8. Strukturwandel der Erwerbsarbeit II

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Transkript:

8. Strukturwandel der Erwerbsarbeit II 8.1 Arbeitslosigkeit Strukturwandel der Erwerbsarbeit Arbeitslosigkeit (strukturelle Arbeitslosigkeit) Definition von Arbeitslosigkeit bzw. Erwerbslosigkeit Arbeitslos ist ein Arbeitnehmer, der vorübergehend nicht beschäftigt ist (Beschäftigungslosigkeit) und eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Wochenstunden umfassende Beschäftigung sucht (Beschäftigungssuche). ( 175, SGB III, Arbeitsförderung) Kriterien für registrierte Arbeitslosigkeit in Deutschland (Franz 1999, 341-349): arbeits- bzw. erwerbsfähig sofort für Arbeitsmarkt verfügbar eine Beschäftigung mit 15 oder mehr Stunden und mit einer Dauer von 3 Monaten und länger wird gesucht Höchstalter von 65 wird nicht überschritten 1

registrierte Arbeitslosigkeit arbeits- bzw. erwerbsfähig sofort für Arbeitsmarkt verfügbar eine Beschäftigung mit 15 oder mehr Stunden und mit einer Dauer von 3 Monaten und länger wird gesucht Höchstalter von 65 wird nicht überschritten Erwerbslosigkeit identisch identisch keine Vorgaben, auch Beschäftigte mit geringerem Umfang gelten als erwerbstätig und werden nicht als erwerbslos betrachtet keine Vorgaben Berechnung der Arbeitslosenquote (Franz 1999: 342-346) Arbeitslose ALO = ------------------- Arbeitskräfte Arbeitskräfte (Variante I) = Arbeitslose plus abhängig Erwerbstätige oder Arbeitskräfte (Variante II) = Arbeitslose plus abhängig Erwerbstätige plus Beamte plus Selbständige plus mithelfende Familienangehörige 2

Variante II reduziert Arbeitslosenquote um mehr als 1%. Erwerbslosenquote Erwerbslose ELO = ------------------- Erwerbspersonen Üblicherweise werden die Erwerbspersonen nach der Variante II berechnet (z.b. von der OECD), die ELO ist wiederum geringer als jene der ALO nach Variante II. Ursachen der Arbeitslosigkeit Strukturwandel = nur eine Ursache weitere Ursachen: Investitionsquote (z.b. Reichel 2001) Wachstum der Erwerbsbevölkerung (z.b. Reichel 2001) Lohnrigidität (z.b. Reichel 2001) soziale Abschließung (z.b. Zwick 2001) Diskriminierung (z.b. Abele-Brehm u.a. 2001) 3

Auswirkungen: Beeinträchtigung des psychosozialen Befindens (Paul/Moser 2001) theoretischer Zugang = Stresstheorie Exkurs: Klassische Arbeiten über mikrosoziale Auswirkungen Mit der Frage nach den Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf den Betroffenen/die Betroffene, seine/ihre sozialen Beziehungen und das Gemeindeleben hat sich die inzwischen klassische Arbeit "Die Arbeitslosen von Marienthal" von Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel (1960 [1933] beschäftigt. Ziel dieser Untersuchung, die in dem Zeitraum von 1931 bis 1932 in der niederösterreichischen Gemeinde Marienthal durchgeführt wurde, war es, "ein Bild von der psychologischen Situation eines Arbeitslosen Ortes" zu gewinnen (Jahoda u.a., 1960: IX). Marienthal war zu dieser Zeit ein typisches Fabrikdorf in der Nähe Wiens mit einer starken Abhängigkeit von einer einzigen großen Textilfabrik, die 1930 stillgelegt wurde. Zu Beginn der Erhebung im Winter 1931 hatte der Ort 1486 EinwohnerInnen. Von den 478 Haushalten bezog in 358 mindestens ein Mitglied eine Arbeitslosenunterstützung. Zur Erhebung der Auswirkungen wurden unterschiedliche Datenerhebungsverfahren angewendet. So z.b. wurden Interviews mit Familien geführt, das Wohnungsinventar wurde erhoben und Zeitstudien wurden durchgeführt. Die individuellen Auswirkungen lassen sich nach Jahoda u.a. (1960) durch vier Haltungstypen beschreiben, die durch folgende Merkmale charakterisiert sind: 4

Abbildung 1: Haltungstypen als Folge der Arbeitslosigkeit nach Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel (1960) Haltungstyp Aufrecht- Kinder- Wohl- Zukunftspläne haltung pflege befinden des Haushalts ungebrochen (10 %) ja ja ja ja resigniert (48 %) ja ja ja nein verzweifelt (11 %) ja ja nein nein apathisch (25 %) nein nein nein nein Bezüglich des Auftretens dieser Handlungstypen kann man sich folgendes Prozessmodell vorstellen: ungebrochen resigniert verzweifelt apathisch Dieser Prozess hängt davon ab, wie stark durch die ökonomische Situation der Lebensraums eingeschränkt wird bzw. werden muss und in welchem Ausmaß das Zeitbewusstsein und die Zukunftspläne erodieren. 5

Abbildung 2: Auswirkungen der Arbeitslosigkeit nach Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel Dauer der Arbeitslosigkeit ökonomische Situation Zukunftspläne soziale Kontakte Wohlbefinden Haushaltsführung und Kinderbetreuung Von den AutorInnen werden auch die familienbezogenen Auswirkungen untersucht. Die Auswirkungen auf die Beziehung der Ehepartner zueinander sind uneinheitlich. Es kann abhängig von der Partnerbeziehung vor der Arbeitslosigkeit zu mehr Zusammenhalt oder zu mehr Konflikten kommen. Lag vor der Arbeitslosigkeit eine befriedigende Partnerbeziehung vor, wurde häufiger ein stärkerer Zusammenhalt festgestellt. Im umgekehrten Fall wurden latente Konflikte manifest. 6

Beobachtet wurden des weiteren stärkere Auswirkungen auf Kinderund Jugendliche als auf den Ehepartner/die Ehepartnerin. Die Auswirkungen bestanden darin, dass die Effekte (Haltungstypen) auf die Kinder und Jugendlichen übertragen wurden. Die Ergebnisse der Marienthal-Studie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Arbeitslosigkeit verändert die Lebenshaltungen der Betroffenen. Abhängig von der Dauer der Arbeitslosigkeit, der durch diese verursachten prekären ökonomischen Lage und dem Verlust von über die Familie hinausgehenden sozialen Kontakten nehmen Personen eine ungebrochene, eine resignative, eine verzweifelte oder eine apathische Haltung ein. Die Veränderung der Lebenshaltung hängt von der Partnerbeziehung und den Erziehungszielen ab. Diesen kann eine verstärkende oder eine moderierende Funktion zukommen. Der Effekt der Arbeitslosigkeit auf Kinder und Jugendliche ist stärker als jener auf den (die) Ehepartner(in). Er besteht darin, dass die Haltungen auf die Kinder und Jugendlichen übertragen werden. Eine Auswahl von Arbeiten über die Massenarbeitslosigkeit und die Rezession in der Zwischenkriegszeit: 7

Bakke, E. W., 1933: The unemployed man. London Beales, H. L./Lambert, R. S. (Eds.), 1934: Memoirs of the unemployed. London Busemann, A,./Harders, G., 1932: Die Wirkung väterlicher Erwerbslosigkeit auf die Schulleistungen der Kinder. Zeitschrift für Kinderforschung, S. 89-104 Jahoda, M./Lazarsfeld, P. F./Zeisel, H., 1980 (1933): Die Arbeitslosen von Marienthal, Bonn Kelchner, M., 1929: Die jugendliche Arbeiterschaft und die Arbeitslosigkeit, Leipzig Moses, J., 1931: Arbeitslosigkeit: Ein Problem der Volksgesundheit. Berlin (ausführlich zit. In Thomann, K.-D., 1981: Die gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit. In: Wacker, A., (Hg.); Vom Schock zum Fatalismus? Soziale und psychische Auswirkungen der Arbeitslosigkeit. Frankfurt a. M., S. 194-240) Elder, G. H., 1974: Children in Great Depression. Chicago Elder, G. H./Caspari, A., 1988: Economic Stress in Lives: Developmental Perspectives. Journal of Social Issues, Vol. 44, No. 4, S. 25-25 8

8.2. Lösungsansätze Das Modell der Bürgerarbeit (Beck 1999, 2000) Kerngedanke: Bedarf nach (persönlichen, kulturellen, politischen) Dienstleistungen gegeben, diese werden aber über den Markt zu teuer angeboten, Arbeit also ausreichend vorhanden, aber nicht Erwerbsarbeit, in Zukunft sollte daher Bürgerarbeit gefördert werden, die mit einem geringen Entgeld honoriert wird. Voraussetzungen: Umverteilung der Erwerbsarbeit und neue Bewertung des Arbeitsbegriffs Das Modell der Zivilgesellschaft (Dahrendorf 1994) Kerngedanke: analog zu Beck, Bedarf nach (persönlichen) Dienstleistungen vorhanden, diese aber zu teuer (=Europa) bzw. nicht existenzsichernd (=USA); daher sollte ein Grundeinkommen eingeführt werden, das es ermöglicht, Dienstleistungen zu geringeren Entgelten anzubieten. Gleichzeitig schlägt Dahrendorf vor, dass eine Zeitsteuer diskutiert werden soll, die jeden verpflichtet, ein bestimmtes Zeitausmaß ehrenamtlich zu arbeiten. 9

Die Mulitaktivitätsgesellschaft (Gorz, 2000) Kerngedanke: Arbeitsvolumen nimmt ab, Erwerbsarbeit im Postfordismus ist entfremdend; daher sollte sie auf ein Minimum reduziert werden, gleichzeitig sollen Aktivitäten der BürgerInnen in (freien) Assoziationen gefördert werden. Erforderlich hierzu: Umverteilung der Erwerbsarbeit und existenzsicherendes Grundeinkommen. Literatur siehe letzte Vorlesungen, die zusätzlich angeführten Arbeiten (Reichel, 2001; Zwick, 2001; Paul/Moser, 2001) erscheinen in: Zempel, J., Bacher, J. & Moser, K. (Hrsg.) (2001). Erwerbslosigkeit. Ursachen, Auswirkungen und Interventionen. Psychologie sozialer Ungleichheit, Band 12. Opladen: Leske + Budrich. 10