POSITION ZUM SCHUTZ DER MENSCHENRECHTE VON SEXARBEITER_INNEN - FRAGEN & ANTWORTEN

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Transkript:

POSITION ZUM SCHUTZ DER MENSCHENRECHTE VON SEXARBEITER_INNEN - FRAGEN & ANTWORTEN Stand: 25.05.2016 1 THEMA POSITION... 2 1.1 Warum hat Amnesty International eine Position zum Schutz der Menschenrechte von Sexarbeiter_innen verabschiedet?... 2 1.2 Auf welche Belege stützt Amnesty sich bei der Position zu Sexarbeit?... 2 1.3 Welche anderen Organisationen / Institutionen teilen die Ansicht/Position von Amnesty?... 3 2 THEMA ENTKRIMINALISIERUNG... 4 2.1 Wieso muss Sexarbeit unbedingt entkriminalisiert werden, damit die Menschenrechte von Sexarbeiter_innen geschützt werden können?... 4 2.2 Warum sind die Rechte von Sexarbeiter_innen durch Entkriminalisierung besser geschützt?.. 5 2.3 Was sollten Regierungen laut Position von Amnesty tun, um Sexarbeiter_innen zu schützen? 6 2.4 Warum fordert Amnesty die Entkriminalisierung von Sexarbeit und nicht die Legalisierung, bzw. wo ist der Unterschied?... 7 2.5 Wie können die Rechte von Frauen durch die Entkriminalisierung von Sexarbeit geschützt werden, ohne dass man gleichzeitig genau die gesellschaftlichen Faktoren zementiert, die sie in die Sexarbeit zwingen?... 8 AMNESTY INTERNATIONAL Sektion der Bundesrepublik Deutschland e. V. Pressestelle. Zinnowitzer Straße 8. 10115 Berlin T: +49 30 420248-0. F: +49 30 420248-630. E: presse@amnesty.de. W: www.amnesty.de SPENDENKONTO 80 90 100. Bank für Sozialwirtschaft. BLZ 370 205 00 BIC-Nr. BFSWDE33XXX. IBAN-Code DE23370205000008090100

SEITE 2/9 1 THEMA POSITION 1.1 Warum hat Amnesty International eine Position zum Schutz der Menschenrechte von Sexarbeiter_innen verabschiedet? Menschen, die sexuelle Dienstleistungen erbringen, sind besonders häufig von Menschenrechtsverletzungen betroffen. In den meisten Fällen besteht für sie kein oder nur ein sehr geringer Schutz durch das Gesetz. In vielen Ländern sind Sexarbeiter_innen zudem in besonders hohem Maße Gewalt ausgesetzt. Dazu gehören Drohungen, Misshandlungen und Vergewaltigungen. Sexarbeiter_innen leiden unter einer Vielzahl von Diskriminierungen: Oft werden ihnen grundlegende Rechte verweigert. Sie werden bei rechtswidrigen Zwangsräumungen aus ihren Wohnungen vertrieben und erhalten keinen Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung. In diesem Zusammenhang setzt sich Amnesty auch für die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von Angehörigen marginalisierter Personengruppen ein, die sich aufgrund von Diskriminierung oft gezwungen sehen, in die Sexarbeit einzusteigen, weil sie keine Alternative haben. 1.2 Auf welche Belege stützt Amnesty sich bei der Position zu Sexarbeit? An der verabschiedeten Position zum Schutz der Menschenrechte von Sexarbeiter_innen haben wir zwei Jahre intensiv gearbeitet und berufen uns auf zahlreiche Quellen: Wir haben vier eigene Berichte angefertigt, die auf Interviews und Gesprächen mit Sexarbeiter_innen in Argentinien (Buenos Aires), Hong Kong, Norwegen und Papua Neu-Guinea beruhen. Sie ergänzen Berichte und Untersuchungen, die wir in der Vergangenheit bereits in Ländern wie u.a. Honduras 1, Uganda 2, Nigeria 3 und Tunesien 4 zu diesem Thema durchgeführt haben. 1 https://www.amnesty.org/en/documents/amr37/001/2014/en/ 2 https://www.amnesty.org/en/documents/document/?indexnumber=afr59%2f001%2f2010&language=en 3 https://www.amnesty.org/en/documents/afr44/011/2014/en/ 4 https://www.amnesty.org/en/press-releases/2015/11/tunisia-rapists-given-a-way-out-while-their-victims-are-blamed-andpunished/

SEITE 3/9 Unsere Position stützt sich weiterhin auf fundierte Untersuchungen und Konsultationen mit einer Vielzahl von Organisationen und Expert_innen. Dazu gehören die Weltgesundheitsorganisation, UNAIDS, der UNO-Sonderberichterstatter über Gesundheit und weitere UNO-Institutionen. Zudem haben wir die Positionen anderer Organisationen wie UN Women, Anti-Slavery International und Global Alliance Against Traffic in Women analysiert und selbst detaillierte Untersuchungen durchgeführt, im Rahmen derer wir Sexarbeiter_innen und ehemalige Sexarbeiter_innen sowie Polizist_innen, Regierungsvertreter_innen und Mitarbeiter_innen anderer Behörden in verschiedenen Ländern konsultiert haben. Schließlich haben Amnesty-Sektionen weltweit zu der Position beigetragen, indem sie umfangreiche Gespräche auf nationaler Ebene durchgeführt haben. Gesprächspartner_innen waren zum Beispiel: Organisationen von Sexarbeiter_innen, Gruppen von ehemaligen Prostituierten, Organisationen, die sich für die Abschaffung der Prostitution engagieren, verschiedene Menschen, die sich für die Rechte von Frauen und Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans*personen (LGBT) einsetzen und Organisationen, die sich gegen den Menschenhandel und solche, die sich für Betroffene von HIV und AIDS einsetzen. 1.3 Welche anderen Organisationen / Institutionen teilen die Ansicht/Position von Amnesty? Neben Amnesty sind auch internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation WHO, Human Rights Watch, Global Commission on H.I.V., Law and Open Society Foundations, Global Alliance Against Traffic in Women, Anti-Slavery International und die International Labour Organisation der Ansicht, dass der Entkriminalisierung eine wichtige Rolle zukommt.

SEITE 4/9 2 THEMA ENTKRIMINALISIERUNG 2.1 Wieso muss Sexarbeit unbedingt entkriminalisiert werden, damit die Menschenrechte von Sexarbeiter_innen geschützt werden können? Auf Grundlage unserer Recherchen in unterschiedlichen Ländern und eines mehrjährigen Konsultationsprozesses mit Sexarbeiter_innen und Expert_innen kommt Amnesty zu der Einschätzung, dass die Kriminalisierung von Sexarbeit wesentlich zu Menschenrechtsverletzungen an Sexarbeiter_innen durch Kund_innen, Polizei und Öffentlichkeit beiträgt. Zum Beispiel: Das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person von Sexarbeiter_innen wird durch Bestimmungen oder Gesetze bedroht, die ihre Sicherheit oder ihr Leben aufs Spiel setzen und sie in Gefahr bringen, weil sie beispielsweise rechtswidrig festgenommen werden können oder Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen werden. Das Recht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung wird durch Gesetze oder Vorgehensweisen gefährdet, die Programme zur Unterstützung von Sexarbeiter_innen untergraben, insbesondere was Prävention, Diagnose und Behandlung von HIV angeht. Die resultierende Stigmatisierung und Diskriminierung behindert den Zugang zu Gesundheitsleistungen für Sexarbeiter_innen. Der Zugang zu Recht im Fall von Menschenrechtsverstößen ist immer beeinträchtigt, wenn Menschenrechtsverletzungen aus Furcht vor Strafverfolgung, Inhaftierung oder Gewalt seitens der Behörden nicht angezeigt werden. Sexarbeiter_innen trauen sich häufig nicht, Erpressungen, Vergewaltigungen oder andere Gewalttaten anzuzeigen. Dies führt dazu, dass die Täter_innen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Das Recht auf Nichtdiskriminierung wird verletzt, wenn Sexarbeiter_innen aus Furcht vor Schikane, Gewalt und Strafverfolgung daran gehindert werden, an politischen Entscheidungsprozessen teilzunehmen und mit staatlichen Akteuren in gleicher Weise zu verkehren wie andere Berufszweige. Das gleiche gilt für die Möglichkeit, andere Berufe zu ergreifen sowie den Zugang zu Gesundheitsleistungen und Wohnraum.

SEITE 5/9 Das Recht auf gerechte und gute Arbeitsbedingungen für Sexarbeiter_innen wird untergraben, da sie häufig per Gesetz nicht denselben Zugang zu Schutzmaßnahmen unter Arbeits- und Arbeitsschutzgesetzen haben wie andere Beschäftigte. Beispielsweise werden Maßnahmen kriminalisiert, die Sexarbeiter_innen zu ihrem Schutz ergreifen, z.b. die Zusammenarbeit mit anderen Sexarbeiter_innen. Auch die Möglichkeit auf Gründung oder Beitritt zu einer Gewerkschaft besteht oft nicht, was die Gefahr der Ausbeutung erhöht. 2.2 Warum sind die Rechte von Sexarbeiter_innen durch Entkriminalisierung besser geschützt? Wenn Sexarbeit entkriminalisiert wird, werden Sexarbeiter_innen nicht länger in die Illegalität gedrängt, wo sie Menschenrechtsverletzungen schutzlos ausgeliefert sind. Das bedeutet: Sexarbeiter_innen können besser zusammenarbeiten und ihre Rechte einfordern. Sie sind unabhängiger, können sich eigenständig mit anderen Sexarbeiter_innen zusammenschließen und ihre Arbeitsumgebung so organisieren und gestalten, wie sie möchten und wie es ihren Bedürfnissen nach Schutz entspricht. Sie werden nicht länger als Kriminelle oder Mittäter_innen betrachtet und behandelt, profitieren von einem besseren Verhältnis zur Polizei und können polizeiliche Schutzmaßnahmen einfordern. Zudem können sie sich auch besser gegen aggressive Polizeimaßnahmen zur Wehr setzen und vor Gericht ihr Recht ohne Angst vor Strafverfolgung einfordern. Durch eine Entkriminalisierung der Sexarbeit verbessern sich zudem Arbeitsbedingungen und -standards für Sexarbeiter_innen sowie der Zugang zu einer besseren Gesundheitsversorgung, da sie nicht mehr Stigmatisierung und Diskriminierung fürchten müssen. Gleichzeitig ermöglicht die Entkriminalisierung der Sexarbeit eine klare Abgrenzung zu Menschenhandel und Zwangsprostitution, die dadurch besser verfolgt und bestraft werden können. Wenn Sexarbeiter_innen keine strafrechtliche Verfolgung droht, ist es ihnen zum Beispiel möglich, den Strafverfolgungsbehörden dabei zu helfen, Menschenhändler_innen und deren Opfer zu identifizieren.

SEITE 6/9 Neben Amnesty sind auch Organisationen wie Human Rights Watch, Open Society Foundations, Global Alliance Against Traffic in Women, Anti-Slavery International und die International Labour Organisation der Ansicht, dass der Entkriminalisierung eine wichtige Rolle zukommt. Sie ermöglicht es Sexarbeiter_innen, ihre Rechte wahrzunehmen und einzufordern und kann dabei helfen, Menschenrechtsverletzungen, denen Sexarbeiter_innen ausgesetzt sind, zu beenden. Dies betrifft auch den Menschenhandel und Zwangsprostitution. 2.3 Was sollten Regierungen laut Position von Amnesty tun, um Sexarbeiter_innen zu schützen? Die Position enthält folgende Empfehlungen für Regierungen: Abschaffung aller strafrechtlichen und sonstigen Sanktionen für Sexarbeit, da die Kriminalisierung zur Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung beiträgt und dazu führen kann, dass Sexarbeiter_innen keinen Zugang zur Justiz erhalten. Sicherstellung, dass alle Menschen in der Lage sind, ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, zu denen auch Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten gehören, wahrzunehmen, damit niemand zum Überleben auf Sexarbeit angewiesen ist. Abkehr von gesetzlichen Bestimmungen zur Sexarbeit in Form von Auffangtatbeständen, nach denen die meisten oder alle Aspekte der Sexarbeit strafbar sind, hin zur Fokussierung auf Bestimmungen, die Schutz vor Zwang in Form von Menschenhandel, Ausbeutung und Missbrauch bieten und die Ausbeutung von Kindern im Sexgewerbe verhindern. Bekämpfung von Geschlechterstereotypen und aller Arten von Diskriminierung und struktureller Ungleichheit, die dazu führen können, dass marginalisierte Gruppen unverhältnismäßig häufig zu Sexarbeit gezwungen sind.

SEITE 7/9 Beteiligung von Sexarbeiter_innen an der Ausarbeitung von Gesetzen und Bestimmungen, die direkte Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Sicherheit haben. Schaffung von Rahmenbedingungen, die es Menschen ermöglichen, auf ihren Wunsch aus der Sexarbeit auszusteigen. Gewährleistung des gleichberechtigten Zugangs zu Justiz, Gesundheitsversorgung und anderen staatlichen Leistungen sowie des gleichberechtigten Schutzes durch das Gesetz. 2.4 Warum fordert Amnesty die Entkriminalisierung von Sexarbeit und nicht die Legalisierung, bzw. wo ist der Unterschied? Sexarbeit zu entkriminalisieren bedeutet, dass Sexarbeiter_innen im Rahmen ihrer Tätigkeit nicht länger gegen das Gesetz verstoßen egal, ob es sich um die Tätigkeit an sich handelt, das Anmieten von Räumlichkeiten oder den Zusammenschluss mit anderen Sexarbeiter_innen. Dadurch können sie Gewalt und Menschenrechtsverletzungen melden und zum Beispiel Schutz bei der Polizei suchen. Der Begriff Legalisierung beschreibt die direkte Regulierung und Kontrolle eines Gewerbes durch den Staat, beispielsweise durch Gesetze. Amnesty lehnt eine Legalisierung von Sexarbeit nicht grundsätzlich ab. Es muss dabei jedoch sichergestellt sein, dass alle Gesetze, die in diesem Zusammenhang verabschiedet werden, auf die Förderung der Rechte von Sexarbeiter_innen ausgerichtet sind und internationalen Menschenrechtsnormen entsprechen. Gesetze zu Ausgestaltung von Arbeitsstätten für Sexarbeit oder verpflichtende HIV- Tests bzw. Tests für sexuell übertragbare Infektionen können beispielsweise diskriminierend wirken und zu einem Zweiklassensystem führen, in dem Sexarbeiter_innen, die die Richtlinien nicht erfüllen können, abermals kriminalisiert werden. Dies würde zum Beispiel Sexarbeiter_innen betreffen, die in einem nicht als legal vorgesehenen Arbeitsumfeld tätig sind und beispielsweise auf der Straße arbeiten.

SEITE 8/9 Für schwere Menschenrechtsverbrechen wie Zwangsprostitution und Menschenhandel fordert Amnesty die Kriminalisierung. Sie müssen strafrechtlich verfolgt und bestraft und den Opfern geholfen werden. Opfer von Zwangsprostitution und Menschenhandel sind aus der Perspektive von Amnesty keine Sexarbeiter_innen. In Gesprächen mit Sexarbeiter_innen haben sich die meisten für eine Entkriminalisierung von Sexarbeit ausgesprochen, jedoch Bedenken gegenüber einer Legalisierung geäußert. Diese haben ihren Ursprung nicht nur in dem bestehenden Misstrauen gegenüber Strafverfolgungsbehörden, sondern auch in der Befürchtung, dass das falsche Modell einer Legalisierung sie noch weiter entmachten oder sogar Menschenrechtsverletzungen nach sich ziehen könnte. 2.5 Wie können die Rechte von Frauen durch die Entkriminalisierung von Sexarbeit geschützt werden, ohne dass man gleichzeitig genau die gesellschaftlichen Faktoren zementiert, die sie in die Sexarbeit zwingen? Die von Amnesty vorgeschlagene Position zielt darauf ab, Sexarbeiter_innen einen besseren Menschenrechtsschutz zu verschaffen. Dazu fordert Amnesty für sie verbesserte Schutzmaßnahmen und mehr Selbstbestimmung. Das gilt für alle Sexarbeiter_innen: Frauen, Männer und Trans*personen. Obwohl nur wenige verlässliche Daten vorliegen, herrscht generell Einstimmigkeit darüber, dass Cis-Frauen (Frauen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt) in den meisten Länder die Mehrheit der Sexarbeiter_innen stellen. Für den Einstieg von Frauen in die Sexarbeit gibt es zahlreiche soziale, politische und wirtschaftliche Faktoren. Die besonders gewichtigen sind Geschlechterungleichheit, Diskriminierung und wirtschaftliche Not. Amnesty ist sich dieses Zusammenhangs bewusst. Wir sind jedoch der Ansicht, dass die Lösung dieses Problems nicht darin bestehen kann, die Frauen dafür zu bestrafen, dass sie keine andere Wahl haben, oder Strafgesetze und Polizeimaßnahmen dazu einzusetzen, ihr Leben noch unsicherer zu machen. Die Kriminalisierung von Sexarbeiter_innen erschwert es Sexarbeiter_innen, einen anderen Beruf zu ergreifen. Die von uns vorgeschlagene Position beinhaltet eine Reihe

SEITE 9/9 von Maßnahmen, die zusätzlich zur Entkriminalisierung von staatlicher Seite ergriffen werden müssen. Dazu gehören Maßnahmen, die Frauen und andere schutzbedürftige Gruppen stärken, damit niemand auf Sexarbeit angewiesen ist, um den eigenen Lebensunterhalt sichern zu können. Zum Beispiel müssen Staaten einen angemessenen und zeitnahen Zugang zu Unterstützungsleistungen ermöglichen, zu denen auch Sozialhilfe, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten und / oder alternative Beschäftigungen gehören. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Sexarbeiter_innen gezwungen werden sollen, derartige Angebote in Anspruch zu nehmen.