DIE DOLOMITEN-VEGETATION ALS SYSTEM

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Acta Bot. Croat. 54, 89-96 CODEN: ABCRA 2 ISSN 0365-0588 DIE DOLOMITEN-VEGETATION ALS SYSTEM With Summary in English UDC 581.526.2(45)=30 Original scientific paper SANDRO PIGNATTI (Dipartimento di Biologia Vegetale Universitä di Roma "La Sapienza") Eingegangen am 15. December 1994. Die Möglichkeit, Ursprung und Struktur der Vegetation durch die Aufstellung von Fliessdiagrammen zu klären, werden am Beispiel der Dolomitenvegetation untersucht. Es wird ein erstes Fliessdiagramm vorgeschlagen, das die allgemeinen Beziehungen im Rahmen des Dolomiten-Ökosystems darstellt, ferner zwei weitere Diagramme, welche die ökophysiologischen und ökomorphologischen Selektionsprozesse zeigen. Durch Selektion wird die Gebietsflora auf eine niedrige Zahl (etwa 100 Arten) reduziert, die an die besonderen Lebensverhältnisse der Dolomiten-Umwelt angepasst sind. Dadurch entsteht die Pflanzengemeinschaft der dolomitischen Umwelt. Einleitung Die Vegetation der Dolomiten ist eines der bezeichnenden Elemente der Pflanzendecke der Alpen. Sie besiedelt drei Substrate, die voneinander stark abweichen: Fels, Geröll und Hänge mit kurzer Grasnarbe, deren Vegetation in die oberen Syntaxa Potentilletalia caulescentis, Thlaspietalia rotundifolii und Seslerietea eingreiht werden kann. In dieser Studie werden wir hauptsächlich die Probleme der Seslerietea behandeln, auch wenn Fragestellung und Ergeb ACTA BOT. CROAT. VOL. 54, 1995 89

S. PIGNATTI nisse eine allgemeine Bedeutung haben, sodass sie auch für die anderen Syntaxa gültig sind. Der Versuch, die Probleme einer Vegetation darzustellen, stützt sich meistens auf die floristische Zusammensetzung und auf die Oekologie derselben. Das sind gewissermassen statische Merkmale der Vegetation. Wir wissen aber, dass die Vegetation etwas lebendiges ist und wie jedes Lebendige in ständiger Umwandlung. Wir können die Vegetation als System erfassen: durch ihre Zusammensetzung und Oekologie wissen wir aus welchen Komponenten das System besteht. Viel wichtiger wäre aber zu untersuchen, wie das System arbeitet, und wie aus dieser Arbeit die einzelnen Komponenten entstanden sind. Das erste Verfahren ist beschreibend, während das zweite die Möglichkeit der ökologischen Kausalanalyse öffnet. Bei der Untersuchung von Systemen kann man die Methoden und das Gedankengut der Thermodynamik verwenden. Alle Systeme unterliegen dem Entropie-Gesetz, d.h. streben unter natürlichen Bedingungen ihrem maximalen Entropie-Niveau (thermodynamisches Gleichgewicht) zu. Die dadurch bedingte Umwandlung kann man sehr gut durch mathematische Expressionen darstellen und interpretieren, z. B. im Falle einer chemischen Reaktion; dies aber nur im Falle isolierter Systeme (besser gesagt: von Systemen, die als isoliert erfasst werden können, da es wirklich isolierte Systeme in der realen Welt nicht gibt), die sich in mehr oder weniger linearer Art umwandeln. Lebendige Systeme (darunter auch die Vegetation) sind aber niemals isoliert: es handelt sich um offene Systeme, die imstande sind, sich in einem Zustand fern vom Gleigewicht zu erhalten. Dies geschieht dank einem ständigen Stoff- und Energie-Austausch mit der Umwelt, der durch Rückkoppelung (feedback) geregelt wird. Dadurch betreten wir das Gebiet der Komplexität. Komplexe Systeme sind extrem kompliziert wobei uns die symbolische Ausdrucksweise der Mathematik nicht mehr helfen kann. Ein günstiger Weg aus dieser Sackgasse ist die Verwendung einer besonderen Symbolik, die den offenen Systemen angepasst ist. Die wurde hauptsächlich im Gebiete der Sozialwissenschaften entwickelt: weit bekannt sind die Fliessdiagramme (flow diagrams), die als Basis der Prognosen im Rahmen der Problematik "Limits to growth" vom Club of Rome verwendet wurden. Andere Symbole wurden von Odum (1971 ) vorgeschlagen, und diese eignen sich u. E. besser für ökologische Probleme; wir werden uns also letzterer (mit einigen Variationen) bedienen. In dieser Studie werden wir versuchen, die Dolomitvegetation als komplexes System durch die Definition einiger Fliessdiagramme zu besprechen. Darstellung durch F 1i e s s d i a g r a m m e In einem offenen System kann man verschiedene Komponenten (Sub-Systeme), Prozesse und Beziehungen unterscheiden, die durch geeignete Symbo- 90 ACTA BOT. CROAT. VOL. 54, 1995

DIE DOLOMITEN-VEGETATION ALS SYSTEM a,) Q - e) YI} Fig. 1. Symbole für die Darstellung von Fliessdiagrammen. Sub-Systeme: a) Energiequelle, b) aktive und c) ruhende Abteilungen, d) Deponien (sink); dynamische Erscheinungen: e) Prozesse und Funktionen, f) Photosynthese, g) switch, h) rekursive Zyklen, i) bootstrapping (teils nach Odum 1971). len dargestellt werden. In Fig. 1 ist eine Uebersicht dieser Symbole gegeben, die hier kurz besprochen werden. Sub-Systeme: a) Energiequelle, steht am Anfang des Fliessdiagrammes und bezieht sich nicht nur auf Energie, sondern auf alle Ursachen, die das System im Rollen halten, z.b. in der Oekonomie das Geld. Eine besondere Energiequelle ist die Sonne, die mit doppelter Linie gekennzeichnet wird; b) aktive Abteilungen, in denen etwas geschieht, z. B. alle Lebewesen; c) ruhende Abteilungen, die grösstenteils für "storage" verwendet werden; d) Deponien (sink), am Ende einer Kette von Reaktionen oder Prozessen, bei denen es zu Dissipation von Materie und Energie kommt. ACTA BOT. CROAT. VOL. 54, 1995 91

S. PIGNATTI Dynamische Erscheinungen: e) Prozesse und Funktionen, f) Photosynthese, eine besondere Funktion die von Sonnenlicht aktiviert wird und als Grundlage aller Lebensprozesse (mit Ausnahmen chemosynthetischer Bakterien) betrachtet werden kann; g) "switch", bei dem eine Selektion zustandekommt; h) rekursive Zyklen, Prozesse, die sich immer nach einer bestimmten math. Funktion wiederholen; i) "bootstrapping", wenn das System in einen übergeordneten Zustand übergeht. Das Fliessdiagramm gibt die Beziehungen zwischen Subsystemen und Prozessen wieder, die mit Pfeilen dargestellt werden. Diese Pfeile bedeuten in der Regel Energieflüsse, können sich aber auch auf Materie oder Information beziehen. Allgemeine Struktur des Systems Die Entstehung der Dolomiten-Vegetation kann als dynamischer Vorgang dargestellt werden. In Fig. 2 wird versucht eine allgemeine Uebersicht über diesen Vorgang zu gewinnen. Freilich handelt es sich um ganz allgemeine Erscheinungen, und was hier beschrieben wird, könnte auch für andere Systeme gelten. Am Anfang eines Fliessdiagrammes steht die Quelle, welche die Energie spendet, die das System in Bewegung hält. Die Vegetation ist ein System das aus photosynthetischen Lebewesen besteht, daher handelt es sich in diesem Falle um Lichtenergie; die Quelle ist selbstverständlich die Sonne. Die Sonnenenergie wird für die Photosynthese verwendet; es handelt sich um eine Energieform, die in einem Zustand von niedriger Entropie die Erde erreicht und die für weitere Prozesse verwendet werden kann. Wie bekannt, nur ein Bruchteil Fig. 2. Überblick über die Prozesse, die zur Bildung der Dolomitenvegetation führen. 92 ACTA BOT. CROAT. VOL. 54, 1995

DIE DOLOMITEN-VEGETATION ALS SYSTEM dieser Energie (etwa 1 %) wird für die Synthese organischer Verbindungen in das System eingeleitet, während der Grossteil (über 98 %) in Wärme mit niedriger Temperatur umgewandelt wird; während der Nachtstunden wird sie im Raum ausgestrahlt und dadurch erliegt sie einem Dissipationsverfahren. Durch die Photosynthese wird die Biomasse der Vegetation erzeugt. Ein Parallelfall zur Photosynthese wird mittels evolutionärer Prozesse dargestellt, die zur Entstehung der Pflanzenarten führen. Ein wesentlicher Unterschied ist aber, dass sie nur indirekt von der Sonnenenergie abhängig sind. Sonne ist zwar notwendig für alle Pflanzen, aber man kann nicht annehmen, dass Sonnenlicht auf die Evolution einwirken könne, etwa im Sinne "viel Licht = viele neue Arten". Durch Evolution kommt die Biodiversität zustande; diese und die oben erwähnte Biomasse stellen die beiden wesentlichen Aspekte der Vegetation dar. Die Entstehung der Biodiversität bedingt als Folge, dass selektive Prozesse zustande kommen: die werden mit mehr Details in Fig. 3 beschrieben. Biomasse und Biodiversität bewirken das Entstehen einer besonderen Flora, die gewissermassen ein "floristischer pool" darstellt, aus dem die Dolomitenvegetation schöpfen kann. Hier kommt ein wichtiger feedback zwischen Pflanze und Boden zustande und dadurch entsteht ein weiterer selektiver Prozess, der in Fig. 4 besprochen wird. Als Folge der Produktion von Biomasse und Biodiversität kommen daher zwei selektive Prozesse zustande: der erste (Fig. 3) betrifft ökologische Artengruppen und der zweite (Fig. 4) morphologische Anpassungen der Arten. Das Diagramm von Fig. 2 in seiner Ganzheit entspricht einem System in Fliessgleichgewicht (steady state), das durchgehend neuen organischen Stoff und neue Arten bildet. Hier beginnt die Einwirkung von selektiven Prozessen, welche die eigentliche Zusammensetzung und Gestalt der Dolomitenvegetation bestimmen. ACTA BOT. CROAT. VOL. 54, 1995 93

S. PIGNATTI Fig. 4. Selektion der angepassten Morphologie in der Dolomitenvegetation. Selektionsprozesse Die Selektion ökologischer Artengruppen wirkt auf die Gesamtflora (Fig. 3). Nehmen wir an, wir hätten in den Dolomiten eine Flora (gesamter floristischer pool) aus etwa 1500 Arten: diese wird durch Aussenfaktoren bedingt. Die Arten können ganz allgemein in ökologische Gruppen eingeteilt werden, und zwar nach den Umweltbedingungen denen sie angepasst sind, etwa: kalt - warm trocken - feucht basisch - sauer Nehmen wir an, dass in diesem Falle eine Teilung in zwei gleiche Gruppen stattfände, da würde der pool von 1500 Arten auf 750-375 - 188 Arten schrumpfen. Numerisch ist es nicht gerade so, weil wir wissen, dass die Verhältnisse in der Natur nie so einfach sind. Neben Arten, die an eines der beiden Extreme angepasst sind, gibt es andere, die tolerant sind und unter beiden Bedingungen überleben können: anstatt einer 50 : 50 Teilung wäre daher eine in drei Gruppen etwa 33-33 - 33 wahrscheinlicher. In diesem Falle wäre der Gesamtpool folgendermassen zu teilen: 1500-500 - 166-56. Es ist auch nicht gesagt, dass die Anzahl der gegenübergestellten Gruppen notwendigerweise die gleiche sei: z. B. die basiphilen Arten sind wahrscheinlich zahlreicher als die azidophilen. Auch mit diesen Einschränkungen können wir annehmen, dass die Wahrheit irgendwie in der Mitte stehe, d.h. zwischen 188 und 56, und das ist ein bemerkenswerte Ergebnis. Tatsächlich kamen wir bei einer umfangreichen Analyse der Dolomitenvegetation der Alpen (P i g n a 11 i u. Pignatti 1975) auf eine Zahl von etwa 120 Arten, die als stete zu betrachten sind. Wir kommen daher zu einem ersten Schluss, u. zw. dass die Flora des Gebietes durch die Umweltfaktoren auf die Arten die an Kälte, 94 ACTA BOT. CROAT. VOL. 54, 1995

DIE DOLOMITEN-VEGETATION ALS SYSTEM Trockenheit und basischen Boden angepasst sind, reduziert wird; das sind etwa 100 Arten, die in Fig. 3 als KTB angegeben werden. Die Selektion der morphologischen Artengruppen (Fig. 4) ist das Ergebnis eines engen Zusammenspiels zwischen Produktion von Biomasse und Bodenbildung. Die Photosynthese wird von verschiedenen Artengruppen ausgeführt: in unserem Falle kommen hauptsächlich Rhizomgeophyten (G rh), kriechende Halbsträucher (Ch rept) und Horstpflanzen (H caesp) in Frage. Das sind Pflanzen, die durch drei gut getrennte Strukturen gekennzeichnet sind. Jeder der drei Grundtypen erzeugt Biomasse, die dann dem Boden einverleibt wird. Je stärker die Primärproduktion, desto mehr organischen Stoff kommt in dem Boden, desto fruchtbarer der Boden, desto bessere Bedingungen für die Primärproduktion: der feedback-loop ist geschlossen und dieses Verfahren wiederholt sich ein Jahr nach dem anderen als rekursiver Prozess. Hier wird entschieden, welche Anpassung unter den gegebenen Bedingungen die erfolgreichste ist. Die Selektionsprozesse der ökologischen und der morphologischen Artengruppen sollen nicht in einer Folge betrachtet werden, sondern sie geschehen eher gleichzeitig. Das Endergebnis ist die Bildung einer Pflanzengemeischaft, die aus etwa 100 Arten besteht, die überwiegend KTB und H caesp sind, und das ist es gerade was wir in der Dolomitenvegetation feststellen können. Schlussfolgerungen Die Dolomitenvegetation ist das Ergebnis eines Evolutionsprozesses, der aus zwei Auswahlkriterien besteht: ökophysiologische und ökomorphologische Selektion. Dadurch kommen die besondere Beschaffenheit und Mannigfaltigkeit der Dolomitenvegetation zustande. Grasartige Horstpflanzen, die an Kälte, Trockenheit und basischen Boden angepasst sind, werden ausgewählt und überwiegen in der Dolomitenvegetation. Die Gesetzmässigkeit der selektiven Prozesse scheint eine Folge der allgemeinen Struktur des Vegetations-Systems zu sein. Literatur Odum H.T., 1971: Environment, Power and Society. Wiley, New York. Pignatti E. and S., 1975: Syntaxonomy of the Sesleria varia - grasslands of the calcareous Alps. Vegetatio 30, 5-14. ACTA BOT. CROAT. VOL. 54, 1995 95

S. PIGNATTI SUMMARY DOLOMITE VEGETATION AS A SYSTEM Sandro Pignatti (Department of Plant Biology, University of Rome "La Sapienza") Origin and structure of vegetation on dolomite are interpreted on the basis of flow diagrams. The first diagram visualizes general relations among the principal components of the dolomite system; the following diagrams deal with processes of ecophysiological and ecomorphological selection. Environmental factors are reducing the available floristic stock to a relatively low number of species (ca. 100), which are particularly adapted to ecological conditions of the site. In this way the floristic and biological characters of dolomite communities can be better understood. SAŽETAK VEGETACIJA NA DOLOMITU KAO SUSTAV Sandro Pignatti (Zavod za biologiju bilja, Sveučilište u Rimu) Vegetacija na dolomitu poslužila je kao primjer istraživanja mogućnosti da se podrijetlo i struktura vegetacije razjasne pomoću "flow" dijagrama. Prvi dijagram prikazuje opće odnose unutar dolomitnog sustava, dok slijedeća dva dijagrama pokazuju selektivne procese na ekofiziološkoj i ekomorfološkoj osnovi. Ta selekcija smanjuje raspoloživu količinu vrsta mjesne flore na relativno nizak broj (oko 100 vrsta), te su vrste osobito prilagođene na specifične životne uvjete dolomitnog okoliša. Na taj se način izgrađuje biljna zajednica u dolomitnom okolišu. Prof Dr. Sandro Pignatti Dipartimento di Biología Vegetale Universitá di Roma "La Sapienza" 00185 Roma, Italia 96 ACTA BOT. CROAT. VOL. 54, 1995