Kunstvolle Anarchie Der andere Schiller und seine»bürgergemeinheit«

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Transkript:

Dieter Brumm Kunstvolle Anarchie Der andere Schiller und seine»bürgergemeinheit«wer sich auf die Suche nach Friedrich Schillers Gedanken zu Staat und Gesellschaft macht, stösst auf komplexe Vielfalt: der größte Teil seines Werks, der ihn bekannt (und zeitweise zum `Nationaldichter ) gemacht hat die Dramen spiegeln moralphilosophisch gesellschaftliches Verhalten wie Herrschsucht, übersteigerten Individualismus, Unterdrückung und Befreiung nicht selten auch als poetisch verschlüsselte Kritik an bestehenden Machtstrukturen. So hat er wohl selbst in seiner Ode an die Freude die provokative Zeile: Bettler werden F ü r s t e n b r ü d e r in das weniger anstössige A l l e Menschen werden Brüder geändert. Zugleich war Schiller aber auch Historiker: auf Vorschlag von Goethe erhielt er im Jahr der französischen Revolution eine freilich unbezahlte Professur in Jena. Schließlich entwickelte er in der Auseiandersetzung mit Philosophen von Platos Idealem Staat über Kant bis Wilhelm von Humboldt seine besondere Theorie des Staates: vor allem in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793/4). In den 200 Jahren seit seinem Tod gab sein anstößiger Idealismus Anreiz zu Reflexionen; in den meisten der zahllosen Deutungen stand seine aus eigenen Erfahrungen mit deutschen Staaten gespeiste Skepsis nicht im Vordergrund. Ohne mich in der Historie dieser Deutungen zu verlieren und ohne den zahlreichen Analysen eine weitere hinzufügen zu wollen, geht es mir um seine in Essays und Briefen zu findenden Gedanken über das Zusammenleben von Menschen und um die Frage, wie weit seine Ideen für unser 21. Jahrhundert noch relevant sein können. In seinem Text Über Völkerwanderung, Kreuzzüge und Mittelalter schreibt Schiller: Durch das ganze Gebiet der Geschichte sehen wir die Entwicklung der Staaten mit der Entwicklung der Köpfe einen sehr ungleichen Schritt machen. Staaten sind jährige Pflanzen, die in einem kurzen Sommer verblühen und von der Fülle des Saftes rasch in die Fäulnis hinübereilen. Aufklärung ist dagegen eine langsame Pflanze, die zu ihrer Zeitigung einen glücklichen Himmel, viele Pflege und eine lange Reihe von Frühlingen braucht. Aus seiner berühmten Jenaer Antrittsvorlesung mit dem Titel Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte im Revolutionsjahr 1789 klang das noch ganz anders: Endlich unsere Staaten mit welcher Innigkeit, mit welcher Kunst sind sie ineinander verschlungen! Wieviel dauerhafter durch den wohltätigen

Zwang der Not als vormals durch die feierlichsten Verträge verbrüdert? Den Frieden hütet jetzt ein ewig geharnischter Krieg und die Selbstliebe eines Staats setzt ihn zum Wächter über den Wohlstand des andern. Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber hoffentlich nicht mehr zerfleischen.unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich ohne es zu wissen oder zu erzielen alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Was in unseren Ohren wie die Prophetie einer Europäischen Union klingt, machte Schiller nicht nur im akademischen Bereich berühmt er übersprang dabei auch die eigene Skepsis, die er schon sieben Jahre zuvor in seinem ersten Drama Die Räuber gezeigt hatte. Mit der Gestalt des Franz Moor stellte er sich zwar auf die Seite der französischen Aufklärungsphilosophie und ihrem Abscheu vor der Unterdrückung einfachster Menschenrechte durch vernunftlose Herrscher. Doch er folgte nicht ihrer Entthronung Gottes und der Absage an jegliche metaphysische Bestimmung des Menschen. Als Selbstdenker, wie er sich im Unterschied zu den Philosophen und Weltmännern bezeichnet, die auf dem politischen Schauplatz das Schicksal der Menschheit verhandeln, geht es ihm um die Grundsätze, durch welche sich die Vernunft überhaupt bei einer politischen Gesetzgebung leitet (2.Brief). Dann nämlich hebt in seinen Augen der Mensch den Naturstaat auf der nur aus Kräften, aber nicht aus Gesetzen existiert und wagt es, die Existenz der Gesellschaft an ein bloß mögliches Ideal von Gesellschaft zu binden. Eine erste solche Ausprägung sieht er in der griechischen Gesellschaft der Antike: So hoch die Vernunft auch stieg, so zog sie doch immer diematerie liebend nach sie zerlegte zwar die menschliche Natur, aber die ganze Menschheit fehlte in keinem einzigen Gott. Diese Erscheinung der griechischen Menschheit war unstreitig ein Maximum, das auf dieser Stufe weder verharren, noch höher steigen konnte. (6.Brief) Freilich findet sich in diesem gelobten Gesellschaftsmodell der griechischen Antike kein Platz für die Realität der Unterprivilegierten oder Sklaven ohne die keine Akropolis hätte gebaut werden können Wie dagegen das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen der Gesellschaft seiner eigenen Zeit beschaffen war, sieht Schiller am Beispiel der Arbeit: Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das ihn umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft, zum Geschäftsgeist. (eb Kolloquium Schiller in Europa heute 2015 Dieter Brumm: Kunstvolle Anarchie S. 2

Zwar meinte der junge Schiller noch, dass aus dem Meer der Verwüstung, dem Elend abgewonnen neues fruchtbares Land entsteht: BÜRGERGEMEINHEIT und dass unser alle Schätze sind, welche Fleiss und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben (Jenaer Rede), doch nur fünf Jahre nach seiner enthusiastischen Antrittsvorlesung schreibt er in den Briefen: Das jetzige Zeitalter, weit entfernt, uns diejenige Form der Menschheit aufzuweisen, welche als notwenige Bedingung einer moralischen S t a a t s v e r b e s s e r u n g erkannt worden ist, zeigt uns vielmehr das direkte Gegenteil davon.(7.brief) Und er fragt: Woran liegt es, dass wir immer noch Barbaren sind?... Wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? Man müsste also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergibt.. dieses W e r k z e u g i s t d i e s c h ö n e K u n s t. Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er nicht. Er kann den Künstler erniedrigen, aber die Kunst kann er nicht verfälschen, denn: Kunst wie Wissenschaft erfreuen sich einer absoluten Immunität von der Willkür der Menschen.(8./9.Brief) K u n s t als W e r k z e u g der Staatsverbesserung, weil die abhängige Vernunft die den Staat kritisch hinterfragen und verbessern sollte selbst wieder von eben diesem Staat reglementiert wird: ein nicht nur für das 18. Jahrhundert revolutionärer Gedanke. Freilich Schillers Definition der Kunst als Werkzeug könnte in die Irre führen: als gäbe es so ein Instrument konkreter Einflussnahme auf Staatsgeschäfte, vergleichbar der Rolle von Religion in Gottesstaaten. Kunst entzieht sich dem Reich der Zwecke und Geschäfte; sie ist für Schiller das Reich der Freiheit, der `lichten Vernunft, ein dialektisches Ideal: Politik soll i n und d u r c h Kunst zugleich verankert und geläutert werden. Angesichts der gesellschaftlichen Realität, die Schiller beklagt, wirkt dies Ideal freilich wie eine Fluchtburg. In einem Brief an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg schreibt er 1793: Wäre der ausserordentliche Fall eingetreten, dass die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das G e s e t z auf den Thron erhoben und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen Abschied nehmen und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der M o n a r c h i e d e r V e r n u n f t alle meine Tätigkeit widmen. Aber ich bin soweit entfernt, an den Anfang einer Regeneration im Politischen zu glauben, dass mir die Ereignisse der Zeit vielmehr alle Hoffnungen dazu auf Jahrhunderte benehmen. Doch wie verhält sich Schillers Kunstideal vom wahrhaft Schönen zur Kunst in ihrer realen Gestalt als Dichtung? Im Unterschied zur griechischen Antike, wo er etwa bei Homer sehen will, dass der seine Welt gleichsam naiv spiegeln konnte, findet er den zeitgenössischen Künstler gezwungen, die Realität kritisch zu reflektieren: Rechenschaft über seine eigene Kolloquium Schiller in Europa heute 2015 Dieter Brumm: Kunstvolle Anarchie S. 3

Rolle abzulegen. Das ist für Schiller die Folge der E n t f r e m d u n g v o n d e r N a t u r und von sich selbst durch die Entwicklung der Z i v i l i s a t i o n. Würde der Dichter sich auf deren Abbildung und Nachahmung beschränken, würde er damit die Wahrheit der Kunst zerstören. Ein großer Künstler des 20. Jahrhunderts., P a u l K l e e, hat das auf den Punkt gebracht, als er schrieb: Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder Kunst macht sichtbar. In seinem Text Über naive und sentimentalische Dichtung findet Schiller nur zwei Möglichkeiten, den Widerspruch zwischen Realität und Ideal darzustellen: als E l e g i e oder S a t i r e auf der einen Seite, als I d y l l e (die den Widerspruch einfach aufhebt) auf der anderen. Angewandt auf die Trennung zwischen Idealisten und Realisten definiert Schiller: Wenn der Realist in seinen politischen Tendenzen den W o h l s t a n d bezweckt gesetzt, dass es auch von der moralischen Selbständigkeit des Volks etwas kosten sollte so wird der Idealist selbst auf Gefahr des Wohlstands, die F r e i h e i t zu seinem Augenmerk machen. Freiheit als Ideal erscheint also abgehoben von beeinträchtigender auch politischer Realität. Sie ist nur durch sich selbst bestimmt, sagt Schiller, denn sie fliesst aus dem Wesen der Vernunft, die in ihrem praktischen Gebrauche Autonomie der Bestimmungen unnachlässlich fordert. (Kallias-Briefe) Während also die Welt des Realisten ein wohlangelegter Garten ist, worin alles nützt, alles seine Stelle verdient und, was nicht Früchte trägt, verbannt wird, ist die Welt unter den Händen des Idealisten eine weniger benutzte, aber in einem größeren Charakter ausgeführte N a t u r. (Über naive und sentimentalische Dichtung). N a t u r versteht Schiller dabei in ihrer tieferen Bedeutung: nicht bloß als sinnlich Erfahrbare oder als Objekt von Naturwissenschaft, der er die absolute Unmöglichkeit attestiert durch Naturgesetze die Natur selbst zu erklären (Über das Erhabene). Sie ist das, was durch sich selbst ist, während Kunst durch Regeln entsteht, die sie sich selbst gibt. Immanuel Kant hat in seiner Kritik der Urteilskraft den treffenden Satz geprägt: Natur ist schön, wenn sie aussieht wie Kunst; Kunst ist schön, wenn sie aussieht wie Natur. In Schillers Reflexionen über Kunst und die so umfassend verstandene Natur werden die Künstler zu den wahren Naturschützern; er schreibt: Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die B e w a h r e r der N a t u r. Wo sie dieses nicht ganz mehr sein können und schon in sich selbst den zerstörenden Einfluß willkürlicher und künstlicher Formen erfahren oder doch mit demselben zu kämpfen gehabt haben, da werden sie als die Z e u g e n und als die R ä c h e r der Natur auftreten. Sie werden entweder Natur s e i n, oder sie werden die verlorene s u c h e n.jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter. (Über naive und sentimentalische Dichtung) Heute hört sich das fast schon wie Ansätze zu einem ökologischen Manifest an. Kolloquium Schiller in Europa heute 2015 Dieter Brumm: Kunstvolle Anarchie S. 4

Weil die Künstler, die Dichter aber nicht aus der Zeit fallen, sondern mit den Verhältnissen in der Gesellschaft konfrontiert sind, in der sie leben, unterliegt auch ihre Kunst der Dialektik zwischen Bewahren und kritischem Erweitern oder Erneuern. Den Gesang der französischen Revolution noch im Ohr die einerseits politische Freiheit neu legitimiert, sich andererseits aber nicht in Schillers Ideal von Vernunft verankert hatte blieb er skeptisch, ob damit die langsame Pflanze Aufklärung schon weit vorangekommen wäre. So schreibt er in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen: Wie verwahrt sich aber der Künstler vor den Verderbnissen seiner Zeit, die ihn von allen Seiten umfangen? Wenn er ihr Urteil v e r a c h t e t Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Diese Dialektik gilt auch und gerade! für den Staat. Schiller unterscheidet drei Formen dieser Institution menschlichen Zusammenlebens: Im d y n a m i s c h e n Staat der Rechte sind Menschen konkurrierenden Kräften gleich und begrenzen damit gegenseitig ihre Interessen; es gilt das Recht des Stärkeren so wie das in unseren Tagen die Bankenkrise brutal vorexerziert. Im e t h i s c h e n Staat der Pflichten gilt die Majestät des Gesetzes, dem sich das Individuum zu unterwerfen hat, auch wenn sie seinen freien Willen fesselt gleichgültig, auf welche Weise diese Gesetze zustande gekommen sind. Im ä s t h e t i s c h e n Staat des schönen Umgangs dagegen erscheint der Mensch dem Menschen nur als Objekt des freien Spiels: Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reichs. Nur so kann der Staat für Schiller Gesellschaft w i r k l i c h m a c h e n: weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht. Schiller hat seine Idee von der Um-Bildung der Gesellschaft in einen ästhetischen Staat ohne Herrschaft und Vorzug zwar nicht politisch definieren wollen, gleichwohl bietet dieser schöne, mit dem Werkzeug der Kunst entwickelte Staat das Bild einer k u n s t v o l l e n A n a r c h i e. Als utopisch hat er diesen Staat selbst gesehen: Am Ende des 27. (und letzten) seiner Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen stellt er die Frage: Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele; der Tat nach möchte man ihn wohl nur wie die reine Kirche und die reine Republik in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden Auch wenn der ästhetische Staat als anstößiges Produkt der Reflexion nur eine Scheinexistenz führt, möchte Schiller ihn zum Bestandteil politischer Kunst machen. In einem Brief an Goethe schreibt er 1797: Zweierlei gehört zum Poeten und Künstler: dass er sich über das Wirkliche erhebt und dass er innerhalb des Sinnlichen stehen bleibt. Wo beides verbunden ist, da ist ästhetische Kunst. Spätestens hier stellen sich einige Fragen: nicht nur angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen der inzwischen vergangenen 200 Jahre, sondern auch an den poetischen Kolloquium Schiller in Europa heute 2015 Dieter Brumm: Kunstvolle Anarchie S. 5

Philosophen Schiller selbst. Im Umgang mit seiner Staatstheorie spiegelt sich ja das wechselvolle Verhältnis zwischen Staat und Kunst auch in der Realität. Das reicht von Nietzsches Spott über Schiller als Moraltrompeter von Säckingen bis zur Vereinnahmung durch Nazis und deren Lautsprecher Josef Goebbels, der 1934 ausrief: Hätte Schiller in unserer Zeit gelebt, er wäre zweifellos der große dichterische Vorkämpfer unserer Revolution geworden. Tatsächlich wurde die NS `Staats-Kunst zur Unterdrückung aller Freiheit. Hat sich aber trotz solcher Rückschläge die Kunst als angewandte Freiheit zumindest vom Staat emanzipiert, wenn sie schon nicht zu seiner Grundlage hatte werden können? Ist die langsame Pflanze der Aufklärung inzwischen zur Blüte gereift oder gar schon wieder im Verblühen begriffen? Zweifel sind angebracht auch für die selbst ernannten `fortgeschrittenen Demokratien, die staatliche Zensur abgeschafft und zumindest Meinungsfreiheit etabliert haben wollen. Vorgeblich zum `Schutz der Freiheit wird da die Überwachung jedes einzelnen Bürgers perfektioniert bis hin zu der globalen NSA-Datei der Amerikaner oder raffinierten Filtern im Internet. Auch wenn Schiller den real existierenden Staat schon als ein mehr oder weniger notwendiges Übel betrachtet hat: solche Entwicklungen konnte er nicht ahnen. Wohl aber sah der Dichter Philosoph in seinem 2. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen (in dem er bekennt: ich möchte nicht gern in einem anderen Jahrhundert leben und für ein anderes gearbeitet haben) eine besondere Beeinträchtigung von Kunst: Der Lauf der Begebenheiten hat dem Genius der Zeit eine Richtung gegeben, die ihn mehr und mehr von der Kunst des Ideals zu entfernen droht:.. Jetzt herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der N u t z e n ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lärmenden Markt des Jahrhunderts. Selbst der philosophische Untersuchungsgeist entreisst der Einbildungskraft eine Provinz nach der anderen und die Grenzen der Kunst verengen sich, je mehr die Wissenschaft ihre Schranken erweitert. Schiller wird mit dieser Analyse seiner Zeit zum Hell-Seher oder müsste man besser sagen: Schwarz-Seher einer Entwicklung der Gesellschaft, die 200 Jahre nach seinem Tod, nach Industrialisierungsschüben, Weltkriegen um ökonomische Ressourcen und ideologische Macht immer noch anhält. Kunst, statt Werkzeug für den ästhetischen, also wahrhaftig freien Staat zu sein nur noch als Ware wie andere Waren gehandelt und auf ihren `Nutzen reduziert, wird dem Technikwahn und den Götzen der Finanzmärkte geopfert. Sie verliert mit der Dimension der Freiheit ihre gesellschaftliche Bedeutung und ihren immanenten Sinn. Statt dessen wurde und wird von kommerziell bestimmter Wissenschaft erst der Mensch zum Werkzeug, zur Maschine umgebaut und soll nun ` Humanismus stört nur bei dieser Kolloquium Schiller in Europa heute 2015 Dieter Brumm: Kunstvolle Anarchie S. 6

Abwicklung umgekehrt durch Maschinen, Computer überflüssig gemacht werden. (Ein Direktor des Internet-Dienstes `Google erklärte kürzlich: Unsere Computer-Kompetenz wird uns über unsere Humanität hinaustragen und erlauben diese Beschränkungen unseres biologischen Körpers und Gehirns zu überwinden. Also wird es keinen Unterschied mehr zwischen Mensch und Maschine geben.) Prophetisch schreibt Schiller: Erwartungsvoll sind die Blicke der Philosophen auf den politischen Schauplatz geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das große Schicksal der Menschheit verhandelt wird. Einer von ihnen, der große Humanist und Psychotherapeut Erich Fromm, hat in seinem zentralen Werk Haben oder Sein? die verhängnisvolle Entwicklung des modernen Menschen vom homo sapiens zum homo consumens beschrieben. Doch Schiller ist kein Utopist. Die B ü r g e r g e m e i n h e i t, die er in seiner Schrift über Völkerwanderung entstehen sieht, wenn die Sklaven des Ackers zu Menschen gedeihen und von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der Gesetze einen Übergang bahnen, bleibt für die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ohne konkrete Konturen. Zwar sieht er in der Kunst eine Tochter der Freiheit, die nicht von der Notdurft der Materie, sondern von der Notwendigkeit der Geister ihre Vorschrift empfangen soll, aber den Weg zu einer Bürgergemeinheit, in der Kunst und Kultur die Maßstäbe setzen und nicht ökonomischer Nutzen oder die Verwertbarkeit von allem und jedem zeigt uns der Selbstdenker nicht. Sein anstössiger Idealismus will keine politischen Konzepte vermitteln, sondern zur Reflexion aufrufen: Lebe mit deinem Jahrhundert, schreibt er im 9. Brief, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen was sie bedürfen, aber nicht, was sie loben. Kolloquium Schiller in Europa heute 2015 Dieter Brumm: Kunstvolle Anarchie S. 7