6. Wittenberger Thesen Wir müssen der Wut und Enttäuschung dieser Kinder ins Auge sehen, damit sie nicht mehr übersehen werden! CAVE: Unsere Grenzen dürfen zwar diskutiert, aber nicht zerstört werden! Alle Kinder brauchen Liebe und Grenzen (= Inhalt und Rahmen) aber nicht alle Kinder dieselben Grenzen! 41

6. Wittenberger Thesen Verwöhnung verhindert Einführung des Realitätsprinzips anstelle des Lustprinzips, übergroße Strenge führt zu Angst und aggressiver Abwehr ständiges Ausbalancieren erforderlich, Kontrolle der eigenen Reaktionen auf das Kind 42

6. Wittenberger Thesen Für alle Kinder gelten Regeln, aber nicht alle Regeln gelten für alle Kinder Nicht alle MitarbeiterInnen müssen sich gleich verhalten, aber alle sollen Bescheid wissen (J. Perlberg in Anlehnung an Ronald HOFMANN) Weniger ERZIEHUNG, mehr BEZIEHUNG!!! 43

6. Therapeutische Optionen In der Wittenberger Tagesklinik spielen die Vorstellungen von Donald Winnicott und Yecheskiel Cohen zur Bindungsdynamik deprivierter und traumatisierter Kinder implizit eine tragende Rolle Über möglichst intensive Familienarbeit versuchen wir, die Angehörigen und Bezugspersonen in Bindung zu bringen Enge Kooperation und Vernetzung sind Grundpfeiler - evident für die Region! 44

6. Fallvorstellung (Fortsetzung) MELANIE, jetzt 14 Jahre erste Aufnahme in Tagesklinik scheitert an der falschen Bezugstherapeutin (zu ihr besteht keine Bindungssicherheit!, fühlt sich verraten) bei zweitem Versuch der tagesklinischen Aufnahme gute therapeutische Arbeit mit intensiver Bindungserfahrung an den ihr bekannten Therapeuten Therapeut bleibt bis kurz vor Entlassung gutes Objekt eine Woche vor der Entlassung dann negative Übertragung und Abwendung der Patientin Gesamtentwicklung ist letztlich erfolgreich 45

7. Take Home Message Bindungen prägen das gesamte Leben eines Menschen entscheiden über Struktur und Charakter; beeinflussen Befinden, Verhalten, soziale Integration, Leistungsfähigkeit, Regulationsvermögen, Partnerschaft, Kindererziehung Bei Störungen der frühkindlichen Bindung sind korrigierende Erfahrungen durch wichtige zusätzliche Bezugspersonen möglich und nötig 46

7. Bindungsstörungen lassen sich nicht vollständig heilen, aber auf ein höheres Funktionsniveau bringen Für professionelle MitarbeiterInnen von sozialen Einrichtungen gilt, sich besonders der bindungsgestörten und traumatisierten Kinder anzunehmen Stabil, vorhersehbar und verlässlich zur Verfügung stehen! Eigene Person aktiv in Beziehung einbringen! 47

Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Noch Fragen, bitte? 48