FISKALISCHE TRAGFÄHIGKEIT: KONZEPTE Deutsche Gesellschaft für Demographie (DGD) Jahrestagung, Berlin, 18.03.2015 Prof. Dr. Martin Werding Lehrstuhl für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen
Einleitung Tragfähigkeit: Kriterien und Kennziffern Ausgangspunkt: Absehbare demographische Alterung und Befürchtungen wegen Finanzierbarkeit von Umlage-Systemen zur sozialen Sicherung Nachhaltigkeit oder Tragfähigkeit als rein politische Kategorie? Suche nach ökonomischen Maßstäben; wünschenswerte Eigenschaften: Klarheit Anschaulichkeit Handlungsorientierung Illustration einschlägiger Überlegungen für Deutschland (Stand 2014) Unter Verwendung von Langfrist-Projektionen bis 2060 (Modell SIM.12) Rolle von Annahmen (zu Demographie, Arbeitsmarkt, Wachstum) und Theorie Sinn solcher Langfrist-Projektionen? Verwendung einer Basisvariante (und diverser Sensitivitätsanalysen) [erstellt im Auftrag des SVR, veröffentlicht als SVR-AP 01/2014, November 2014]
Bausteine der Tragfähigkeitsanalyse
Öffentliche Ausgaben Auswahl und Aufschlüsselung Welche öffentlichen Ausgaben sind besonders demographie-sensitiv? Alterssicherung Gesundheit und Pflege Arbeitsmarkt (?) Bildung und Familie Für die nötigen Fortschreibungen und zur Berechnung von Kennziffern werden aktuell beobachtete Größen passend aufgeschlüsselt, z.b. zu altersspezifischen Pro-Kopf-Werten:,,,, : Ausgaben, : Ausgabenart, : Individuen, : Alter(-skohorte), : Jahr Das gleiche gilt prinzipiell auch für öffentliche Einnahmen (Sozialbeiträge, Lohn-/ESt, MwSt ),,,,
Gesamtstaatlicher öffentlicher Haushalt Kenngrößen und Zusammenhänge Aggregierte Größen:, etc. BIP-Quoten:, usw. Primäres Finanzierungsdefizit (je BIP): Finanzierungsdefizit (je BIP): (Explizite) Schuldenstand(-squote): : BIP; : BIP-Wachstumsrate p.a., : Zinssatz p.a. (vereinfachend konstant) Steuerungsgröße mit den größten Freiheitsgraden ist das Primärdefizit; der Schuldenstand ist das Langzeitgedächtnis der Finanzpolitik; über die fälligen Zinszahlungen wirkt er auf das laufende Defizit zurück
Budgetbeschränkung des Staates Theoretische Grundlagen Kurz- und mittelfristige Handlungsspielräume Bei der Gestaltung der laufenden Haushaltspolitik hat der Staat Handlungsspielräume, die er für verschiedene Zwecke ge- und missbrauchen kann z.b. Investitionen, Konjunkturpolitik, Lender of last resort Wahlgeschenke, Lastverschiebungen Grenzen Ein hoher Schuldenstand erfordert ceteris paribus hohe Zinszahlungen, die den Spielraum für primäre Ausgaben einengen Wahrnehmungen der Finanzmärkte beeinflussen auch den relevanten Zinssatz Harte intertemporale Budgetbeschränkung Effektiv muss der Staat jedoch nur in der Lage sein, durch zukünftige Ausgaben und Einnahmen die intertemporale Budgetbeschränkung einzuhalten: 1 1
Tragfähigkeitsanalysen
Gesamtstaatlicher öffentlicher Haushalt Zukünftige Entwicklung 1. Schritt: Ausgabenprojektionen Grundlagen: Ist-Daten, aktueller Rechtsstand, Annahmen zur Entwicklung von Demographie, Erwerbstätigkeit, Produktivität, Zins und weiterer, für die Anpassung der jährlichen Ausgaben relevanten Größen Vorausschätzung der Entwicklung der BIP-Quoten explizit modellierter Ausgaben Rechenkonventionen Sonstige Ausgaben und öffentliche Einnahmen bleiben in % des BIP konstant Etwaiger Anpassungsbedarf der Einnahmenquote ist Ergebnis der Rechnungen (bei variabler Einnahmenquote könnte jede Ausgabensteigerung tragfähig sein) 2. Schritt: Haushaltsprojektionen Ziel: rechnerische Entwicklung von Defizit- und Schuldenstandsquoten ohne gezielte Gegenmaßnahmen auf Ausgaben- oder Einnahmenseite Die Resultate stellen per se bereits simple Tragfähigkeitskennziffern dar Alternative: steigende Abgabensätze bei variabler Einnahmequote
Projizierte Ausgaben (1991 2060) Basisvariante Quellen Ist-Daten: BA, DRV, BMG, Statistisches Bundesamt; Projektionen: SIM.12 (Werding 2014).
Finanzierungsdefizit (1991 2060) Basisvariante Quellen Ist-Daten: Statistisches Bundesamt; Projektionen: SIM.12 (Werding 2014).
Schuldenstand (1991 2060) Basisvariante Quellen Ist-Daten: Statistisches Bundesamt; Projektionen: SIM.12 (Werding 2014).
Variable Einnahmen: SV-Beiträge (1991 2060) Basisvariante Quellen Ist-Daten: BA, DRV, BMG; Projektionen: SIM.12 (Werding 2014).
Generational Accounting und implizite Schuld Alternative Herangehensweisen Generational accounting Bestimmung der fiskalischen Netto-Position jeder Alterskohorte,, 1,, Ergebnis: Vektor von Resultaten, die intertemporale Umschichtung und intergenerationelle Umverteilung mischen Interessant sind v.a. Resultate für die gerade geborene Generation und die zukünftige Generation 1 (inkl. aller in die Zukunft verschobenen Lasten) Die Differenz resultiert aus der intertemporalen Budgetbeschränkung Implizite Staatsschuld Summiert man, ohne Rücksicht auf diese Beschränkung über alle, für, erhält man die implizite Staatsschuld (= zukünftige Ausgaben, die durch Einnahmen bei konstanten Abgabensätzen nicht gedeckt sind; Open-system net liabilities ) NB: Implizite Schulden unterscheiden sich von expliziten Staatsschulden hinsichtlich betragsmäßiger Bestimmbarkeit und politischer Verbindlichkeit
Implizite Staatsschuld (Stand: 2013) Basisvariante Quellen SIM.12 (Werding 2014).
Tragfähigkeits-Kennziffern im Überblick Kennziffern zur Haushaltsentwicklung (Defizite und Schuldenstand) Vgl. Leibfritz et al. (1995), Roseveare et al. (1996) Bewertung: anschaulich, aber unklar und ohne ablesbaren Handlungsbedarf (Explizite +) Implizite Staatsschuld Vgl. Auerbach et al. (1991, 1999), Noord and Herd (1993, 1994) Anschaulich (?); klarer, aber nicht trennscharf; ohne ablesbaren Handlungsbedarf Tragfähigkeitslücke ( Sustainability gap, S2 ) Vgl. EU-EPC (2001, 2003) Um welchen %-Satz des BIP muss bei gegebenen Ausgabenprojektionen das Primärdefizit ab sofort und auf Dauer verringert werden, damit der Staat die intertemporale Budgetbeschränkung einhalten kann? Resultat für die Basisvariante: 3,4% des BIP Streuung in Sensitivitätsanalysen von 2,6% bis 4,5%; in Risiko- oder Extremvarianten von 2,2% bis 6,2%
Struktur der Tragfähigkeitslücke (Stand: 2013) Quellen SIM.12 (Werding 2014).
Finanzierungsdefizit (1991 2060) Basisvariante 3,4% Tragfähigkeitskorrektur Quellen Ist-Daten: Statistisches Bundesamt; Projektionen: SIM.12 (Werding 2014).
Schuldenstand (1991 2060) Basisvariante Quellen Ist-Daten: Statistisches Bundesamt; Projektionen: SIM.12 (Werding 2014).
EPC-Tragfähigkeitslücke Weitere Befunde und Folgerungen Vorteile: Anschaulichkeit (?) und Klarheit Alle Resultate werden in einer einheitlichen Kennziffer zusammengefasst Größenordnung leicht interpretierbar: 3,4% des BIP ca. 90 Mrd. (7,6% des HH) mittelfristige Operationalisierung möglich: 0,5% p.a. bis 2020 ( 3,6% des BIP) S2 < 0 tragfähig ; S2 > 0 Handlungsbedarf direkt ablesbar Folgerung: Einnahmen erhöhen, Ausgaben senken, Wachstumsdynamik steigern Sensitivität / politische Implikationen Einnahmeerhöhungen steigern den Anpassungsbedarf u.u. endogen ( 5,4%) Welche Ausgabensenkungen erscheinen (noch) als realistisch? Die Indikatorwerte reagieren stark auf Annahmen zu Migration und Beschäftigungsentwicklung (insbes. Erwerbsbeteiligung Älterer gesetzliches Rentenalter) Sie reagieren nur sehr wenig auf Annahmen zu Zins (!) und Produktivität (insbes. Arbeitsproduktivität Lohnsteigerungen Niveau der zukünftigen Leistungen) Auf dieser Basis lassen sich konkrete politische Diskussionen führen!
Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Literaturhinweise
Die Präsentation stützt sich v.a. auf folgende Arbeiten Demographischer Wandel und öffentliche Finanzen: Langfrist-Projektionen 2014 2060 unter besonderer Berücksichtigung des Rentenpakets der Bundesregierung, SVR-Arbeitspapier Nr. 1/2014 (http://www.sachverstaendigenratwirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/download/publikationen/arbeitspapier_01_2014.pdf) Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen: Modellrechnungen für die mittlere und lange Frist, ifo Forschungsbericht Nr. 64, ifo Institut: München 2014 (http://www.cesifo-group.de/docdl/ifo_forschungsberichte_64.pdf) Modell für flexible Simulationen zu den Effekten des demographischen Wandels für die öffentlichen Finanzen in Deutschland bis 2060: Daten, Annahmen und Methoden, Bertelsmann-Stiftung: Gütersloh 2013 (http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/sid-5fd61174-f9add70d/bst/xcms_bst_dms_37461_37462_2.pdf)