Förderung von Feinfühligkeit in der Arbeit mit Familien Dr. Daniela Mayer Staatsinstitut für Frühpädagogik München PAT-Fachtagung, Nürnberg 9. Oktober 2015
Gliederung Grundzüge der Bindungstheorie Was bedeutet Feinfühligkeit? Was bewirkt Feinfühligkeit? Wie kann ich meine Einschätzung von elterlichem Verhalten trainieren? Ausblick: Wie kann die Feinfühligkeit von Eltern gefördert werden?
Grundbedürfnisse von Kindern Säuglinge und Kleinkinder sind auf Befriedigung der Grundbedürfnisse durch ihre Umwelt angewiesen. Unterscheidung: Physische Grundbedürfnisse Psychologische Grundbedürfnisse (Bindung/soziale Zugehörigkeit, Autonomie, Kompetenz (Deci & Ryan, 1992) Angemessene Befriedigung der Grundbedürfnisse ist Voraussetzung für gesunde Entwicklung. ABER: Die Befriedigungder körperlichen Grundbedürfnisse reichtnichtaus!
Grundzüge der Bindungstheorie John Bowlby (1987/2003) Ein Säugling ist genetisch vorprogrammiert, im ersten Jahr eine Bindung an wenige Personen zu entwickeln, die stärker und erfahrener sind und die ihn schützen und versorgen können. Bindung ist ein lang anhaltendes, gefühlsmäßiges Band zu einer spezifischen Person, die nicht ausgetauscht werden kann. Bindungsverhalten (z.b. Schreien, Weinen, Anklammern) zielt darauf ab, die Nähe zu einer bevorzugten Person zu suchen, um dort Sicherheit zu finden. Komplementär zum Bindungsverhaltenssystem ist das Explorationsverhaltenssystem. Nur bei Wohlbefinden ist Exploration (= Erkundung der Umwelt) möglich.
Bindung und Exploration/Autonomie Bindung und Exploration als phylogenetisch angelegte Verhaltenssysteme, die komplementär sind: bei Wohlbefinden bei Missbehagen/Stress Bindung Exploration/ Autonomie Bindung Exploration/ Autonomie Dem kindlichen Bindungsverhaltenssystem steht das elterliche/erwachsene Fürsorgeverhaltenssystem gegenüber.
Deutsch in SCHEUERER-ENGLISCH u.a., 2003
Gliederung Was bedeutet Feinfühligkeit? Was bewirkt Feinfühligkeit? Wie kann ich meine Einschätzung von elterlichem Verhalten trainieren? Ausblick: Wie kann die Feinfühligkeit von Eltern gefördert werden?
Das Konzept der Feinfühligkeit (Ainsworth, 1977, 1978) Die Fähigkeit und Bereitwilligkeit der Betreuungsperson, die Signale und das Verhalten des Säuglings wahrzunehmen und richtig zu deuten, und darauf prompt und angemessen zu reagieren.
Mary Ainsworth (1969): Seeingthings fromthe child spoint ofview isan essential conditionfor sensitivitytoinfantsignalswhile distortionin the mother s perceptionsof the childleadsto insensitive behavior. Feinfühligkeit kann nur gelingen, wenn man aus der Sicht des Kindes handelt (Grossmann, 2004, S.30)
Gliederung Was bedeutet Feinfühligkeit? Was bewirkt Feinfühligkeit? Wie kann ich meine Einschätzung von elterlichem Verhalten trainieren? Ausblick: Wie kann die Feinfühligkeit von Eltern gefördert werden?
Auswirkungen von Feinfühligkeit Die Feinfühligkeit der Bezugsperson wirkt sich neben den Temperamentseigenschaften des Kindes auf die Bindungsqualität zwischen Kind und Bezugsperson aus. Reagiert die Bindungsfigur feinfühlig auf die Signale des Kindes, entwickelt das Kind eine sichere Bindung zu ihr. Durch die Feinfühligkeit im Umgang mit den kindlichen Bedürfnissen und Gefühlen lernt das Kind die Bedeutung seiner Gefühle und Strategien zur Regulation dieser Emotionen (Grossmann, 2004) von externer zu interner Emotionsregulation
Bindungsqualität Hauptmuster A B C B - Sichere Bindung (ca. 50 70 %) ausgewogene Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten offene Kommunikation auch negativer Gefühle gegenüber der Bindungsperson Das Kind findet genügend Sicherheit um wieder explorieren zu können gelungene Emotionsregulation A -Unsicher-vermeidende Bindung (ca. 20 40 %) Überwiegen des Explorationsverhaltens auf Kosten des Bindungsverhaltens Verbergen oder Unterdrücken negativer Gefühle gegenüber der Bindungsperson Distanz zur Bindungsperson bei Leid aus Furcht vor Zurückweisung Überregulation: negative Gefühle werden unterdrückt C - Unsicher-ambivalente Bindung (ca. 10 15 %) Überwiegen des Bindungsverhaltens auf Kosten des Explorationsverhaltens unbeherrschte Mischung aus Angst und Ärger, weil das Kind die Zuwendung der Bindungsperson nicht steuern kann. untröstbare Verzweiflung bei Trennung, aber auch kaum Beruhigung und kein Sicherheitsgewinn durch Wiedervereinigung Unterregulation: negative Gefühle können nicht reguliert werden
Verhalten der Bindungsperson im ersten Lebensjahr (beobachtet) wenig feinfühliges Verhalten der Bindungsperson zurückweisende Reaktion auf Bindungssignale des Kindes feinfühliges Verhalten der Bindungsperson Signale des Kindes werden ernst genommen und beantwortet wenig feinfühliges Verhalten der Bindungsperson unvorhersehbare Reaktionen der BP Bindungsverhalten mit 12-18 Monaten in der fremden Situation unsicher-vermeidend (ca. 25%) sicher (ca.65%) unsicher-ambivalent (ca. 10%) Deaktivierung des Bindungssystems eingeschränkter Zugang zu helfenden Anderen angemessene Aktivierung des Bindungssystems Ausschöpfen der gesamten Bandbreite zwischen Bindung und Exploration möglich Hyperaktivierung des Bindungssystems eingeschränkte Exploration
Elterliche Feinfühligkeit wird (mit-)bestimmt durch die eigene Bindungsgeschichte (z.b. Fonagy et al. 1991) Stress, Überforderung bzw. Helfer am Nest (z.b. Grossmann & Grossmann, 2012) Professionelle Hilfe, die eine sichere Basis für Mutter und Kind darstellen kann (z.b. Suesset al. 2010) Elterliche Feinfühligkeit ist veränderbar und erlernbar! (z.b. van den Boom, 1994)
Gliederung Was bedeutet Feinfühligkeit? Was bewirkt Feinfühligkeit? Wie kann ich meine Einschätzung von elterlichem Verhalten trainieren? Ausblick: Wie kann die Feinfühligkeit von Eltern gefördert werden?
Ziegenhain, Gebauer, Ziesel, Künster & Fegert (2010). Lernprogramm Baby-Lesen.
Feinzeichen von Offenheit, Selbstregulation und Belastetheit (Ziegenhain et al., 2010; Als, 1982; Nugent & Brazelton, 1995)
Skala der elterlichen Feinfühligkeit (Ziegenhain et al., 2010) inwieweit sind die Eltern in der Lage, die Signale und Bedürfnisse des Kindes richtig wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren und prompt und angemessen darauf zu reagieren inwieweit ist der Verhaltensausdruck der Eltern auf den jeweiligen Verhaltensausdruck der Kinder abgestimmt emotional negativer Verhaltensausdruck ärgerliches, feindseliges und/oder aggressives Verhalten emotional flaches, verlangsamtes Verhalten und/oder ausdrucksloses Gesicht Passung als zentraler Aspekt der Bewertung!
Skala der elterlichen Feinfühligkeit (Ziegenhain et al., 2010) angemessener bis guter Bereich Interventionsbereich Hochrisikobereich
Skala der elterlichen Feinfühligkeit (Ziegenhain et al., 2010)
Filmbeispiele aus Ziegenhain et al. (2010). Lernprogramm Baby-Lesen
Gliederung Was bedeutet Feinfühligkeit? Was bewirkt Feinfühligkeit? Wie kann ich meine Einschätzung von elterlichem Verhalten trainieren? Ausblick: Wie kann die Feinfühligkeit von Eltern gefördert werden?
Förderung elterlicher Feinfühligkeit universal-präventiv für alle (werdenden) Eltern z.b. Informationsmaterial, Elternkurse, etc. selektiv-präventiv für spezifische Risikogruppe z.b. Beratung indiziert-präventiv für Familien, die bereits erste Zeichen oder Symptome einer Störung aufweisen z.b. Beratung, Therapie
good enough parenting adäquat feinfühliges Verhalten ist ausreichend und gilt als hinreichend für eine gelingende Entwicklung (Scarr, 1992)
Förderung von Feinfühligkeit Vertrauensvolle Kommunikation mit Eltern: freundliche, zugewandte und wertschätzende Haltung Perspektivenwechsel: Sicht des Kindes einnehmen Verhalten beobachten und beschreiben alternative Sichtweisen anbieten: Verhalten umdeuten (reframing) individuelle Lösungen finden: Eltern sind Experten ihres Kindes
STEEP Steps Toward Effective Enjoyable Parenting STEEP steht für Steps Toward Effective Enjoyable Parenting - Schritte hin zu gelingender und Freude bereitender Elternschaft: Bindungsaufbau zwischen Eltern und Kind videogestütztes Beratungs- und Frühinterventionsprogramm von Martha Erickson und Byron Egeland Setzt auf unterschiedlichen Ebenen an: Verhaltensebene: objektive Methoden zur Einschätzung der Interaktionsqualität (z.b. Feinfühligkeitsskala) (Seeing is believing) Repräsentationsebene: kritisch-reflexiver Umgang mit dem eigenen Erziehungsverhalten und der eigenen Biographie (Rückschau um vorwärts zu kommen) Helfende Beziehung: Professionelle Hilfe, die eine sichere Basis für Mutter und Kind darstellen kann Soziale Unterstützung: Hilfsangebote im Sozialraum
STEEP Hausbesuche Videointenvention SIB : Seeing is believing 1. Videoaufnahmen von Alltagssituationen 2. Auswahl einer gelungenen Interaktion 3. Konzentration auf die Stärken der Mutter und des Kindes 4. Öffnende Fragen
Ein Plädoyer für frühe Intervention/Prävention! Frühe Interventionen zeigen die größten Effekte Nur die Arbeit mit der ganzen Familie kann dysfunktionale Muster durchbrechen Jede Familie braucht unterschiedliche Interventionen und Hilfestellungen
-lichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!