Biologische Grundlagen der Flexibilität

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Transkript:

A. Klee, K. Wiemann Biologische Grundlagen der Flexibilität Die Flexibilität (Gelenkigkeit, Beweglichkeit) des menschlichen Körpers ist an verschiedene Faktoren des aktiven und passiven Bewegungsapparates gekoppelt, die das Ausmaß der Bewegung in den einzelnen Gelenken begrenzen (hemmen). Je nach Art der Bewegungseinschränkung spricht man von Knochenhemmung, Massenhemmung, Muskelhemmung oder Bänderhemmung. Zwar dominiert in den Gelenken in der Regel die eine oder andere Hemmung, wie Abb. 1 verdeutlicht, aber in der Regel unterstützen sich mehrere Hemmungsmechanismen wechselseitig. Abbildung 1: Gelenkhemmungen: a Knochenhemmung, b Massenhemmung, c Muskelhemmung, d Bänderhemmung (Wiemann, 1993) Für die Trainingspraxis kommt jedoch nur der Muskelhemmung eine besondere Bedeutung zu, weil sie die einzige Bewegungseinschränkung darstellt, die sich sinnvoll durch Übung beeinflussen lässt. Von Muskelhemmung spricht man dann, wenn eine Gelenkbewegung vorwiegend durch die anwachsende passive Spannung von Muskeln begrenzt wird. Dies tritt vor allem dort auf, wo Muskeln mehr als ein Gelenk überspannen. Die Beugemuskeln der Finger z.b. überziehen das Handgelenk, die Fingergrundgelenke und die Fingergelenke. Überstreckt man all diese Gelenke in Richtung des Handrückens, wird die Bewegung durch die Spannung der Fingerbeugemuskeln zunehmend gebremst, was sich an dem anwachsenden Spannungsgefühl in den Beugemuskeln am Unterarm leicht erkennen lässt. Ein weiteres klassisches Beispiel der Muskelhemmung ist der Widerstand der Muskeln der Oberschenkelrückseite (ischiokrurale Muskeln) gegen ein Hüftbeugen bei gestreckten Knien. Wo liegen die Ursachen dafür? 1 Die Quellen der Ruhespannung des Muskels - Titin Dreht man ein Gelenk von der einen Extremstellung in die andere, wird die Muskulatur auf der einen Seite des Gelenkes entdehnt, auf der anderen Seite aber gedehnt. Im Laufe dieser Dehnung steigt die Spannung des Muskels zunehmend steiler an, auch wenn der Muskel völlig inaktiv (in Ruhe) verbleibt. Man spricht von der Ruhespannung oder Dehnungsspannung des Muskels. Der Spannungsanstieg während einer Deh-

2 nung lässt sich experimentell bestimmen. Dabei erhält man die in Abb. 2 dargestellte Ruhespannungs-Dehnungskurve. Ruhespannung [Nm] Gelenkwinkel [ ] Abbildung 2: Beispiel einer Ruhespannungs-Dehnungskurve der ischiokruralen Muskeln Zur Frage, welche muskulären Strukturen die passive Spannung des Muskels verursachen und somit die Gelenkbewegung begrenzen, hat sich in den letzten Jahren die Erkenntnislage grundlegend geändert. Ursprünglich nahm man an, dass als Quelle der elastischen Spannungen des gedehnten Muskels die diversen Faserhüllen und Faserbündelhüllen anzusehen wären (z.b. bei Schmidt & Thews, 1977). Diese Darstellung ist teilweise auch noch in aktuellen Veröffentlichungen und Lehrbüchern jüngeren Datums vorzufinden. Später wurde nachgewiesen (z.b. Magid & Law, 1985), dass auch Muskelfasern, von denen man die Faserhülle entfernt hatte, die gleichen elastischen Spannungen erzeugen wie intakte Muskelfasern und man schloss daraus, dass die Quellen der elastischen Spannung des Muskels in den Myofibrillen selbst zu suchen seien. Erst im Laufe der achtziger Jahre wurden von verschiedenen Forschergruppen (insbesondere Street, 1983; Maruyama et al., 1984; Wang, 1984) die kurz zuvor entdeckten Riesenmoleküle Titin, die sich innerhalb der Sarkomere von den Z-Scheiben bis zur M- Linie erstrecken und an den freien Enden der Myosinfilamente angeheftet sind (Abb. 3), als die Erzeuger der passiven elastischen Spannung des Muskels identifiziert. Die Titinfilamente besitzen in ihrem Abschnitt von der Z-Scheibe bis zum freien Ende des Myosinfilaments einen hochelastischen Abschnitt (PEVK-Region), der inzwischen als die Quelle der passiven elastischen Spannung (Ruhespannung) bzw. der elastischen Rückstellkräfte des Muskels gilt, während man den Faserhüllen nur noch in extremen Dehnbereichen eine gewissen Beteiligung am elastischen Widerstand des Muskels beimisst. Aufgrund dieser Eigenschaft der Titinfilamente werden sie auch als molekulare Federn des Muskels bezeichnet. Die Aufgabe des Titins ist es also: 1. die Myosinfilamente stets straff gespannt im Zentrum des Sarkomers zu halten und 2. nach einer Dehnung des Sarkomers die Myosinfilamente wieder den Z-Scheiben anzunähern und somit das Sarkomer zu entdehnen (Abb. 3).

3 Muskel Muskelfaserbündel Muskelfaser Myofbrille Sarkomer Z-Scheibe Aktinfilament Myosinfilament M-Linie Titinfilamente Abbildung 3: Oben: Der Aufbau eines Muskels (verändert nach Wirhed, 1984, S. 9). Unten: Die fibrilläre Struktur des Sarkomers in schematischer Darstellung 2 Dehnungsverhalten des Muskels Die elastische Wirkung des Titins beim Dehnen offenbart sich im Ruhespannungs-Dehnungsdiagramm (Abb. 2): Die elastische Eigenschaft des Titins macht verständlich, dass es mit zunehmender Dehnung der dehnenden Wirkung einen ansteigenden Widerstand entgegensetzt wie ein Gummi, das gedehnt wird. Dies geschieht aber nicht linear, wie bei einem Gummi, sondern exponentiell, d.h., mit zunehmender Dehnung steigt die Dehnungsspannung steiler an. Es entsteht der typische Verlauf einer Ruhespannungs-Dehnungskurve (Abb. 2). Verschwindet die dehnende Kraft, setzt sich die elastische Rückstellkraft der Titinfilamente durch und zieht den Muskel wieder zusammen. Dehnt man jetzt ein zweites Mal, lässt sich Folgendes feststellen (Abb. 4): 1. Die Spannung der Dehnungskurve ist im submaximalen Bereich geringfügig niedriger als bei der vorangegangenen Dehnung. 2. Die Dehnungsspannung erreicht einen höheren Maximalwert. 3. Das Dehnungsausmaß (die Gelenkreichweite) erreicht einen höheren Maximalwert.

4 Ruhespannung [Nm] Gelenkwinkel [ ] Abbildung 4: Die Ruhespannungs-Dehnungskurve von 2 aufeinander folgenden Dehnungen. A: Zunahme der maximalen Dehnungsspannung, B: Zunahme der maximalen. Bewegungsreichweite, C. Abnahme der submaximalen Dehnungsspannung Das erste Phänomen (1.) muss als ein Aufwärmeffekt angesehen werden. Dieser kommt nach der 3. bis 5. Dehnung zum Stillstand (Wiemann, 1994) und ist nach spätestens 60min nach der letzten Dehnung wieder verschwunden (Magnusson, Simonsen, Aargaard & Kjaer, 1996). (2.) Der Anstieg der maximalen Dehnungsspannung lässt sich dadurch begründen, dass sich die gedehnte Person an die Dehnungsspannung gewöhnt bzw. dass die Person von Dehnung zu Dehnung höhere Dehnungsspannungen toleriert. (3.) Der Anstieg der Gelenkreichweite ist somit eine Folge von (2.). Führt man ein 15-minütiges Dehnungstraining (Wiemann & Hahn, 1997) oder sogar ein mehrwöchiges Langzeittraining (Wiemann, 1991) durch, lässt sich die Gelenkreichweite noch weiter vergrößern als bei einzelnen Dehnungen. Wartet man nach einem Kurzzeit- oder Langzeit-Training mit der Überprüfung der Trainingseffekte ab, bis die Aufwärmeffekte abgeklungen sind, liegen die beiden Dehnungskurven (vor dem Training und nach dem Training) im submaximalen Bereich übereinander (= kein Absenken der Ruhespannung), im maximalen Bereich steigt die Nachtestkurve allerdings weiter nach oben und zwar auf Grund des beschriebenen Wirkungszusammenhanges zwischen Toleranz von Dehnungsspannung und Dehnungsreichweite. Diese Befunde widerlegen die viele Jahre lang vertretene Annahme, man könne die Ruhespannung des Muskels durch Dehnungstraining dauerhaft absenken (s.u.). Diese Befunde und weitere Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen über die Funktion der Titinfilamente führen zu folgenden Annahmen zur Wirkung von Kraft- und Dehnungstraining: 1. Da jedem Myosinfilament eine konstante Anzahl von Titinfilamenten zugeordnet ist und somit mit der Anzahl der parallelen Myosinfilamente die Anzahl der parallelen Titinfilamente steigt, nimmt mit zunehmendem physiologischen Querschnitt des Muskels der elastische Widerstand des passiven Muskels zu. 2. Da Krafttraining den physiologischen Querschnitt des Muskels bzw. die Anzahl der parallelen Myosinfilamente (und somit Titinfilamente) erhöht (Hypertrophie), nimmt durch Krafttraining der elastische Widerstand des passiven Muskels zu.

5 3. Aufgrund der biologischen Bedeutung des Titins ist nicht anzunehmen, dass Dehnübungen den elastischen Widerstand des Muskels verringern. 3 Zur Wirkung von Übungen zur Steigerung der Flexibilität In etwa in demselben Jahrzehnt, in dem die Entdeckung des Titins und seiner biologischen Funktionen bekannt wurde, entwickelte sich zunächst unabhängig davon und ausgelöst in Amerika durch Anderson (1980) - eine Stretching-Bewegung verbunden mit einem Propagieren immer neuerer Dehnungsmethoden und dem Verkünden zahlreicher Effekte des Dehnens auf Längen- und Spannungseigenschaften des Muskels. Als Reaktion darauf begannen zunehmend sportwissenschaftlich orientierte Forschergruppen, sich experimentell mit der Wirkung des Dehnens zu befassen. Diese mussten feststellen, dass sich ein Teil der dem Dehnen nachgesagten Wirkungen nicht nachweisen ließ bzw. dass sich nicht den bisherigen Erwartungen entsprechende, aber bei Berücksichtigung der Funktion der Titinfilamente plausible Befunde einstellten (Tab. I). Tab. I: Vermutete und experimentell nachgewiesene Effekte von unterschiedlichen Dehnmaßnahmen auf muskuläre Parameter. : Anstieg. : Abnahme. : keine Veränderung. : nur bei weiblichen Personen nachgewiesen. : nur bei männlichen Personen nachgewiesen.?: Untersuchungsergebnisse liegen nicht vor. Kennwerte Vermutete Effekte Effekte von Dehnmaßnahmen experimentell erwiesene Effekte Aufwärmeffekte nach singulärem Dehnen kurzfristige Effekte nach Kurzzeitdehnen langfristige Effekte nach Langzeitdehnen Gelenkreichweite (3,6-8%) (7,5-8%) (14,5-15%) Dehnbelastungsfähigkeit (4,4-14%) (22,9%) (30%) Ruhedehnungsspannung (10,4%) (~13%) funktionelle Muskellänge Kontraktionskraft (~7%)? ( 9%; 13%) Schnellkraftleistung (~5%)? Verletzungsgefahr Wohlbefinden Von den in der Tabelle aufgeführten experimentellen Befunden sind insbesondere die kurzfristigen und langfristigen Dehneffekte auf die Ruhespannung, die Kraftleistungen und die Verletzungsgefahr den biologischen Eigenschaften des Titins zuzuschreiben, während sich die Konstanz der Muskellänge mit der Funktion der Muskulatur erklären lässt.

4 Konsequenzen für die Behandlung muskulärer Dysbalancen 6 Die Erkenntnis, dass die Ruhespannung durch langfristiges Dehnungstraining nicht reduziert werden kann und bei einigen Untersuchungen sogar eine Zunahme beobachtet wurde, stellt die Bedeutung des Dehnens bei der Beseitigung muskulärer Dysbalancen in Frage (Wiemann et al., 1998). Während z.b. lange angenommen wurde, man könnte durch ein Dehnungstraining Hüftbeuger mit erhöhter Ruhespannung ( Muskelverkürzungen ) verlängern und so ein vorgekipptes Becken und ein Hohlkreuz therapieren, muss nun die Bedeutung des Krafttrainings höher eingeschätzt werden und zwar durch den oben beschriebenen Zusammenhang von Hypertrophie und Anstieg der Ruhespannung. Kommt es etwa zu einer Zunahme der Beckenneigung infolge der Zunahme der Ruhespannung der Hüftbeuger oder durch die Abnahme der Ruhespannung der Hüftstrecker (Hypotrophie), so ist Dehnungstraining der Hüftbeuger wenig erfolgversprechend, vielmehr sollte ein Krafttraining für die Hüftstrecker durchgeführt werden. Wie gezeigt werden konnte, lässt sich die Beckenneigung durch ein zehnwöchiges Training um 2 aufrichteten (Klee, 1995). 5 Konsequenzen für die Trainingspraxis Insbesondere durch die Befunde, dass Dehnen das Auftreten von Muskelkater nicht verringert, sondern eher begünstigt (Wiemann & Kamphöfner, 1995) und Kraft- und Schnellkraftleistungen kurzfristig beeinträchtigt, muss die bisherige Wertschätzung des Dehnens im Rahmen von Aufwärmprogrammen relativiert werden. Ebenso haben sich die Erwartungen über die kurz- und langfristige Verletzungsprophylaxe des Dehnens nicht bestätigen können. Diese Erkenntnisse führen dazu, dass mancherorts generell der Sinn des Dehnens in Frage gestellt wird. Doch das Dehnen hat überall dort seine Berechtigung, wo es um die kurzfristige und langfristige Vergrößerung der Bewegungsreichweite zur Steigerung der Leistungsfähigkeit in Disziplinen mit hohen Anforderungen an die Beweglichkeit und Dehnfähigkeit des Körpers geht. Und letzten Endes darf die Bedeutung des Dehnens für die Erhaltung der allgemeinen Beweglichkeit und zur Verbesserung des Wohlbefindens nicht ganz aus dem Blick verloren gehen. Literatur Klee, A. (1995), Haltung, muskuläre Balance und Training. Die metrische Erfassung der Haltung und des Funktionsstandes der posturalen Muskulatur - Möglichkeiten der Haltungsbeeinflussung durch funktionelle Dehn- und Kräftigungsübungen. 1994 1, 2. unveränderte Auflage, Frankfurt a.m.: Verlag Harri Deutsch. Klee, A. (1995), Methoden und Wirkungen des Dehnungstrainings. Die Ruhespannungs-Dehnungskurve - ihre Erhebung beim M. rectus femoris und ihre Veränderung im Rahmen kurzfristiger Treatments. Habilitationsschrift. Schorndorf: Verlag K. Hofmann. Wiemann, K. (1994), Beeinflussung muskulärer Parameter durch unterschiedliche Dehnverfahren. In M. Hoster & H.-U. Nepper (Hrsg.), Dehnen und Mobilisieren (S. 40-71). Waldenburg: Sport Consult.

7 Wiemann, K., Klee, A. & Stratmann, M. (1998), Filamentäre Quellen der Muskel-Ruhespannung und die Behandlung muskulärer Dysbalancen. Dtsch Z. Sportmed., 49 (4), 111-118. Wydra, G., Bös, K. & Karisch, G. (1991), Zur Effektivität verschiedener Dehntechniken. Dtsch Z. Sportmed., 42 (9), 386-400. http://www2.uni-wuppertal.de/fb3/sport/bewegungslehre/wiemann/wiem.htm http://www2.uni-wuppertal.de/fb3/sport/bewegungslehre/klee/welcome.htm Die vollständige Literaturliste kann unter klee@uni-wuppertal.de bestellt werden.