Das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Gesellschaft im 19. Jahrhundert



Ähnliche Dokumente
Wichtige Forderungen für ein Bundes-Teilhabe-Gesetz

Leitbild. für Jedermensch in leicht verständlicher Sprache

Die Online-Meetings bei den Anonymen Alkoholikern. zum Thema. Online - Meetings. Eine neue Form der Selbsthilfe?

Gründe für fehlende Vorsorgemaßnahmen gegen Krankheit

Die Invaliden-Versicherung ändert sich

DAS PARETO PRINZIP DER SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG

Behindert ist, wer behindert wird

Was ist Sozial-Raum-Orientierung?

Werte und Grundsätze des Berufskodexes für interkulturell Dolmetschende. Ethische Überlegungen: Was ist richtig? Wie soll ich mich verhalten?

Leichte Sprache Informationen zum Europäischen Sozialfonds (ESF) Was ist der Europäische Sozialfonds?

Was bedeutet Inklusion für Geschwisterkinder? Ein Meinungsbild. Irene von Drigalski Geschäftsführerin Novartis Stiftung FamilienBande.

Was meinen die Leute eigentlich mit: Grexit?

Kinderarmut. 1. Kapitel: Kinderarmut in der Welt

Das Institut für berufliche Aus- und Fortbildung stellt sich vor

Häufig gestellte Fragen zum Thema Migration

DER SELBST-CHECK FÜR IHR PROJEKT

Eva Douma: Die Vorteile und Nachteile der Ökonomisierung in der Sozialen Arbeit

Basiswissen. Ursprung und Praxis der Genossenschaftsbanken. Inhalt

Ambulant betreutes Wohnen eine Chance!

Wir sind für Sie da. Unser Gesundheitsangebot: Unterstützung im Umgang mit Ihrer Depression

Glaube an die Existenz von Regeln für Vergleiche und Kenntnis der Regeln

Sozialer Umbau: Kranken- und Arbeitslosenversicherung

Wohnformen im Alter. Ein Vortrag im Rahmen des Seniorenfrühstücks von Frank Ulrich & Michael Meibohm

Zwischenbericht zum Würth Bildungspreis

Was wir gut und wichtig finden

Risiko Pflegebedürftigkeit Unwissenheit verhindert Vorsorge

Die Post hat eine Umfrage gemacht

Ergebnis und Auswertung der BSV-Online-Umfrage zur dienstlichen Beurteilung

Spracherwerb und Schriftspracherwerb

Berufsunfähigkeit? Da bin ich finanziell im Trockenen.

Bedarfsgerechte Angebote in der Kindertagesbetreuung

Freie Wohlfahrtspflege

Vertrauen in Medien und politische Kommunikation die Meinung der Bürger

Nicht über uns ohne uns

Letzte Krankenkassen streichen Zusatzbeiträge

Erklärung zu den Internet-Seiten von

1. Weniger Steuern zahlen

Lebensqualität für Kinder Das Wohl des Kindes

Dienstleistungen für Privatkunden rund ums Recht. Europas Nr. 1 im Rechtsschutz.

Tageszentrum für behinderte Kinder Lenauheim

Förderzentrum am Arrenberg

9 Auto. Rund um das Auto. Welche Wörter zum Thema Auto kennst du? Welches Wort passt? Lies die Definitionen und ordne zu.

Die Forschung mit embryonalen Stammzellen ist ethisch nicht akzeptabel

Ideen für die Zukunft haben.

Örtliche Angebots- und Teilhabeplanung im Landkreis Weilheim-Schongau

Weltweite Wanderschaft

Wir wünschen uns: ein Adoptivkind ein Pflegekind. Vollzeitpflege Wochenpflege Kurzzeitpflege

Pflegende Angehörige Online Ihre Plattform im Internet

Wichtig ist die Originalsatzung. Nur was in der Originalsatzung steht, gilt. Denn nur die Originalsatzung wurde vom Gericht geprüft.

WeG und Gemeinde (bzw. Seelsorgeeinheit, Pastoraler Raum, Pfarreien-Gemeinschaft)

Elternzeit Was ist das?

Kurz-Wahl-Programm in leichter Sprache

Erweitertes Aufnahmeverfahren und Vorbereitungskurs

Mein Leben eine Bestandesaufnahme (Quelle: Karsten Drath)

Unsere Ideen für Bremen!

Sehr geehrter Herr Präsident [Prof. Dr. Dr. h.c. Greipl], meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Gesellschaftsformen

Social Media Einsatz in saarländischen Unternehmen. Ergebnisse einer Umfrage im Mai 2014

Deutliche Mehrheit der Bevölkerung für aktive Sterbehilfe

Kurz-Wahl-Programm in leichter Sprache

Marketing-Leitfaden zum. Evoko Room Manager. Touch. Schedule. Meet.

Seniorenwohnanlage Am Baumgarten

KinderPlus. Mit KinderPlus wird Ihr Kind zum Privatpatienten im Krankenhaus.

INNOVATIONEN UND QUALIFIZIERUNG WAS SAGEN BETRIEBSRÄTE?

Statuten in leichter Sprache

Verzahnung von Arbeitsschutz und betrieblichem Gesundheitsmanagement. Gesunde Ansatzpunkte für sinnvolle Maßnahmen

Kinderrechte. Homepage:

Pro Jahr werden rund 38 Millionen Patienten ambulant und stationär in unseren Krankenhäusern behandelt, statistisch also fast jeder zweite Deutsche.

Umfrage: Kreditzugang weiter schwierig BDS-Präsident Hieber: Kreditnot nicht verharmlosen

Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt

Fragebogen zur Evaluation von NLP im Coaching

V ist reicher Erbe und verwaltet das von seinem Vater geerbte Vermögen. Immobilien oder GmbH-Anteile gehören nicht hierzu.

Unterstützung für Einzelne und Familien bei schwerer Krankheit und Trauer

EINE UNI FÜR ALLE. Universität Luzern, Montag, 5. Mai Uhr

Erklärung zur Abrechnung

BERLINprogramm. Gute Arbeit Wachsende Wirtschaft Gute Bildung Sozialer Zusammenhalt. Leichte Sprache

Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung: EFRE im Bundes-Land Brandenburg vom Jahr 2014 bis für das Jahr 2020 in Leichter Sprache

Perspektivenpapier Neue MedieN für innovative der Wert gemeinsamen HaNdelNs formate NutzeN WisseNscHaft im ÖffeNtlicHeN raum

Versetzungsregeln in Bayern

Entwicklung einer Krankenversicherung in ländlichen Gebieten Chinas

Rentenarten in der gesetzlichen Rentenversicherung + VBL-Rente

Körperbilder Einstellung zu Schönheitsoperationen und zur Wahrnehmung des eigenen Körpers

Die Industrie- und Handelskammer arbeitet dafür, dass Menschen überall mit machen können

Fakten zur geförderten Pflegezusatzversicherung.

Qualität und Verlässlichkeit Das verstehen die Deutschen unter Geschäftsmoral!

Die Theorie der Praxis. Die Welt ist so komplex, dass man sie mittels bloßer Wahrnehmung nicht erfassen kann.

Klinisch-Therapeutisches Institut Hamburg

Sie war noch nie in Afrika. hat dort aber schon 7 Unternehmen gegründet!

Die Wirtschaftskrise aus Sicht der Kinder

Was sind die Gründe, warum die Frau, der Mann, das Paar die Beratungsstelle aufsucht?

Daher bitten wir Sie, die folgenden Fragen zu Ihrer Person und Ihrer familiären Situation so ausführlich wie möglich zu beantworten.

Lineargleichungssysteme: Additions-/ Subtraktionsverfahren

2. Schönheitsoperationen. Beauty S Lifestyle Lifestyle

DIE SOZIALVERSICHERUNG

Leichte-Sprache-Bilder

Informationen zu den Abschlüssen an der RSS Witten bis zur 11. Klasse (Alle Angaben nach bestem Wissen und ohne Gewähr!) Stand Januar 2013

Entwicklung des Dentalmarktes in 2010 und Papier versus Plastik.

Welchen Weg nimmt Ihr Vermögen. Unsere Leistung zu Ihrer Privaten Vermögensplanung. Wir machen aus Zahlen Werte

Wir planen unsere Unterstützung mit!

Pflegefall wer bezahlt, wenn es ernst wird?

Transkript:

Das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Gesellschaft im 19. Jahrhundert Prof. Dr. Stefan Borrmann Vorlesung: Die gesellschaftliche Funktion Sozialer Arbeit - 3. Sitzung Modul 2.2

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Das 19 Jh. begann mit der Französischen Revolution im Jahre 1789 und schloss mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges 1914. Aus der Französischen Revolution entstand die demokratische Vision der Volkssouveränität auf der Basis der Menschen- und Bürgerrechte mit dem Versprechen Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit.. Prof. Dr. Stefan Borrmann 2

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Mit kleinen Unterbrechungen war das 19. Jahrhundert in Europa und in Nordamerika durch einen ungeheueren wirtschaftlichen Aufschwung, der durch die fortschreitende Industrialisierung ausgelöst wurde, geprägt. Nur wenigen Menschen, die sich unermesslich bereicherten, standen unzählbar viele Menschen, die sich gegen ihre Ausbeutung nicht wehren konnten und völlig verarmten (Arbeitslose, Kranke, Alte, Waisen, Witwen, Invaliden, Bettler und auch Lohnabhängige), gegenüber. Prof. Dr. Stefan Borrmann 3

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Die IndustriearbeiterInnen rekrutierten sich vor allem aus der Landbevölkerung. Die Beschäftigtenzahl in der Industrie übertraf bei weitem die in der Landwirtschaft. Die Lebensbedingungen der Menschen waren insbesondere in den ArbeiterInnen-Ghettos der Industriezentren (z.b. Chicago, Baltimore, London, Berlin, Paris, Prag u.a.) elendig. Prof. Dr. Stefan Borrmann 4

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Schwere körperliche Arbeit, lebensgefährliche Arbeitsplätze, Kinder- und Frauenarbeit, viele Unfälle und Erkrankungen, lange Arbeitszeiten, verschleißende Arbeitsbedingungen, geringe Löhne, teuere Mieten, Wohnungsnot, Obdachlosigkeit, unhygienische Verhältnisse, Krankheiten, Seuchen, Arbeitslosigkeit, Armut. Die ArbeiterInnen wohnten mit ihren Familien unter katastrophalen Bedingungen auf engstem Raum in städtischen Elendsvierteln (12 und mehr Personen in einem Zimmer). Prof. Dr. Stefan Borrmann 5

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Noch elender war meistens das Schicksal der Behinderten, der Kranken (ohne Familie), der Alten (ohne Angehörige) und der elternlosen Kinder. Mit der Beseitigung der alten feudalen und zünftigen Ordnungen um 1800 fielen die alten Formen (Familie, Zunft, Grundherr) sozialer Einbindung und Hilfeleistung weitgehend weg. Prof. Dr. Stefan Borrmann 6

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Das Recht auf Freizügigkeit und die Binnenwanderung zur Arbeit hatten zur Folge, dass um 1900 etwa 48 Prozent aller EinwohnerInnen im Deutschen Reich außerhalb der Gemeinde ihrer Geburt lebten. Die Gemeinden, denen die Aufgabe der Hilfestellung oblag, bekamen schnell zu spüren, dass der rapide anwachsende Hilfebedarf mit den überkommenen öffentlichen (geschlossenen) Einrichtungen (Waisenhäuser, Bewahranstalten, Zucht- und Arbeitshäuser) nicht mehr zu bewältigen war. Prof. Dr. Stefan Borrmann 7

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Ab Mitte des 19. Jahrhunderts schafften fast alle deutschen Staaten neue Rechtsgrundlagen und Organisationsformen für die Unterstützung der Armen, die nicht mehr an den Geburtsort des Betreffenden gebunden war: Elberfelder System, Straßburger System Prof. Dr. Stefan Borrmann 8

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Die mit ihren zahlreichen neuen Erkenntnissen und Theorien aufblühenden Naturwissenschaften übten zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf das Alltagsleben der Menschen großen Einfluss aus. Die Problemstellungen der Wissenschaften veränderten sich, traditionelle Gegenstände der Wissenschaften wurden neu gesehen und mit neuen Erkenntnismethoden erforscht. Prof. Dr. Stefan Borrmann 9

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Der wissenschaftliche Fortschritt in Physik, Biologie, Chemie und Medizin führte zu einem Glauben an Wissenschaft und Technik. Der wissenschaftliche Fortschrittsglaube wurde für viele zu einer Weltanschauung, die die traditionellen christlichen Wertordnungen in Frage stellte. Prof. Dr. Stefan Borrmann 10

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Mit der Säkularisation des Kirchengutes (Reichsdeputationshauptschluss 1803) wurde den Kirchen in Deutschland die Leitung und Kontrolle über die meisten Universitäten genommen; damit fiel die weltanschauliche Bindung der WissenschaftlerInnen an die Kirche weg. Es entstanden nun Sozialwissenschaften, die die Zusammenhänge menschlicher Gesellschaften aus verschiedenen Perspektiven und mit neuen Methoden systematisch erforschten. Prof. Dr. Stefan Borrmann 11

Die Entwicklung der Sozialen Arbeit Die während des 19. Jahrhunderts mit dem wirtschaftlich-gesellschaftlichen Wandel explosionsartig angewachsenen sozialen Probleme in den europäischen und nordamerikanischen Industrieländern (soziale Frage, Pauperismus) verstärkten die Entwicklung sozialer Ideen und Bewegungen. Prof. Dr. Stefan Borrmann 12

Die Entwicklung der Sozialen Arbeit Getragen von diesen sozialen Bewegungen reagierten immer mehr Menschen einzeln oder in Form von Zusammenschlüssen (Genossenschaften, Gesellschaften, Vereine u.a.), um der sozialen Misere beizukommen: Konsum- und Produktionsgenossenschaften, Hilfs-, Kranken-, Invaliden- und Sterbekassen, Betreuungs- und Pflegegemeinschaften, Lesegesellschaften und Bildungsgemeinschaften, Arbeitervereine Prof. Dr. Stefan Borrmann 13

Die Entwicklung der Sozialen Arbeit Zahlreiche private und kirchliche Vereinigungen wurden vornehmlich in den Großstädten als Ergänzung zur kommunalen Armenfürsorge gegründet: Rettungshäuser, Kindergärten, Kinderrettungsvereine, Jünglings- und Gesellenvereine, Caritas- und Elisabethenvereine, Innere Mission zur Jugend-, Alters-, Kranken- und Gefährdetenhilfe Prof. Dr. Stefan Borrmann 14

Die Entwicklung der Sozialen Arbeit Der Staat reagierte auf die Missstände und deren Folgen (insbesondere auf die Arbeiterbewegung) mit neuen Arbeitergesetzen und einer neuen allgemeinen Sozialgesetzgebung: Krankenversicherungsgesetz (1883), Unfallversicherungsgesetz (1884) und Invalidenund Altersversicherungsgesetz (1889). Prof. Dr. Stefan Borrmann 15

Die Entwicklung der Sozialen Arbeit Die Empörung sozial engagierter Frauen im 19. Jahrhundert über Leiden in der Bevölkerung ging einher mit ihrer Unzu-friedenheit über die Kompetenzen der Helferinnen. Für sie reichte angesichts des Ausmaßes der sozialen Probleme eine Almosen gebende Soziale Arbeit nicht mehr aus. Prof. Dr. Stefan Borrmann 16

Die Entwicklung der Sozialen Arbeit Es entstand die Forderung, Philanthropie (Wohltätigkeit) auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Damit grenzte man sich sowohl gegenüber einer unreflektiert-spontanen, caritativen Hilfsmotivation als auch gegenüber dem traditionell polizeilichrepressiven Fürsorgeverständnis ab. Prof. Dr. Stefan Borrmann 17

Die Entwicklung der Sozialen Arbeit Armut und Not der unteren Volksschichten erschienen nicht länger gottgewollt und natürlich, sondern als gesellschaftliche Probleme, sozial bedingt und daher auch politisch gestalt- und aufhebbar. Prof. Dr. Stefan Borrmann 18

Die Entwicklung der Sozialen Arbeit Zum Ende des 19. Jahrhunderts benutzte der deutsche Jurist und Nationalökonom Lorenz von Stein (1815 1890) den Begriff sociale Arbeit : Sociale Arbeit verfolgt nach Stein sittliche, wirtschaftliche und bildungsbezogene Ziele, ihr Gegenstand sind die arbeitende Klasse und die Armut, nicht die Hilfe für den Einzelnen, sondern die ganze Aufgabe, die er die Hebung und Veredelung der nichtbesitzenden Klassen nannte. Prof. Dr. Stefan Borrmann 19

Die Entwicklung der Sozialen Arbeit Durch die sociale Arbeit sei eine Doppelaufgabe der Hilfe vorgegeben: Die Helfenden sollen einmal mit den Mächten ringen, welche das Ganze, die Classe als solche, bewältigen, und zugleich sollen sie dem Einzelnen als solchen die hilfreiche Hand bieten; die Hülfe muss eine systematische, organische für die ganze Classe, und eine freie, individuelle für die Einzelnen in derselben sein. Prof. Dr. Stefan Borrmann 20

Zusammenfassung Welche gesellschaftliche Funktion hatte das Helfen, die Fürsorge, die Soziale Arbeit zu der spezifische Zeit? Die Aussagen von Stein deuten darauf hin, dass im 19. Jahrhundert ein Paradigmenwechsel in der bisherigen Theorie und Praxis der Armenpflege und Fürsorge stattgefunden hat. Danach vollzog und organisierte sich sociale Arbeit nicht mehr naturwüchsig, sondern wurde von gesellschaftlichen Gruppen wie auch vom Staat bewusst zur Bewältigung sozialer Umbrüche gestaltet. Prof. Dr. Stefan Borrmann 21