abweichen können (interindividuelle Variabilität). Auch laufen einzelne biologische Alterungsprozesse nicht alle zur gleichen Zeit und auch nicht gleich intensiv ab (intraindividuelle Variabilität). Altern aus Sicht der Biologie 19 Verbleibende Lebenserwartung von Neugeborenen und 70-Jährigen in Deutschland 1881 2010 Abb. 2.1: Verbleibende Lebenserwartung von Neugeborenen und 70-Jährigen in Deutschland 1881 2010 (Statistisches Bundesamt, o. J.). Die Zunahme der Lebenserwartung von Neugeborenen bis in die 1960er Jahre beruht vor allem auf einer Abnahme der Säuglingssterblichkeit. Seitdem nimmt die verbleibende Lebenserwartung von Neugeborenen (durchgezogene Linie) wie auch von Menschen jenseits der 70 (gepunktete Linie) stetig zu. Leistungsfähigkeit im 75. Jahr (30. Jahr = 100 Prozent) Abb. 2.2: Die Leistungsfähigkeit der Organe des menschlichen Körpers eines 75-Jährigen im Vergleich zu einem 30-Jährigen (in Prozent) (nach Hahn, 1998).
20 Theorien des Alterns Biologische Alternstheorien Biologische Alter(n)stheorien versuchen entweder das Warum (ultimate Theorien) des Alterns zu erklären oder das Wie (proximate Theorien; Abbildung 2.3). Diesen zwei Perspektiven können wiederum zahlreiche Einzeltheorien zugeordnet werden (Ho et al., 2008). Mittlerweile wird allerdings davon ausgegangen, dass es nicht die eine biologische Alter(n)stheorie gibt, mit der alle Alter(n)sphänomene erklärt werden können und die eine befriedigende Antwort auf die Frage liefert, was darüber entscheidet, wie alt wir werden und wie alt wir werden könn(t)en. Die Theorien des Alterns bilden vielmehr ein Mosaik. Altern ist dabei eher das Resultat der Interaktion verschiedener Charakteristika und Prozesse als das eines einzelnen Prozesses (siehe auch Nature-Nuture -Debatte, Kapitel 1). Biologische Alternstheorien bilden ein Mosaik an Erklärungsansätzen für das wie und warum des Alterns. Warum altern wir? Wie altern wir? Ultimate Theorien verstehen Altern aus Sicht der Evolutionstheorie als Ergebnis eines deterministischen Programms und fragen nach dem Warum. Gründe für ein solches evolutionär entstandenes genetisches Alterungsprogramm sind in Fortpflanzungs- und Rekombinationsstrategien und in Strategien zur Begrenzung der Population zu sehen. Mit der Fortpflanzung auftretende Rekombinationen des Erbguts erlauben eine selektive Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen. Um eine Überpopulation zu vermeiden, sind dabei schnellere Zyklen des Generationswechsels mit kürzeren Lebensspannen, also früherer Alterung korreliert (Ho et al., 2008). Die Mehrzahl der Theorien dieser Perspektive befasst sich mit der Wirkung von Genen auf das biologische Altern im Sinne eines programmierten Zelltods oder von Genen, deren Produkte das Altern beschleunigen oder hi nauszögern. Sie werden deshalb auch als Theorien des programmierten Alterns bezeichnet. Proximate Theorien fragen nach dem Wie und sehen das Altern in der Regel als Folge stochastischer Abbau- und Schädigungsprozesse über die Zeit. In diesem Sinne ist Altern und schließlich Tod eine Folge abnehmender Reparaturkapazität für akkumulierende Fehler und Schäden auf zellulärer Ebene. Sie werden deshalb auch unter den Schadens- oder Schädigungstheorien zusammengefasst. Es besteht dabei keine einheitliche Systematik. Die proximaten Theorien beleuchten Altern auf unterschiedlichen Ebenen, wobei molekulare Theorien über-
Altern aus Sicht der Biologie 21 Abb. 2.3: Biologische Alternstheorien. wiegen. Auch sind die gleichen Theorien z. T. mit unterschiedlichen Namen belegt. Derzeit existieren etwa 300 Alternstheorien (Beyer, 1997), die jeweils unterschiedliche Phänomene des Alternsprozesses auf unterschiedlichen Ebenen von der Einzelzelle bis zu Funktionssystemen aufgreifen oder beschreiben. Theorien des programmierten Alterns Programmtheorien (auch genetische Theorien genannt) des Alterns entstanden aus Befunden, die zeigen, dass die Lebensspanne innerhalb von Säugetier-Spezies sehr konstant ist, zwischen Spezies aber stark variiert. Auch scheint die maximale Lebensdauer der Menschen in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden unverändert etwa 120 Jahre zu betragen. Gezeigt wurde außerdem, dass Menschen mit langlebigen Eltern und Großeltern länger leben als Personen, deren Eltern vor dem 50. Lebensjahr starben. Maximale Lebensdauer
22 Theorien des Alterns Die meisten Theorien dieser Perspektive gehen von genetisch gesteuerten Alterungsprozessen aus, die letztendlich zum Tode führen. So stirbt der Organismus nach der Hypothese der genetisch aktiv gelenkten Alterung nach einer programmierten Zeit. Sehr prominent ist die Hypothese, dass die maximale Zahl an Zellteilungen genetisch bestimmt und damit eine Art biologische Lebensuhr genetisch programmiert ist. Die meisten unserer Körperzellen werden regelmäßig ersetzt, wobei alternde, funktionell abbauende Zellen durch neue Zellen ersetzt werden, die deren Funktion übernehmen. Hayflick und Moorhead (1961) zeigten, dass, mit Ausnahme der Knochenmarksstammzellen und Krebszellen, Zellen in vitro eine begrenzte Teilungsfähigkeit haben. Nach Erreichen des Zellteilungs limits gehen diese Zellen in eine Art Ruhezustand über, der als zelluläre Seneszenz bezeichnet werden kann und mit dem Absterben der Zelle endet. So können sich Bindegewebszellen in einem Nährmedium bis zu 50-mal teilen, aber nicht öfter. Telomerhypothese Todesgene Im Zusammenhang mit den Befunden von Hayflick und Moorhead wurde als ein Erklärungsansatz die sogenannte Telomerhypothese entwickelt, die heute zu den populärsten Alternstheorien zählt. Voraussetzung für eine vollständige Replikation der Chromosomen ist es, dass ihre Enden verlängert werden. Hierfür sorgt das Enzym Telomerase. In allen ausgereiften Zellen des Menschen und der Säugetiere wird keine Telomerase mehr gebildet, sodass es mit jeder Replikation zu einer Verkürzung der Chromosomen kommt. Unterschreiten diese eine kritische Länge, sterben die Zellen ab. Viele Forscher sind auf der Suche nach sogenannten Todesgenen oder Langlebigkeitsgenen. So sind zum Beispiel Gene identifiziert worden, die mit erhöhtem Stoffwechsel und zellulären Stressreaktionen assoziiert werden können. Beide Phänomene werden als Ursachen oder Verstärker des zellulären Alterns aufgefasst. Die Existenz solcher Gene wird aber auch angezweifelt, da sie biologisch keinen Selektionsvorteil bieten und daher während der Evolution verloren gegangen sein müssten. Eine generelle Kritik an den genetischen Alternstheorien beruht auf Befunden, dass sich statistisch die Unterschiede in der Lebensdauer von Menschen nur zu maximal 30 % durch genetische Ursachen erklären lassen.
Altern aus Sicht der Biologie 23 Es gibt genetisch bedingte Krankheiten, die zum Teil durch Symptome gekennzeichnet sind, die dem natürlichen Alterungsprozess ähnlich sind, aber schon im frühen Erwachsenenalter oder sogar der Kindheit einsetzen (z. B. Progeria; s. Kasten). Durch das Studium dieser Krankheiten hoffen Forscher, den genetischen Grundlagen des Alterns auf die Spur zu kommen. Progeria Progeria bezeichnet verschiedene Krankheitsbilder, wie zum Beispiel das Werner-Syndrom und das Hutchinson-Gilford-Syndrom (HGPS), bei denen ein vorzeitiges körperliches Altern zu beobachten ist. Von diesen Krankheiten betroffene Patienten sind bei Geburt noch unauffällig, zeigen aber ab der Pubertät (Werner-Syndrom) oder sogar ab dem ersten Lebensjahr (HGPS) einen bis zu zehnmal schnelleren Alterungsverlauf. Dieser äußert sich u. a. in mangelndem Wachstum, Arterienverkalkung, Verlust des Fettgewebes in der Unterhaut, Osteoporose, Haarausfall und schwacher Stimme. Während beim Werner-Symptom auch ein verstärktes Tumorwachstum zu beobachten ist, ist dies bei HGPS nicht der Fall. Auch mit dem Altern oftmals assoziierte neurodegenerative Erkrankungen treten bei HGPS nicht auf. Die Lebenserwartung liegt bei etwa 50 (Werner-Syndrom) bzw. 14 Jahren (HGPS). Beim Werner-Syndrom handelt es sich um eine autosomalrezessiv vererbte Krankheit, bei der eine Mutation des Chromosoms 8 zu einer Verkürzung der Telomere in der DNA führt (s. Telomerhypothese), wodurch die Zellteilungsrate deutlich beschränkt wird. Eine kausale Therapie und Heilung ist nicht möglich, es können lediglich Symptome und Komplikationen auch präventiv behandelt werden. HGPS beruht hingegen auf einer Spontanmutation auf einem DNA-Strang des Chromosoms 1 (autosomal-dominat), die zu Defekten in einem Protein führt, das verschiedene regulatorische Funktionen bei der DNA-Transkription hat und den Zellkern stabilisiert (Lamin A oder Progerin ). Neuere Therapieansätze mit einem Enzym, das die Bildung von defektem Lamin A unterdrückt, scheinen in Tierversuchen vielversprechende Ergebnisse zu zeigen, sind beim Menschen aber noch in der Erprobungsphase.