Einschätzungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache C-59/11 (Association Kokopelli gegen Graines Baumaux SAS) 1

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Transkript:

Einschätzungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache C-59/11 (Association Kokopelli gegen Graines Baumaux SAS) 1 1. Worum geht es in dem Urteil und was hat der EuGH entschieden? In dem Urteil ging es im Wesentlichen um zwei Richtlinien, die Zulassung und den Vertrieb von Gemüse-Saatgut innerhalb der EU regeln: Richtlinie 2002/55/EG vom 13. Juni 2002 über den Verkehr mit Gemüsesaatgut: Diese Richtlinie regelt unter anderem, dass Gemüsesaatgut nur in den Verkehr gebracht werden, d.h. gehandelt werden darf, wenn die entsprechende Sorte in mindestens einem Mitgliedstaat amtlich zugelassen ist. Zugelassen werden darf eine Sorte nur, wenn sie wenn sie unterscheidbar, beständig und hinreichend homogen ist. Die Richtlinie sieht auch die Möglichkeit vor, dass Mitgliedstaaten von den Zulassungskriterien abweichen, wenn dies im Interesse der Erhaltung der pflanzengenetischen Ressourcen ist und die EU eine entsprechende Regelung trifft. Solche Ausnahmen können getroffen werden für Landsorten und andere Sorten, die traditionell in besonderen Regionen angebaut werden und von genetischer Erosion bedroht sind. Die entsprechende Sorten werden als Erhaltungssorten bezeichnet; damit sie zugelassen werden können, muss die Herkunft des Saatguts dieser Arten bekannt sein, der Handel kann nur für bestimmten Gebiete erlaubt werden und muss mengenmäßigen Beschränkungen unterliegen. Richtlinie 2009/145/EG enthält die in der Richtlinie über Gemüsesaatgut vorgesehenen Ausnahmeregelungen für zwei Typen von Sorten, einerseits Erhaltungssorten und andererseits die für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtete Sorten. Die Zulassung von Erhaltungssorten setzt den Nachweis einer bestimmten Mindestqualität hinsichtlich der Unterscheidbarkeit, Beständigkeit und Homogenität voraus. Außerdem darf entsprechendes Saatgut nur in den Ursprungsregionen oder ähnlichen Regionen angebaut und in Verkehr gebracht werden. Zudem unterliegt das Saatgut mengenmäßigen Beschränkungen. Die Verwendung von Sorten, die für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet wurden, ist weniger stark eingeschränkt, doch gelten engere Voraussetzungen für ihre Zulassung. Solchen Sorten dürfen nicht für den Anbau zu kommerziellen Zwecken geeignet sein und müssen speziell zum Anbau unter besonderen (z. B. klimatischen) Bedingungen gezüchtet worden sein. Die Frage, ob diese Richtlinien mit EuGH-Recht vereinbar sind, hatte dem EuGH ein französisches Gericht vorgelegt, der Cour d appel de Nancy. Diese Gericht war mit einem Rechtsstreit zwischen Kokopelli, einer französischen gemeinnützigen Organisation, die Saatgut von alten Sorten herstellt und vertreibt, und dem Saatgutunternehmen Graines Baumaux befasst. Das Unternehmen hatte im Jahr 2005 Klage wegen unlauteren Wettbewerbs gegen Kokopelli erhoben und von Kokopelli Schadensersatz in Höhe von 50 000 Euro und die Einstellung jeglicher Werbung für die von ihnen vertriebenen Sorten 1 Online unter http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=125002&pageindex=0&doclang=de&mode=re q&dir=&occ=first&part=1&cid=275985 1

verlangt. In erster Instanz wurde Kokopelli zur Zahlung von 10 000 Euro Schadensersatz verurteilt; Kokopelli zog darauf ebenso wie Graines Baumaux vor das Berufungsgericht. Das Urteil des ersten Gerichts hatte sich offensichtlich auf französische Gesetze gestützt, die ihren Ursprung im EU-Recht hatte. Daher legte das Berufungsgericht dem EuGH die Frage vor, ob u.a. die oben gennannten Richtlinie mit verschiedenen Prinzipien des EU-Rechts vereinbar sind, u.a. dem sog. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es handelt sich dabei um ein sogenanntes Vorabentscheidungsverfahren; nationale Gerichte, die über einen Rechtsstreit zu entscheiden haben, für den die Auslegung von Europarecht von Bedeutung ist, können dem EuGH Fragen zur Auslegung des europäischen Rechts vorlegen. Die Entscheidung des EuGH wird dann von dem nationalen Gericht bei der Entscheidung des Rechtsstreits berücksichtigt. Andere nationale Gerichte, die die gleiche Frage zu entscheiden haben, müssen ebenfalls die Entscheidung des EuGH berücksichtigen. Die für das Verfahren zuständige Generalanwältin, Juliane Kokott, hatte argumentiert 2, dass das in der Richtlinie 2002/55/EG niedergelegte Verbot, Saatgut von Sorten zu verkaufen, die nicht nachweislich unterscheidbar, beständig und hinreichend homogen sind sowie gegebenenfalls einen befriedigenden landeskulturellen Wert besitzen, wegen Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der unternehmerischen Freiheit, der Freiheit des Warenverkehrs sowie des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungültig sei. Diese Grundsätze sind alle im EU-Recht verankert. Im Gegensatz dazu entschied der EuGH, dass die genannten Richtlinien gültig sind. Da der EuGH das geltende Recht für gültig befunden hat, hat sich die Lage durch das Urteil zunächst nicht geändert, d h. weder verbessert noch verschlimmert. 2. Entscheidung des EuGH im Einzelnen Der EuGH hat die Richtlinien am Maßstab mehrerer allgemeiner Rechtsprinzipien und grundlegender Normen des EU-Rechts geprüft. Wichtige war insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. a) Verhältnismäßigkeit In dem Verfahren ging es zunächst um die Verhältnismäßigkeit der Richtlinien; die Generalanwältin hatte angenommen, die Richtlinien seien nicht verhältnismäßig. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ist ein wichtiger Grundsatz des EU-Rechts (und auch anderer Rechtsordnungen. Er besagt folgendes: Erstens muss jede staatliche Maßnahme geeignet sein, ihr Ziel zu erreichen. Zweitens darf es keine alternative Maßnahme geben, die gleich wirksam ist und gleichzeitig andere rechtlich geschützte Interessen weniger beeinträchtigt. Drittens ist Teil des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine sog. Abwägung, d.h. es wird geprüft, ob verschiedene Interessen (z. B. Grundrechte und Politikziele), die von Rechts wegen zu berücksichtigen sind, auch alle berücksichtigt wurden. Die durch eine Maßnahme 2 Die Stellungnahme der Generalanwältin findet sich unter http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=118143&pageindex=0&doclang=de&mode=r eq&dir=&occ=first&part=1&cid=275985 2

bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen. Die ersten beiden Elemente des Verhältnismäßigkeitsprinzips werden von Gerichten in der Regel gründlich geprüft; bei diesen Elementen geht es in erster Linie um eine faktische Einschätzung: ist eine Maßnahme nach wissenschaftlichen Erkenntnissen oder allgemeiner Lebenserfahrung geeignet ihr Ziel zu erreichen? Welche alternativen Maßnahmen sind denkbar bzw. werden von den Parteien in einem Rechtsstreit vorgeschlagen? Bei der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung Abwägung halten sich viele Gerichte zurück, weil sie der Meinung sind, dass eine Gewichtung unterschiedlicher, rechtlich geschützter Interessen in erster Linie die Sache des gewählten Gesetzgebers ist. In dem Kokopelli Fall hat der EuGH zunächst einleitend festgestellt, dass.der [EU]-gesetzgeber auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik über ein weites Ermessen verfügt,, und dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass die Rechtmäßigkeit einer in diesem Bereich erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein kann, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist. (Randnummer 39 des Urteils). Der EuGH stellt also von Anfang an fest, dass er sich bei der Prüfung, ob die Richtlinien verhältnismäßig sind, zurückhalten wird, weil bestimmte Fragen der Gesetzgeber zu entscheiden hat. Gleichzeitig sagt der EuGH jedoch, er habe zu prüfen, ob der [EU]-gesetzgeber bei der Prüfung der mit verschiedenen möglichen Maßnahmen verbundenen Belastungen neben dem verfolgten Hauptziel den betroffenen Interessen in vollem Umfang Rechnung getragen hat. (Randnummer 40 des Urteils) Letztlich prüft der EuGH also, ob der Gesetzgeber bestimmte rechtlich geschützte Interessen übersehen oder nicht berücksichtigt hat. Der EuGH prüft aber nicht, welche Ziele der Gesetzgeber verfolgen sollte. Hinsichtlich der Frage, ob die DUS-Kriterien für die Zulassung geeignet sind, die vom EU- Gesetzgeber verfolgten Ziele zu erreichen stellt der EuGH fest, dass die Gemüsesaatgut- Richtline als Ziele die Steigerung der Produktivität im Gemüseanbau und den freien Handel mit Saatgut innerhalb der EU hat und die dazugehörige Richtlinie über Erhaltungssorten der Erhaltung der pflanzengenetischer Ressourcen nennt. Der EuGH stellt wie gewöhnlich sehr kurz und knapp fest, dass einheitliche Zulassungsregelungen in der EU, die Prüfung von Saatgut vor Zulassung und die in der Erhaltungsrichtlinie festgesetzten Ausnahmen zur Erreichung dies Ziele geeignet seien. Speziell dazu, wieso die Regelungen in der Erhaltungs-Richtlinie geeignet sind, die genetische Vielfalt zu erhalten, sagt der EuGH nur: In dieser Hinsicht erweist sich eine solche durch die Richtlinie 2009/145 umgesetzte abweichende Zulassungsregelung für 3

Saatgut von Landsorten und anderen Sorten, die traditionell an besonderen Orten und in besonderen Regionen angebaut werden und von genetischer Erosion bedroht sind (Erhaltungssorten), sowie Saatgut von Sorten, die an sich ohne Wert für den Anbau zu kommerziellen Zwecken sind, aber für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, als geeignet, die Erhaltung der pflanzengenetischen Ressourcen zu gewährleisten. (Randnummer 49 des Urteils) Das heißt der EuGH begründet seine Meinung eigentlich gar nicht. Die Generalanwältin hatte allerdings dieselbe Meinung vertreten und diese ausführlich begründet. Zu der Frage, ob die Richtlinien für die Erreichung dieser Ziele auch erforderlich sind,.d.h. ob es andere Maßnahmen gibt, die für Kokopelli und andere weniger belastend sind und trotzdem die genannten Ziele erreichen, stellt der EuGH fest, dass der Unionsgesetzgeber annehmen durfte, dass die in der Richtlinie 2002/55 vorgesehene Zulassungsregelung erforderlich war, damit die landwirtschaftlichen Erzeuger eine hinsichtlich des Ertrags verlässliche und qualitätsvolle Produktion erreichen. (Randnummer 54 des Urteils). Annehmen durfte ist insofern eine interessante Formulierung, als der EuGH damit andeutet, dass diese Regelung nicht die einzige ist, die der Gesetzgeber denkbar hätte treffen können, dass aber die Auswahl eines bestimmten Instruments eben in den Händen des Gesetzgebers liegt. In Randnummer 59 des Urteils sagt der EuGH dementsprechend nochmals: insbesondere im Hinblick auf das weite Ermessen, über das der [EU-]gesetzgeber im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik verfügt und das wirtschaftliche Entscheidungen verlangt, bei denen er komplexe Prüfungen und Beurteilungen vornehmen muss durfte er berechtigterweise annehmen, dass andere Maßnahmen wie die Etikettierung es nicht erlauben würden, dasselbe Ergebnis zu erzielen. (Randnummer 59 des Urteils) Der EuGH begründet dies mit einer Analyse der Zulassungskriterien. Die Unterscheidbarkeit verschaffe landwirtschaftlichen Erzeugern die notwendigen Informationen in Bezug auf die Eigenschaften des unterschiedlichen Saatguts und erlaube ihnen eine Auswahl von Sorten, die einen bestmöglichen Ertrag gewährleistet. Das Kriterium der Beständigkeit gewährleiste, dass die Eigenschaften von Pflanzen eines zugelassenen Saatguts über die Jahre hinweg beständig bleiben. Das Homogenitäts-Erfordernis stelle sicher, dass alles unter einem bestimmten Namen verkaufte Saatgut die gleichen genetischen Merkmale aufweist, und, fördere dadurch den bestmöglichen Ertrag. Insgesamt stellen die DUS-Kriterien nach Ansicht des EuGH sicher, dass Saatgut einer Sorte die notwendigen Eigenschaften besitzt, um eine gesteigerte, qualitätsvolle, verlässliche und über die Zeit gleichbleibende landwirtschaftliche Erzeugung zu gewährleisten. 4

Die Generalanwältin hatte argumentiert, dass es keine gleich effektiven Maßnahmen wie die Zulassungsregelungen gebe, um zu verhindern, dass sich Abnehmer über die Qualität des Saatguts irren oder aus anderen Gründen, z. B. aufgrund des Preises, wegen Werbemaßnahmen oder aus Überzeugung, Saatgut verwenden, das nicht den Zulassungsbedingungen entspricht. Sie seien allerdings nicht erforderlich, um einen gemeinsamen EU-Markt für Saatgut herzustellen oder die End-Verbraucher zu schützen. Abschließend stellt der EuGH im Rahmen der Abwägung unterschiedlicher Interessen fest, dass, die Regelungen verhältnismäßig seien, auch wenn sie für einige Unternehmen oder Personen erhebliche negative wirtschaftliche Folgen haben. Er begründet dies damit, dass die in den Richtlinien 2002/55 und 2009/145 vorgesehene Zulassungsregelung, mit der insbesondere eine gesteigerte landwirtschaftliche Produktivität und der freie Verkehr des zugelassenen Saatguts gewährleistet werden soll, in Anbetracht der mit ihr verfolgten Ziele gleichzeitig die wirtschaftlichen Interessen der landwirtschaftlichen Erzeuger und die Interessen der Wirtschaftsteilnehmer, die zugelassenes Gemüsesaatgut in den Verkehr bringen, fördert (Randnummer 61 des Urteils) und dass in Anbetracht der Bedeutung, die das Ziel der Produktivität im Rahmen von Art. 39 AEUV [d.h. der gemeinsamen Agrarpolitik, Anmerkung CG.] hat, Maßnahmen wie die in Rede stehenden, die es erlauben, die Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und einen bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren zu gewährleisten, auch dann, wenn sie nachteilige wirtschaftliche Folgen für einige Wirtschaftsteilnehmer nach sich ziehen können, unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Interessen dieser Wirtschaftsteilnehmer nicht offensichtlich außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen. (Randnummer 68 des Urteils) Die wirtschaftlichen Interessen von Kokopelli und anderen seien durch die Ausnahmeregelungen in der Erhaltungsrichtlinie, die einen Vertrieb von Erhaltungssorten ermöglichten, ausreichend geschützt. Zwar gebe es dafür geografische, mengenmäßige und die Verpackung betreffende Beschränkungen für Saatgut von Erhaltungssorten, doch - so der EuGH recht kryptisch fügen sich diese Beschränkungen in den Kontext der Erhaltung der pflanzengenetischen Ressourcen ein (Randnummer 64). Weiterhin sei Ziel der EU- Regelungen eben nicht die Liberalisierung des Marktes für Saatgut der Erhaltungssorten und der für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchteten Sorten, sondern, eine flexiblere Ausgestaltung der Zulassungsbestimmungen und damit, so der EuGH weiter, die Verhinderung der Bildung eines Parallelmarkts für dieses Saatgut zu verhindern, der den Binnenmarkt für Saatgut von Gemüsesorten zu behindern drohte. Weiterhin verweist der EuGH auf die in der Erhaltungsrichtlinie vorgesehene Überprüfung der Richtlinie und die damit enthaltende Korrekturmöglichkeit hinsichtlich der entsprechenden Regelungen. 5

Aus all diesen Gesichtspunkten konnte, so der EuGH, der EU-Gesetzgeber annehmen, dass die geeignete Art und Weise, die mit den Richtlinien angestrebten Ziele und die Interessen aller beteiligten Wirtschaftsteilnehmer miteinander zu vereinbaren, darin bestand, eine allgemeine Zulassungsregelung für den Handel mit Standardsaatgut und besondere Bedingungen für den Anbau und den Handel mit dem Saatgut der Erhaltungssorten und der Sorten, die für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, vorzusehen (Randnummer 67 des Urteils). Die Generalanwältin hatte demgegenüber argumentiert, dass die Zulassungsregeln die Interessen von denjenigen Saatgutproduzenten, Saatguthändler, Landwirten nicht ausreichend und ausdrücklich berücksichtige, deren Interesse sich nicht vorrangig auf Produktivität richtet. Ebenso sei die Wahlfreiheit von Verbraucher_innen dadurch beschränkt und die genetische Vielfalt werde reduziert, obwohl sich die EU international zum Schutz der biologischen Vielfalt verpflichtet habe. Das Ziel, dass Käufer sich nicht über die Qualität des Saatgutes tauschen, könne auch durch eine Kennzeichnung erreicht werden. Das Sortenschutzrecht biete hinreichend Anreize für die Züchtung qualitativ hochwertiger Sorten; die Vermarktung von DUS-Saatgut werde nicht eingeschränkt, wenn die Zulassungsregel entfalle. Die Erhaltungsrichtlinie genüge nicht, um die Nachteile der Beschränkungen, denen nicht nach den DUS-Kriterien zugelassenes Saatgut unterliegt, auszugleichen, denn dabei seien angesichts der geltenden Beschränkungen für die in der Erhaltungsrichtlinie geregelten Sorten die wirtschaftlichen Interessen derjenigen nicht hinreichend berücksichtigt, die diese Sorten vertreiben. Mit den Argumenten der Generalanwältin setzt sich der EuGH nicht ausdrücklich auseinander. b) Andere Aspekte Der EuGH prüft daneben noch, ob der Grundsatz der Gleichbehandlung verletzt ist. Dieser besagt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, eine solche Behandlung ist objektiv gerechtfertigt. Der EuGH geht anders als die Generalanwältin davon aus, dass Saatgut von Erhaltungssorten und konventionelles Saatgut unterschiedlich sind. Er beruft sich dabei auf die Präambel der Erhaltungsrichtlinie, die sagt, neben dem allgemeinen Ziel des Schutzes pflanzengenetischer Ressourcen das besondere Interesse an der Erhaltung der Erhaltungssorten in der Tatsache liegt, dass sie an besondere örtliche Bedingungen hervorragend angepasst sind und dass sie für den Anbau unter besonderen klimatischen Bedingungen geeignet sind. Zudem diskutiert der EuGH, ob die Richtlinien dem Recht auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, d.h. so etwas wie Berufsfreiheit, von Kokopelli widersprechen. Dieses Recht gilt jedoch im EU-Recht nicht unbeschränkt, sondern kann verhältnismäßigen Beschränkungen unterworfen werden und die Verhältnismäßigkeit der entsprechenden Regelungen hatte der EuGH ja schon festgestellt. 6

Weiterhin sei der freie Warenverkehr, eines der zentralen Prinzipien des EU-Rechts, durch die Regelungen nicht beschränkt, da sie ja gerade den ungehinderten Handel mit Saatgut nach einheitlichen Maßstäben innerhalb der EU bezweckten. Auch bezüglich dieser drei Prinzipien war die Generalanwältin zu einem anderen Ergebnis gekommen, da sie die Maßnahmen als unverhältnismäßig eingestuft hatte. Der Internationale Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft (ITPGRFA), den die EU ratifiziert hat, sei durch die Richtlinien nicht verletzt. Er enthalte keine hinreichend bestimmten und konkreten Bestimmungen dies war auch die Meinung der Generalanwältin. 3. Einschätzung des Urteils Der EuGH hatte in diesem, wie auch in anderen Fällen, eigentlich zwei Fragen zu entscheiden. Einerseits, die inhaltliche Frage, ob die genannten Richtlinien gegen höherrangige Rechtsprinzipien verstoßen und deswegen nicht gültig ist; andererseits und implizit aber auch die Frage, inwieweit der EuGH als Gericht dazu berufen ist, die vom Gesetzgeber getroffenen politischen Entscheidungen zu überprüfen und durch eine eigene zu ersetzen Im Ergebnis ist das Urteil bedauerlich. Die Schwächen in der Argumentation des EuGH finden sich allerdings in meinen Augen stärker auf der tatsächlichen Ebene als auf der rechtlichen. In faktischer Hinsicht argumentieren Erhaltungsinitiativen ja gerade seit Jahren, dass die Ausnahmeregelungen für Erhaltungssorten so eng sind, dass es de facto schwierig ist, entsprechende Sorten zu erhalten und damit die Erhaltungsarbeit schwieriger wird und die landwirtschaftliche Vielfalt potentiell gefährdet ist. Darauf geht der EuGH gar nicht ein. Generalanwältin Kokott hatte demgegenüber in ihrem Antrag allerdings ohne weitere Nachweise die Ansicht vertreten, dass die Sortenvielfalt in der Landwirtschaft zurückgeht; dies könne z. B. angesichts des Klimawandels Probleme bereiten und die Auswahl der Endverbrauchers an Agrarprodukten sei eingeschränkt. Der Verlust an Sortenvielfalt sei teilweise auf die EU-Regelungen zurückzuführen. Das spielt aber weder in der Argumentation des EuGH noch derjenigen der Generalanwältin im Endeffekt eine wichtige Rolle. Das EuGH-Urteil verweist letztlich darauf, dass auf der EU-Ebene politisch die falschen Prioritäten gesetzt werden (vermeintliche) Produktivitätssteigerung statt genetische Vielfalt, Einheitlichkeit von Saatgut statt lokal angepasster Sorten, Wirtschaftsfreiheit statt Vorrang des Umweltschutzes. Es ist aber nicht in erster Linie Aufgabe eines Gerichts, diese falschen Prioritäten zu korrigieren. Leider legt der EuGH eine entsprechende Zurückhaltung nicht immer an den Tag. 7