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Transkript:

MA S410 Geometrie Johanna Schönenberger-Deuel 31. Oktober 2010

Inhaltsverzeichnis 1 Einführung 1 2 Isometrien oder Kongruenzabbildungen 7 2.1 Einführende Überlegungen........................... 7 2.2 Geradenspiegelung S g.............................. 9 2.3 Isometrien der Ebene.............................. 11 2.4 Dreispiegelungssatz............................... 18 2.5 Die 5 Typen von Isometrien.......................... 21 2.5.1 Punktspiegelung............................ 21 2.5.2 Rotation (Drehung)........................... 24 2.5.3 Translation (Parallelverschiebung)................... 26 2.5.4 Schubspiegelung (Gleitspiegelung)................... 29 3 Ähnlichkeitsabbildungen 33 3.1 Dilatationen................................... 34 3.2 Zentrische Streckung.............................. 36 3.3 Harmonische Teilung und Apolloniuskreis................... 41 3.4 Verschiedene Ähnlichkeitsabbildungen..................... 45 3.4.1 Ähnlichkeitsabbildungen allgemein.................. 45 3.4.2 Drehstreckungen und Klappstreckungen............... 47 3.4.3 Noch zwei Sätze............................. 49 4 Kreisgeometrie 51 4.1 Kreiswinkelsätze................................. 51 4.2 Sehnensätze................................... 56 4.3 Satzgruppe des Pythagoras........................... 58 4.4 Orthogonale Kreise............................... 63 4.5 Pol und Polare................................. 64 4.6 Inversion am Kreis............................... 66 5 Goldener Schnitt 69 5.1 Was ist der Goldene Schnitt?......................... 71 5.2 Konstruktionen des Goldenen Schnitts und Eigenschaften.......... 73 i

5.3 Goldene Rechtecke und Dreiecke........................ 77 5.4 Weitere Konstruktionen mit dem Goldenen Schnitt............. 80 6 Reguläre Polygone 81 6.1 Definitionen und Berechnungen........................ 82 6.2 Konstruktionen regulärer n-ecke mit Zirkel und Lineal........... 84 6.3 Zwei Näherungskonstruktionen des regulären Siebeneck........... 86 7 Symmetrien 89 7.1 Gruppen..................................... 89 7.2 Die Gruppe der Isometrien........................... 92 7.3 Die Gruppe der Ähnlichkeitsabbildungen................... 94 7.4 regelmässige Vielecke.............................. 95 7.5 Bandornamente................................. 98 7.6 Flächenornamente (Parkette)......................... 101 8 Euklidische und Nichteuklidische Geometrien 103 8.1 Axiomensystem der ebenen euklidischen Geometrie............. 103 8.2 Modelle nichteuklidischer Geometrien..................... 109 8.2.1 Beispiel einer elliptischen Geometrie.................. 110 8.2.2 Kleinsches Modell einer hyperbolischen Geometrie.......... 111 8.2.3 Poincaré- Modell einer hyperbolischen Geometrie.......... 113 8.2.4 Künstlerischer Abschluss....................... 116 9 Graphen und Algorithmen 119 9.1 Einführung................................... 119 9.2 Grundbegriffe.................................. 124 9.3 Über Grade von Ecken............................. 127 9.4 Bäume...................................... 131 9.5 Minimal aufspannendebäume (Minimal Spanning Tree)........... 134 9.6 Kürzeste Wege in Graphen........................... 137 9.7 Eulersche Graphen............................... 140 9.8 Hamiltonsche Graphen............................. 144

Kapitel 1 Einführung Die Geometrie ist die älteste, systematisierte mathematische Disziplin. Geometrie bedeutet Erdmessung. Ursprünglich waren geometrische Figuren Äcker, Wiesen, Felder. Zunächst ist die Geometrie die Lehre vom Messen und Berechnen von Längen, Winkeln, Flächen und Volumina. Schon die Babylonier, die Ägypter und die Griechen haben sich mit geometrischen Sachverhalten der menschlichen Umwelt auseinandergesetzt. 1

Aber erst Thales von Milet (ca. 625 - ca. 547 v. Chr.) erfand, was wir heute Wissenschaft nennen. So waren seine geometrischen Figuren rein abstrakte Gebilde. Er untersuchte das Sammelsurium geometrischer Rezepte, Daumenregeln und empirischer Formeln, die aus Babylon und Ägypten überliefert wurden. Er merkte, dass einige Regeln aus anderen hergeleitet werden konnten und wollte die Geometrie als rein geistige Aktivität sehen. Pythagoras von Samos (ca. 582-500 v. Chr.) hörte von Thales wissenschaftlichen Ideen. Vor allem dessen Geometrie begeisterte ihn. Er studierte in Ägypten. Später gründete er in Kroton, einer griechischen Stadt in Süditalien, die Schule der Pythagoräer, eine halb religiöse, halb politische Gemeinschaft, wo man sich mathematischen und philosophischen Fragestellungen widmete. In dieser so genannten Bruderschaft waren aber Frauen und Männer völlig gleichberechtigt. So wurden Frauen wichtige Personen in der Weiterentwicklung von Mathematik und Naturwissenschaften. Euklid (etwa 340-270v. Chr.) lebte in Athen und wurde später ans Museion in Alexandria berufen. Alexander der Grosse hatte diese neue Stadt am Nil gegründet. Alexandria wurde das aktive Zentrum der Wissenschaften und Mathematik. Euklid hat das bis dahin bekannte Material gesammelt und systematisch aufbereitet. In seinen Elemente der Mathematik (insgesamt 13 Bücher) führt er eine axiomatische Begründung der Geometrie ein. Die Schulbücher beruhen auch heute noch mindestens indirekt auf den Elementen. Euklid versucht zunächst, die Grundbegriffe wie Punkt, Gerade und Ebene explizit zu definieren (Ein Punkt ist, was keine Teile hat), führt dann Grundrelationen inzident, zwischen und kongruent ein und formuliert in den Axiomen (Grundaussagen) die einfachsten Eigenschaften. Damit kann er neue Begriffe explizit definieren und Sätze beweisen, indem er sich nur auf sein Axiomensystem stützt. 2

Zwei Anektoten über Euklid Ein junger Student fragt Euklid: Was habe ich davon, wenn ich all diese Dinge lerne? Euklid ruft seinen Diener und sagt zu diesem: Gib dem Mann eine Münze, denn er muss einen Gewinn ziehen aus dem, was er lernt. König Ptolemaios fragt Euklid: Gibt es in der Geometrie einen kürzeren Weg als die Elemente?" Darauf Euklid antwortet: Es gibt keinen K önigsweg zur Geometrie. Die Elemente sind das älteste, uns überlieferte Beispiel eines axiomatischen Systems. Sie etablierten sich als Standardwerk zur Einführung in die Geometrie und wurden mehrmals abgeschrieben und immer wieder etwas verändert. Theon von Alexandria (2. Hälfte des 4. Jh. n. Chr.) lehrte auch am Museion. Er war einer der wichtigsten Herausgeber der Elemente. 700 Jahre nach Euklid revidierte er das Original mit klaren Formulierungen, schob einige Zwischenschritte in den Beweisen der Sätze ein und fand neue Sätze. Theon unterrichtete selbst seine Tochter Hypatia (370-415). Er wollte ihr die bestmögliche Ausbildung geben, obwohl zu dieser Zeit die Frauen wie Sklaven behandelt wurden. Sie sollte ein vollkommener Mensch werden. Hypatia studierte bei ihrem Vater, dann aber auch in Athen und Italien. Zurück in Alexandria durfte sie offiziell Mathematik und Philosophie lehren. Ihre Schriften sind Erklärungen und Ergänzungen zu den Büchern von Euklid und Diophant, sowie zu den Lehren von Platon und Aristoteles. Studenten aus aller Welt besuchten ihre Vorlesungen, auch Juden und Christen. In dieser Zeit gewannen die Christen im römischen Grossreich immer mehr an Bedeutung. Für sie war Mathematik und Philosophie nur eine Irrlehre. 412 wurde Cyrillus, ein fanatischer Christ, Patriarch von Alexandria. Er verlangte von den Gelehrten, dass sie den christlichen Glauben annahmen, denn er wollte die Stadt vom Heidentum reinigen. Hypatia weigerte sich, ihre Lehren und ihre Ideale aufzugeben. So fiel sie einem grausigen Mordkomplott zum Opfer. Dieser brutale Mord setzte der Verbreitung von Platons Lehre im ganzen römischen Reich ein jähes Ende. Hypatia wurde zum Symbol für das Ende der antiken Wissenschaft, denn der Westen leistete für die nächsten tausend Jahre keine wesentlich neuen Erkenntnisse weder in Mathematik noch in Physik noch in Astronomie. Dafür interessierte man sich für Astrologie und Mystizismus. Europa trat ins finstere Mittelalter ein, während dem die griechische 3

Wissenschaft in Byzanz überlebte und in der arabischen Welt zu neuer Blüte gelangte. Seit 1482 sind mehrere griechische Fassungen der Elemente wieder aufgetaucht, die alle auf Theon und Hypatia zurückgehen. Euklids Elemente bestehen aus 13 Büchern. Sie haben kein Vorwort, keine Einleitung. Es werden keine Ziele formuliert, keine Motivation, kein Kommentar. Das Werk beginnt abrupt mit 23 Definitionen. Definition 1: Ein Punkt ist, was keine Teile hat. Euklids Elemente unterscheiden sich von den heutigen axiomatischen Theorien wesentlich. Euklid definiert auch die Grundbegriffe: Punkte, Geraden, Ebenen. Heute verzichtet man meist auf solch exakte Definitionen der Grundbegriffe. Seit David Hilbert(1862-1943) werden in Axiomensystemen die Grundbegriffe nicht näher definiert, sondern man postuliert Eigenschaften gewisser Relationen zwischen den Grundbegriffen. Euklids Modell hat sich über mehr als 2000 Jahre bewährt in Naturwissenschaft, Technik und Kultur. Es wurde auch für andere Wissenschaften zum Vorbild wissenschaftlicher Darstellung von Theorien. Die sogenannte Euklidische Geometrie kann als die abstrakte Beschreibung unserer ebenen und räumlichen Erfahrung aufgefasst werden. Der Anstoss zur weiteren Entwicklung der Geometrie hat das Parallelenaxiom gegeben, das besagt, dass es zu jeder Geraden durch jeden Punkt genau eine Parallele gibt. Man hat lange geglaubt, dass dieses Axiom aus den ersten vier hergeleitet werden kann. Erst als man Ende des 18. Jahrhunderts die Unabhängigkeit des Parallelenaxioms nachweisen konnte, war der Weg frei zu anderen Geometrien, den sogenannten Nichteuklidischen Geometrien. Als erster erkannte Carl Friedrich Gauss (1777-1855), dass eine in sich widerspruchsfreie Geometrie entsteht, wenn man annimmt, dass zu einer Geraden durch einen nicht auf ihr gelegenen Punkt mehrere Parallelen gezogen werden können. 4

Das war die Geburt der Nichteuklidischen Geometrie. Aus Furcht vor dem Geschrei engstirniger Philosophen hat Gauss seine Überlegungen nicht veröffentlicht. Gauss, dann aber auch Janos Bolyai (1802-1860) und Nicolai Lobatschewsky (1793-1856) begründeten mit diesen neuen Gedanken die erste Nichteuklidische Geometrie. In dieser Vorlesung werden wir vor allem die euklidische Geometrie der Ebene studieren. Wir wollen uns aber nicht nur auf Euklid beziehen, wo die starre Kongruenz von Dreiecken wichtig ist, sondern wir werden dynamisch vorgehen und den Abbildungsbegriff betonen. Die Abbildungsgeometrie geht auf Felix Klein (1849-1925) zurück. Gegen Schluss des Semesters werden wir aber auch Modelle nichteuklidischer Geometrien kennenlernen, und zwar ein Modell von Felix Klein und eines von Henri Poincaré. Der Raumbegriff in der Mathematik und Physik unterliegt gerade heute vielfältigen Verallgemeinerungen. Es ist notwendig, dass man diesen Begriff nicht nur im Sinne Euklids versteht. Im Gegenteil gibt es viele Räume, die man geometrisch untersuchen kann. Zum Schluss wird eine Einführung in die Graphentheorie gegeben als Beispiel einer endlichen Geometrie und als Anwendung zu heute überall verwendeten Optimierungs-Algorithmen. 5

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Kapitel 2 Isometrien oder Kongruenzabbildungen 2.1 Einführende Überlegungen Kongruente Figuren sind deckungsgleiche Figuren. Eine Figur A wird so bewegt, dass sie mit einer anderen Figur B zur Deckung gebracht werden kann. Auf diese Weise wird der Kongruenzbegriff auf spezielle geometrische Abbildungen zurückgeführt, die Kongruenzabbildungen oder Isometrien, die man auch Bewegungen nennt. Eine Isometrie ist somit eine Abbildung, die eine geometrische Figur nur verlagert, ihre Grösse und Form aber unverändert lässt. Allgemein interessiert man sich für das Verhalten geometrischer Figuren bei gewissen bijektiven Abbildungen. Definition 2.1.1. 1. Eine Abbildung φ der Ebene auf sich heisst bijektiv, falls φ umkehrbar ist; d.h. es gibt nicht nur für jeden Punkt X genau einen Bildpunkt Y sondern umgekehrt gibt es für jeden Punkt Y genau einen Punkt X, sodass gilt: 7

φ(x) = Y. 2. Die Abbildung, die jedem Bildpunkt Y sein Urbild X zuordnet, heisst zu φ inverse Abbildung und wird mit φ 1 bezeichnet.. φ 1 (Y ) = X. 3. Die Abbildung, die jeden Punkt X auf sich selbst abbildet, nennt man die identische Abbildung oder Identität. 4. Verknüpfung von Abbildungen id(x) = X Sind φ 1 und φ 2 Abbildungen, so nennt man φ 2 φ 1 die Verknüpfung (Hintereinanderschachtelung, Produkt) von φ 1 und φ 2. (sprich: φ 2 nach φ 1, φ 2 Ring φ 1 ) φ 2 φ 1 bildet jeden Punkt X ab auf φ 2 [φ 1 (X)] = Z (φ 2 φ 1 )(X) = φ 2 [φ 1 (X)] = φ 2 (Y ) = Z Die Verknüpfung von Abbildungen ist assoziativ. φ 3 (φ 2 φ 1 ) = (φ 3 φ 2 ) φ 1 = Die Verknüpfun von bijektiven Abbildungen ist wieder bijektiv. 5. Eine Isometrie oder Kongruenzabbildung φ der Ebene (oder des Raumes) auf sich ist eine bijektive, längentreue Abbildung. Das heisst: Für zwei Punkte A und B und ihre Bildpunkte A = φ(a) und B = φ(b) sind die Strecken AB und A B gleich lang: Bezeichnung: Die Länge der Strecke AB bezeichnen wir mit AB. = Isometrien sind geradentreue Abbildungen, sie bilden Geraden auf Geraden ab. = Die Verknüpfung von Isometrien ist wieder eine Isometrie. 8

2.2 Geradenspiegelung S g Die gesamte Abbildungsgeometrie wird auf den Geradenspiegelungen aufgebaut. Deswegen untersuchen wir zuerst diese Abbildung. Sie ist Ihnen von der Schule her sehr bekannt. Die wichtigsten Eigenschaften der Geradenspiegelung S g 1. Zu zwei Punkten P und Q gibt es genau eine Geradenspiegelung, die P auf Q abbildet. Die Spiegelungsachse ist die Mittelsenkrechte von P Q. 2. Die Geradenspiegelung ist eine involutorische Abbildung, d.h. sie ist zu sich selbst invers. S g S g = id 3. Jeder Punkt von g ist Fixpunkt. Für P g gilt: S g (P ) = P 4. Jede zu g senkrechte Gerade ist Fixgerade. Für P / g liegt der Bildpunkt P auf der anderen Seite von g. Die Verbindungsgerade P P steht senkrecht zu g, ist also Fixgerade. 5. Eine geschlossene Figur und ihr Bild haben entgegengesetzten Umlaufsinn. 9

1. Beispiel Gegeben sind eine Gerade g und zwei Punkte A und B auf derselben Seite von g. Gesucht ist der kürzeste Weg vom Punkt A nach B via die Gerade g. 2. Beispiel Gegeben sind eine Gerade g und zwei Kreise k 1 und k 2. Konstruieren Sie Quadrate, die zwei gegenüberliegende Ecken auf g haben und von denen je eine Ecke auf k 1 und k 2 liegen. 10

2.3 Isometrien der Ebene Wir suchen alle Isometrien der Ebene auf sich und wollen die Strukturen dieser Isometrien untersuchen. Aus ihrem Unterricht in der Sekundarschule oder im Gymnasium kennen Sie die folgenden Isometrien: Geradenspiegelung Punktspiegelung Rotation (Drehung) Translation (Verschiebung) Schubspiegelung (vielleicht bekannt!) Die Frage lautet: Sind das nun wirklich alle Isometrien der Ebene auf sich? Als erstes suchen wir alle Isometrien, die einen Punkt festlassen, also einen Fixpunkt besitzen. Definition 2.3.1. Ein Punkt P heisst Fixpunkt der Abbildung φ, wenn gilt: φ(p ) = P. Satz 2.3.2. Isometrien der Ebene mit mindestens einem Fixpunkt Ist φ eine Isometrie der Ebene und F ein Fixpunkt von φ: φ(f ) = F. Dann gilt: Entweder ist φ eine Rotation um F um einen Winkel α mit 0 < α < 360 oder φ ist eine Spiegelung an einer Geraden durch F oder φ = id. 11

Beweis Der Beweis ist nur so präzis, wie die Begriffe definiert sind (Ebene, Raum, Geradenspiegelung, Drehung,...). Wir gehen nicht auf das Axiomensystem ein. (Das Axiomensystem studieren wir später!) Voraussetzung: φ ist eine Isometrie mit einem Fixpunkt F : φ(f ) = F. 1. Fall: φ besitzt zwei Fixpunkte F G φ(f ) = F und φ(g) = G. Wir zeigen, dass φ dann entweder die Identität oder eine Geradenspiegelung ist. Alle PunkteZ auf der Geraden g durch die beiden Fixpunkte F, G sind Fixpunkte, da gilt: F Z = F φ(z) und GZ = Gφ(Z), also φ(z) = Z Ein Punkt Y / g wird mit der Isometrie φ entweder auf sich selbst oder auf den an g gespiegelten Punkt Y abgebildet. i) Sei φ(y ) = Y. Dann besitzt φ 3 nicht kollineare Fixpunkte F, G, Y. Ein anderer Punkt A / g wird mit der Isometrie φ auch entweder auf sich selbst oder auf den an g gespiegelten Punkt A abgebildet. Nehmen wir nun an, dass φ(a) = A, dann ist die Längentreue von φ nicht erfüllt: Somit gilt f r alle Punkte P : φ(p ) = P und φ= Identität. ii) Sei φ(y ) = Y = S g (Y ). Dann gilt für alle Punkte P : φ(p ) = S g (P ) = P und φ = S g 12

2. Fall: φ hat genau einen Fixpunkt F Hier zeigen wir, dass φ eine Rotation ist. Für alle Punkte X F gilt: φ(x) X. Wir wählen einen Punkt P. Sein Bildpunkt sei P = φ(p ). Da F P = F P, liegen die beiden Punkte auf einem Kreis k mit Mittelpunkt F. Wir betrachten die Rotation um F um den Winkel α = (P F P ) und bezeichnen diese mit R F,α. Diese Rotation ist bestimmt durch den gegebenen Punkt P und sein Bild P. Zu zeigen bleibt: φ = R F,α. Die Abbildung ψ = R F, α φ besitzt 2 Fixpunkte F und P. Also gilt Fall 1: Entweder ψ = R F, α φ = id und damit φ = R F,α oder ψ = R F, α φ = S g, also φ = R F,α S g. Dies führt zu einem Widerspruch: Wir wählen den Punkt Q zwischen P und P, so dass (P F P ) = α. Damit gilt: 2 φ(q) = R F,α S g (Q) = R F,α (Q ) = Q. Q ist ein weiterer Fixpunkt im Widerspruch zur Annahme. Also ist φ eine Rotation. Damit ist der Satz bewiesen. Er gibt einen Überblick über alle Isometrien der Ebene mit mindestens einem Fixpunkt. 13

Wie erhält man nun alle Isometrien der Ebene, auch z. B. die Translationen? Dazu beweisen wir den folgenden Satz. Satz 2.3.3. Alle Isometrien der Ebene Jede Isometrie der Ebene ist eine Verknüpfung einer Translation und einer Isometrie mit Fixpunkt. φ Iso φ = T v ψ, wobei ψ eine Isometrie mit Fixpunkt Beweis i) Schluss von links nach rechts: φ Iso φ = T v ψ, wobei ψ eine Isometrie mit Fixpunkt Wir wählen einen Punkt P. Sein Bildpunkt sei P = φ(p ). Wir betrachten den Vektor v = P P. Dieser Vektor definiert eine Translation um v: T v. Diese Translation ist abhängig vom gewählten Punkt P! Die Translation in umgekehrter Richtung um v wird mit T v bezeichnet. Es sind nun 2 Fälle möglich: Ist P = P, so ist v = 0. Also ist φ eine Isometrie mit Fixpunkt. Ist P P, dann betrachten wir die Abbildung ψ = T v φ. Da ψ(p ) = P, ist ψ eine Rotation oder eine Geradenspiegelung oder die Identität und φ = T v ψ. ii) umgekehrt: Da T v und ψ Isometrien sind, ist auch φ = t v ψ eine Isometrie. Damit ist der Satz bewiesen und wir haben im Prinzip alle Isometrien gefunden. Die reine Translation ist die Verknüpfung der Translation mit der Identität; die Schubspiegelung die Verknüpfung einer Geradenspiegelung mit einer Translation (später). Sind 2 Punkte und ihre Bilder bekannt, so beweisen wir nun, dass es genau zwei zugehörige Isometrien gibt. Satz 2.3.4. Sind vier Punkte A, B, A, B gegeben mit A B und AB = A B, so gibt es genau 2 Isometrien φ 1 und φ 2, die A auf A und B auf B abbilden und die sich nur durch eine Spiegelung an der Geraden g = (A B ) unterscheiden. 14

φ 1 oder φ 2 = S g φ 1 Beweis Sind A B, φ(a) = A, φ(b) = B, AB = A B und g die Gerade durch A und B, dann geht der Beweis in zwei Schritten. i) Es gibt mindestens 2 Isometrien: a) Sind A = A, B = B, dann gibt es 2 Fixpunkte, also gilt: entweder oder φ = φ 1 = id φ = φ 2 = S g b) Sind A = A, B B und m = Mittelsenkrechte auf BB, dann gilt: entweder oder φ = φ 1 = S m φ = φ 2 = S g S m c) Sind A A, B B und m 1 = Mittelsenkrechte auf AA und sind B 1 = S m1 (B), A = S m1 (A) und m 2 = Mittelsenkrechte auf B 1 B, dann sind 2 Fälle möglich. c 1 ) Ist B 1 = B, dann gilt: entweder oder φ = φ 1 = S m1 φ = φ 2 = S g S m1 c 2 ) Ist B 1 B, dann gilt: entweder oder φ = φ 1 = S m2 S m1 φ = φ 2 = S g S m2 S m1 15

Zwischenresultat: Jede Isometrie ist mit 1 oder 2 oder 3 Geradenspiegelungen darstellbar. ii) Es gibt höchstens 2 Isometrien: Ist C ein zu A und B nicht kollinearer Punkt, so gibt es höchstens 2 Möglichkeiten für den Bildpunkt C : C 1 oder C 2. Also gilt: Mit 3 Punkten und ihren Bildpunkten ist die Isometrie eindeutig bestimmt. Satz 2.3.5. a) Eine Isometrie der Ebene auf sich ist eindeutig festgelegt durch die Bilder dreier nicht kollinearer Punkte. b) Eine Isometrie der Ebene auf sich mit drei nicht kollinearen Fixpunkten ist die Identität. Satz 2.3.6. a) Jede Isometrie der Ebene auf sich ist darstellbar als Verknüpfung von höchstens 3 Geradenspiegelungen. b) Jede Verknüpfung von endlich vielen Geradenspiegelungen ist eine Isometrie. 16

c) Jede Verknüpfung von beliebig vielen Geradenspiegelungen lässt sich darstellen mit höchstens 3 Geradenspiegelungen. Bemerkungen Grundsätzlich unterscheidet sich eine Geradenspiegelung von der Verknüpfung zweier Spiegelungen schon wegen der Fixpunkteigenschaften. Bei der Spiegelung an einer Geraden g sind alle Punkte auf g Fixpunkte, und es gibt keine weiteren Fixpunkte. Bei der Verknüpfung von zwei Spiegelungen muss die Lage der beiden Geraden beachtet werden! Bei der Verknüpfung von Abbildungen ist die Reihenfolge zu beachten! Wie können die bekannten 5 Isometrien durch Geradenspiegelungen dargestellt werden? Dazu ist der im nächsten Abschnitt behandelte Satz, der so genannte Dreispiegelungssatz sehr nützlich. Nachher wird es ein Leichtes sein, die bekannten Isometrien durch die Verknüpfung von höchstens 3 Geradenspiegelungen darzustellen. 17

2.4 Dreispiegelungssatz Wir wissen nun, dass sich jede Isometrie der Ebene auf sich als Verknüpfung von höchstens drei Geradenspiegelungen darstellen lässt. Damit können wir einen Überblick über alle Isometrien der Ebene gewinnen. Die Anzahl und die Lage der Spiegelungsachsen wird wesentlich sein. Satz 2.4.1. Dreispiegelungssatz Die Verknüpfung dreier Geradenspiegelungen, wobei die drei Geraden entweder parallel oder kopunktal (genau einen Schnittpunkt) sind, ist darstellbar durch eine Geradenspiegelung. Sind die 3 Geraden g, h, k entweder parallel (g h k) oder kopunktal (g h k = {A}), dann gibt es eine Gerade m, so dass gilt: S k S h S g = S m Für die genaue Lage der Geraden m gilt: a) Ist g h k = {A}, so ist der Winkel zwischen g und h gleich dem Winkel zwischen m und k. 18

b) Ist g h k, dann ist der gerichtete Abstand von g zu h gleich dem gerichteten Abstand von m zu k Bemerkung 2.4.2. Statt der obigen Gleichung S k S h S g = S m kann man auch durch Verknüpfung von links mit S k nützlichen äquivalenten Darstellungen erhalten. (rsp von rechts mit S g ) die oft oder S h S g = S k S m S k S h = S m S g Jetzt gibt es auf jeder Seite der Gleichung 2 Geradenspiegelungen. Man kann also statt an h und k auch an g und m spiegeln. Damit kann man eine Verknüpfung von zwei Geradenspiegelungen ersetzen durch eine andere Verknüpfung mit den entsprechenden Bedingungen. Satz 2.4.3. Eine Verknüpfung von vier Geradenspiegelungen ist stets darstellbar als Verknüpfung von genau zwei Geradenspiegelungen. Also ist jede Verknüpfung einer geraden Anzahl Geradenspiegelungen mit Hilfe von genau zwei Geradenspiegelungen darstellbar. Bemerkung 2.4.4. 1. Eine Verknüpfung von 3 Geradenspiegelungen kann aber nie durch zwei Geradenspiegelungen dargestellt werden. 19

2. Die Isometrien der Ebene lassen sich in 2 Klassen einteilen: (a) ungleichsinnige Isometrien: Verknüpfung einer ungeraden Anzahl Geradenspiegelungen (Umwendungen) (b) gleichsinnige Isometrien: Verknüpfung einer geraden Anzahl Geradenspiegelungen (echte Bewegungen) 3. Lage der Spiegelungsachsen (a) Bei den gleichsinnige Isometrien können die beiden Spiegelachsen parallel sein oder sich schneiden, speziell können sie senkrecht aufeinander stehen. (b) Die ungleichsinnige Isometrien können als eine oder als 3 Geradenspiegelungen dargestellt werden. 20

2.5 Die 5 Typen von Isometrien Geradenspiegelung: Diese Abbildung haben wir schon untersucht. Punktspiegelung: Die beiden Spiegelungsachsen schneiden sich senkrecht. Rotation (Drehung): Die beiden Spiegelungsachsen schneiden sich unter einem beliebigen Winkel. Translation (Parallelverschiebung): Die beiden Spiegelungsachsen sind parallel. Schubspiegelung (Gleitspiegelung): Verschiebung und Spiegelung erhält man genau dann, wenn drei Geradenspiegelungen nicht durch eine ersetzt werden können. Wir werden jetzt die einzelnen Abbildungen in obiger Reihenfolge behandeln. Dies führt zu relativ einfachen Beweisen und zu wichtigen Sätzen der Elementargeometrie. Der Dreispiegelungssatz, der 3 Geradenspiegelungen durch eine ersetzt, ist ein wichtiges Beweismittel. Die Lage der Spiegelungsachsen kann dadurch transformiert werden. 2.5.1 Punktspiegelung Definition 2.5.1. Eine Abbildung S M der Ebene auf sich heisst Punktspiegelung, wenn sie genau einen Fixpunkt M besitzt und jedem Punkt P den Bildpunkt P so zuordnet, dass die Strecke P P durch M halbiert wird. M heisst das Zentrum der Punktspiegelung. 21

Satz 2.5.2. Geradenspiegelung und Punktspiegelung Stehen die beiden Geraden g und h senkrecht aufeinander mit Schnittpunkt M, so S h S g = S M Umgekehrt ist jede Punktspiegelung darstellbar als Verknüpfung zweier Geradenspiegelungen an zueinander senkrechten Achsen. Die wichtigsten Eigenschaften der Punktspiegelung S M 1. Zu zwei Punkten P und Q gibt es genau eine Punktspiegelung, die P auf Q abbildet. 2. Die Punktspiegelung ist eine involutorische Abbildung, d.h. S M S M = id. 3. In einem Spiegelungsprodukt S h S g sind die beiden Achsen genau dann vertauschbar, wenn g = h oder g h. 4. Jede Gerade durch das Zentrum M ist Fixgerade. Eine beliebige Gerade g wird auf eine zu g parallele Gerade g abgebildet. 5. Die Punktspiegelung als Produkt zweier Geradenspiegelungen ist eine gleichsinnige Isometrie. 6. Bei einer Punktspiegelung sind eine Gerade und ihr Bild entgegengesetzt orientiert. Aus diesen Eigenschaften lassen sich nun Aussagen über das Parallelogramm folgern. Definition 2.5.3. Ein Viereck, dessen Gegenseiten auf paarweise parallelen Geraden liegen, heisst Parallelogramm. 22

Satz 2.5.4. Ein Parallelogramm ist punktsymmetrisch in Bezug auf den Diagonalenschnittpunkt M als Mittelpunkt, d.h. mit der Punktspiegelung S M wird das Parallelogramm auf sich selbst abgebildet. Daraus lassen sich weitere Eigenschaften herleiten: 1. Die gegenüberliegenden Seiten sind gleich lang. 2. Die Diagonalen halbieren sich. 3. Die gegenüberliegenden Winkel sind gross. Beispiel 2.5.5. Es sind 3 Punkte M, P und Q gegeben. Konstruieren Sie ein Quadrat mit dem Mittelpunkt M, von dem 2 gegenüberliegenden Seiten oder deren Verlängerungen durch P und Q gehen. 23

2.5.2 Rotation (Drehung) Definition 2.5.6. Eine Abbildung R M,α der Ebene auf sich heisst Rotation (Drehung), wenn sie einen Fixpunkt M besitzt und wenn für jeden von M verschiedenen Punkt P und sein Bild P gilt: MP = MP (P MP ) = α Spezielfälle: α = 0, dann ist R M,0 = id. α = 180, dann ist R M,180 = S M (Punktspiegelung). Satz 2.5.7. Rotation und Geradenspiegelung a) Die Verknüpfung zweier Geradenspiegelungen, deren Achsen g und h sich in einem Punkt M schneiden, ist eine Drehung um M, deren Drehwinkel gleich dem doppelten Schnittwinkel der beiden Achsen ist. Ist g h = {M} und (g, h) = β, dann gilt: S h S g = R M,2β b) Umgekehrt ist jede Drehung darstellbar als Verknüpfung zweier Geradenspiegelungen, deren Achsen sich im Drehpunkt unter dem halben Drehwinkel als Schnittwinkel schneiden. Die wichtigsten Eigenschaften der Rotation R M,α 1. Jede Rotation ist eine Isometrie (geradentreu, längentreu, winkeltreu). 2. Jede Rotation mit Drehwinkel α 0 besitzt genau einen Fixpunkt. 24

3. Eine Rotation mit α 0, 180 besitzt keine Fixgeraden. 4. Die zur Rotation R M,α inverse Abbildung ist wieder eine Rotation um M aber um den Winkel α. (R M,α ) 1 = R M, α Beispiel 2.5.8. Gegeben sind ein Punkt A sowie zwei Geraden b und d. Konstruieren Sie ein Quadrat ABCD, dessen Ecken B auf b und D auf d liegen. 25

2.5.3 Translation (Parallelverschiebung) Definition 2.5.9. Eine Abbildung der Ebene auf sich heisst Translation (Parallelverschiebung) um den Vektor v, wenn für alle Punkte P der Ebene und ihre Bildpunkte P gilt: P P = v Die Translation um v wird mit T v bezeichnet. Spezielfall: T 0 = id. Satz 2.5.10. Zu zwei Punkten A und B gibt es genau eine Translation T v, die A auf B abbildet, ; sie ist gegeben durch den Vektor v = AB. Satz 2.5.11. Translation und Geradenspiegelung a) Die Verknüpfung zweier Geradenspiegelungen an parallelen Geraden g und h ist eine Translation um den doppelten Abstandsvektor von g und h. Ist g h und d = d(g, h) der Abstandsvektor von g und h, dann gilt: S h S g = T 2 d b) Umgekehrt ist jede Translation um einen Vektor v darstellbar als eine Verknüpfung zweier Geradenspiegelungen, deren Achsen parallel sind und deren Abstandsvektor v beträgt. 1 2 Die wichtigsten Eigenschaften der Translation T v 1. Jede Translation ist eine Isometrie (geradentreu, längentreu, winkeltreu). 26

2. Eine Translation, die nicht die Identität ist, besitzt keinen Fixpunkt 3. Bei einer Translation werden Geraden auf parallele Geraden abgebildet. 4. Geraden, deren Richtung parallel zum Translationsvektor verlaufen, sind Fixgeraden. 5. Die zur Translation T v inverse Abbildung ist wieder eine Translation, aber um den Vektor v. (T v ) 1 = T v Satz 2.5.12. Eine bijektive Abbildung der Ebene auf sich, die jede Gerade auf eine parallele Gerade abbildet und die keinen Fixpunkt besitzt, ist eine Translation. φ : g g g ohne Fixpunkt = φ = Translation Satz 2.5.13. Translation und Punktspiegelung a) Die Verknüpfung zweier Punktspiegelungen ist eine Translation. S N S M = T v, mit v = 2 MN b) Jede Translation um einen Vektor v ist darstellbar als die Verknüpfung zweier Punktspiegelungen S N S M, wobei für die Zentren M und N gilt: MN = 1 2 v Anwendung: Mittelparallele im Dreieck P Q = 1 AB 2 S Q S P = T 2P Q = T AB 27

Satz 2.5.14. Die Verknüpfung von zwei Translationen ist wieder eine Translation und zwar um den Summenvektor. T w T v = T v T w = T v+ w Beispiel 2.5.15. 1. Gegeben sind zwei Kreise k 1 und k 2, sowie eine Gerade g. Bestimmen Sie je einen Punkt A auf k 1 und B auf k 2 mit Abstand d, sodass die Verbindungsgerade (AB) g. 2. Bestimmen Sie die Lage der 5 Punkte A, B, C, D, E, wenn folgendes gilt: S E S D S C S B S A = S C. 28

2.5.4 Schubspiegelung (Gleitspiegelung) Definition 2.5.16. Eine Abbildung der Ebene auf sich heisst Schubspiegelung (Gleitspiegelung) genau dann, wenn sie aus einer Spiegelung an einer Geraden r und einer Translation um einen Vektor v zusammengesetzt wird, wobei v r. Die Gerade r heisst Schubspiegelachse. Bezeichnung: S r, v. S r, v = S r T v = T v S r Die Schubspiegelung S r, v kann dann folgendermassen darstellbar: S r, v = S r S q S p, wobei r v und p q r Spezielfälle: 1. Eine reine Geradenspiegelung ist auch eine Schubspiegelung mit v = 0. 2. Eine Geradenspiegelung nennt man auch uneigentliche Schubspiegelung. Ist v 0, so spricht man von einer eigentlichen Schubspiegelung. Damit ist jede ungleichsinnige Isometrie eine Schubspiegelung. 29

Das ist die letzte zu untersuchende Isometrie. Es müssen nur noch die Produkte von drei Geradenspiegelungen untersucht werden. Schneiden sich die drei Geraden in einem Punkt oder sind sie alle drei parallel, so kann das Produkt als eine einzige Geradenspiegelung dargestellt werden. (Dreispiegelungssatz) Satz 2.5.17. Ein Produkt aus drei Geradenspiegelungen S k S h S g, das nicht durch eine einzige Geradenspiegelung ersetzt werden kann, ist eine Schubspiegelung S r, v. Die Schubspiegelung ist dann darstellbar als Produkt von drei Geradenspiegelungen, wobei eine Gerade r zu zwei parallelen Geraden p und q senkrecht steht. S k S h S g = S r, v = S r S q S p Zum Beweis untersuchen wir nun das Produkt von drei Spiegelungen an Geraden mit mehr als einem Schnittpunkt für den Fall, dass g h = {A} und (g, h) = α 2, aber h k {A}. Zuerst transformieren wir das Produkt S h S g mit dem Dreispiegelungssatz zu S h S g, wobei die Gerade h durch A senkrecht zu h gewählt wird: Es ist S k S h = S M mit {M} = k h, also S k S h S g = S k S h S g S k S h S g = S k S h S g = S M S g Nochmalige Anwendung des Dreispiegelungssatzes mit h g und k h ergibt S k S h S g = S k S h S g = S M S g = S k S h S g 30

Die Spiegelachse ist also k und der Translationsvektor v = 2 d(g, h ). S k S h S g = S k S h S g = S k, v Die wichtigsten Eigenschaften der Schubspiegelung S r, v 1. Jede Schubspiegelung ist eine Isometrie (geradentreu, längentreu, winkeltreu). 2. Eine eigentliche Schubspiegelung besitzt keinen Fixpunkt. 3. Die Schubspiegelachse ist die einzige Fixgerade. 4. Achsenparallele Geraden werden auf gleichorientierte parallele Geraden abgebildet. 5. Zur Achse senkrechte Geraden werden um v verschoben und entgegengesetzt orientiert. 6. Bei S r, v sind die Spiegelung an r und die Translation um v vertauschbar. 7. Liegt der Punkt P nicht auf der Spiegelachse und ist P sein Bild bei der Schubspiegelung, so wird die Strecke P P von der Spiegelachse halbiert. 8. Die zur Schubspiegelung S r, v inverse Abbildung ist (S r, v ) 1 = S r, v = S r T v. Beispiel 2.5.18. 1. Gegeben sind die beiden kongruenten Strecken AB und A B. Konstruieren Sie die Achse g und den Translationsvektor v der Schubspiegelung, die A in A und B in B überführt. 2. Was für eine Schubspiegelung ist φ = S r S q S p, wenn p, q, r ein gleichseitiges Dreieck bilden? 3. Bestimmen Sie mit Achsentransformationen die Isometrie φ = S h, b S g, a, wenn g h, d(g, h) = 4 cm, a = 4 cm, b = 5 cm. Um welche einfache Isometrie handelt es sich? 31

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Kapitel 3 Ähnlichkeitsabbildungen Die Isometrien sind bijektive Abbildungen, die längentreu, geradentreu und winkeltreu sind. Kongruente Figuren sind deckungsgleiche Figuren (F = F ). Verzichtet man auf die Längentreue erhält man die Ähnlichkeitsabbildungen. Definition 3.0.19. Eine geradentreue und winkeltreue, bijektive Abbildung der Ebene auf sich heisst eine Ähnlichkeitsabbildung. Die Bildfigur entsteht durch Vergrösserung des Urbildes (oder Verkleinerung). Jede Strecke wird im gleichen Massstab verändert (z.b. verdoppelt). Die Längenverhältnise zweier Strecken im Urbild und im Bild sind gleich. Bezeichnung: zwei ähnliche Figuren A und A : A A. 33

3.1 Dilatationen Fordert man zusätzlich, dass jede Gerade auf eine zu ihr parallele Geraden abgebildet wird, so spricht man von Dilatation. Definition 3.1.1. Eine bijektive Abbildung der Ebene auf sich heisst Dilatation, wenn jede Gerade auf eine zu ihr parallele Gerade abgebildet wird. Eigenschaften der Dilatation 1. Die Dilatationen sind winkeltreu, also Ähnlichkeitsabbildungen. 2. Die Translationen sind Dilatationen. Sie sind die einzigen Dilatationen ohne Fixpunkt. ϕ Translation ( id) ϕ Dilatiation ohne Fixpunkt 3. Bei einer Dilatation mit Fixpunkt ist jede Gerade durch einen Fixpunkt eine Fixgerade. 34

4. Eine von der Identität verschiedene Dilatation hat höchstens einen Fixpunkt. Eine Dilatation mit genau einem Fixpunkt S heisst zentrische Streckung. Beweis? 35

3.2 Zentrische Streckung Definition 3.2.1. Eine Dilatation mit genau einem Fixpunkt S heisst zentrische Streckung. Der Fixpunkt S heisst Streckzentrum. Die zentrischen Streckungen sind ausser der Identität die einzigen Dilatationen mit Fixpunkt. Eigenschaften der zentrischen Streckung 1. Bei einer zentrischen Streckung mit dem Zentrum S liegen ein beliebiger Punkt P ( S) und sein Bild P auf einer Geraden durch den Fixpunkt S. 2. Bei einer zentrischen Streckung wird jede Gerade g, die nicht durch das Zentrum S geht, auf eine von g verschiedene Parallele abgebildet. 3. Eine zentrische Streckung ist durch ihr Zentrum S und durch einen von S verschiedenen Punkt A und sein Bild A eindeutig festgelegt. Satz 3.2.2. Bei einer zentrischen Streckung mit Zentrum S gilt für jeden Punkt A und sein Bild A : SA = k SA wobei k ( 0) eine feste reelle Zahl ist. k heisst Streckfaktor. Bezeichnung: zentrische Streckung mit Streckzentrum S und Streckfaktor k: Z S,k Bemerkung k > 1: Vergrösserung der Entfernung von S k < 1: Verkleinerung der Entfernung von S k > 0: Urbild und Bild liegen auf derselben Seite von S k < 0: Urbild und Bild liegen auf entgegengesetzten Seiten von S 36

Beweis von Satz 1: Untersuchung der Längenverhältnisse 1. Wir wählen einen beliebigen Punkt P, sein Bild sei P. Die Vektoren SP, SP seien gleichgerichtet und SP = k SP, wobei k Q, k > 0, k = m n, m, n N Nun wählen wir den Punkt E, so dass gilt: n SE = SP Damit wird SP = k SP = m n n SE Liegt der Punkt Q nicht auf der Geraden g durch S und P und ist h die Gerade durch S und Q, so schneiden die Parallelen zu P Q durch alle Teilpunkte von g auf der Geraden h kongruente Teilstrecken aus. Der Vektor SE auf g entspricht dem Vektor SF auf h und es gilt: 37

SQ = n SF SQ = m SF = m SQ n Liegt der Punkt R auf der Geraden g, so kann jetzt wie vorher, aber von der Geraden h aus argumentiert werden. Ist k R irrational, dann muss die irrationale Zahl durch rationale Zahlen ( z.b. mit Intervallschachtelungen) approximiert werden. 2. Sind die Vektoren SP, SP parallel, aber entgegengesetzt, alsok < 0, dann spiegelt man zuerst A an S, ergibt A und folgert wie bei 1. 3. Ist k = 0, also, dann wird jeder Punkt auf S abgebildet. Diese Abbildung ist aber nicht injektiv! Beweisende! Auch die Umkehrung von Satz 1 ist richtig. Damit kann man eine zur Definition der zentrischen Streckung äquivalente Definition angeben. Satz 3.2.3. Eine Abbildung ϕ = Z S,k der Ebene auf sich ist genau dann eine zentrische Streckung mit Zentrum S und Streckfaktor k, wenn gilt: Jedem Punkt A wird ein Punkt A so zugeordnet, dass A und A auf einer Geraden durch S liegen mit SA = k SA Damit gilt die folgende Verallgemeinerung. 38

Satz 3.2.4. Bildet die zentrische Streckung Z S,k A auf A und B auf B ab, dann gilt für die Vektoren: A B = k AB Das Bild einer Strecke hat also die k - fache Länge der Urbildstrecke. Bemerkung k = 1: Die Identität ist ein Spezialfall einer zentrischen Streckung. k = 1: Die Punktspiegelung ist auch eine spezielle zentrische Streckung. Die obigen Sätze sind gleichbedeutend mit den Strahlensätzen. Satz 3.2.5. 1. Strahlensatz Werden zwei von einem Punkt ausgehende Strahlen (oder deren entgegengesetzte Strahlen) von parallelen Geraden geschnitten, so verhalten sich die Längen der Abschnitte auf dem einen Strahl wie die Längen der entsprechenden Abschnitte auf dem anderen Strahl. SA SA = SB SB = k 39

2. Strahlensatz Werden zwei von einem Punkt ausgehende Strahlen von zwei Parallelen geschnitten, so verhalten sich die Längen der Abschnitte auf den Parallelen wie die der zugehörigen Scheitelabschnitte auf einem Strahl. A B AB = SA SA = k Weitere Eigenschaften der zentrischen Streckung Z S,k 1. Das Längenverhältnis zweier Bildstrecken ist gleich dem Längenverhältnis ihrer Urbildstrecken. 2. Ein Dreieck und sein Bild haben dieselbe Orientierung. 3. Die Flächeninhalte von Bild und Urbild verhalten sich wie k2 1. 4. Die zur zentrischen Streckung Z S,k inverse Abbildung hat dasselbe Streckzentrum und den Streckfaktor 1. k (Z S,k) 1 = Z S, 1 Die Eigenschaft 3 überlegt man sich zuerst für Dreiecke. Dann betrachtet man Polygone (geschlossene Streckenzüge), die man vollständig mit Dreiecken ausschöpfen kann. Schliesslich können krummlinig begrenzte Figuren durch Dreiecke beliebig genau approximiert werden. Beispiel 3.2.6. k 1. In ein Dreieck ABC soll ein Quadrat P QRS mit P, Q AB, R BC, S AC eingezeichnet werden. 2. Konstruieren Sie durch den Schnittpunkt S zweier Kreise k 1 und k 2 eine Sekante, so dass die beiden auf ihr liegenden Sehnen sich wie 2 : 3 verhalten. 40

3.3 Harmonische Teilung und Apolloniuskreis Gegeben ist eine Strecke AB (B A) und ein Streckfaktor k ( 1). Wo liegt das Streckzentrum S? Es gilt: SB = k SA Definition 3.3.1. Ist k 2 = k 1 = k (> 0), so wird die Strecke AB durch die Punkte S 1 und S 2 harmonisch geteilt. AS 1 = AS 2 BS 1 BS 2 = k Die Konstruktionsideen werden durch folgende Beispiele klar. Beispiel 3.3.2. Die Strecke AB soll harmonisch im Verhältnis 2 : 3 geteilt werden. 41

Beispiel 3.3.3. Kennt man die Strecke AB und einen Teilpunkt S, so ist der andere Teilpunkt T eindeutig bestimmt. Satz 3.3.4. Teilen die Punkte S und T die Strecke AB harmonisch im Verhältnis k, so teilen die Punkte A und B die Strecke ST auch harmonisch, und zwar im Verhältnis (Beweis in den Übungen!) λ = k + 1 k 1. Zeichnen Sie im Dreieck ABC die Winkelhalbierende des Winkels γ. Diese schneidet die gegenüberliegende Seite AB = c im Punkt D. In welchem Verhältnis teilt D die Seite c? 42

Satz 3.3.5. a) In einem Dreieck teilt die Winkelhalbierende eines Innenwinkels die gegenüberliegende Seite im Verhältnis der anliegenden Seiten. b) Ist das Dreieck nicht gleichschenklig, so teilt auch die Winkelhalbierende des Aussenwinkels die gegenüberliegende Seite im Verhältnis der anliegenden Seiten. Damit erhalten wir den berühmten Satz des Apollonius. Satz 3.3.6. Kreis des Apollonius Die Menge aller Punkte, für die das Abstandsverhältnis zu zwei festen Punkten A und B den konstanten Wert k annimmt, ist der Kreis mit dem Durchmesser ST, wobei S und T die Strecke AB harmonisch im Verhältnis k teilen. 43

Beispiel 3.3.7. Konstruieren Sie ein Dreieck aus den Seiten b = 6, c = 3und der Winkelhalbierenden w α = 3.5. Satz 3.3.8. Die Seitenhalbierenden eines Dreiecks schneiden sich in einem Punkt S, der jede Seitenhalbierende innen im Verhältnis 2 : 1 teilt. S heisst der Schwerpunkt des Dreiecks. Satz 3.3.9. In einem Dreieck schneiden sich die drei Winkelhalbierenden in einem Punkt. 44

3.4 Verschiedene Ähnlichkeitsabbildungen 3.4.1 Ähnlichkeitsabbildungen allgemein Satz 3.4.1. Eine Ähnlichkeitsabbildung ϑ ist durch drei nicht kollineare Punkte und ihre Bildpunkte eindeutig bestimmt. a) Zwei Dreiecke sind genau dann ähnlich, wenn zwei Winkel des einen Dreiecks gleich den entsprechenden Winkeln des anderen Dreiecks sind. b) Zwei Dreiecke sind genau dann ähnlich, wenn sie in den Verhältnissen der drei Seitenlängen übereinstimmen. a b = a b, a c = a c, α = α, β = β, γ = γ Satz 3.4.2. Eine Abbildung ist genau dann eine Ähnlichkeitsabbildung ϑ, wenn sie darstellbar ist als Verknüpfung einer Isometrie ϕ und einer zentrischen Streckungen Z S,k. ϑ = Ähnlichkeitsabbildung ϑ = Z S,k ϕ Beweis = : Ist ϕ eine Isometrie und Z S,k eine zentrische Streckung, so ist die Verknüpfung der beiden Abbildungen eine Ähnlichkeitsabbildung. = : Ist ϑ eine Ähnlichkeitsabbildung, dann ist sie durch 3 nicht kollineare Punkte und ihre Bilder eindeutig bestimmt. ϑ : ABC A B C 45

Man kann die Abbildung zum Beispiel zerlegen in eine Translation gefolgt von einer Rotation und einer zentrischen Streckung. ϑ = Z A,k R A,µ T AA 46

3.4.2 Drehstreckungen und Klappstreckungen Definition 3.4.3. Eine Drehstreckung ist die Verknüpfung einer zentrischen Streckung und einer Rotation mit demselben Zentrum. ϑ = R S,α Z S,k Es gilt: ϑ = R S,α Z S,k = Z S,k R S,α Spezielle Drehstreckungen i) α = 0: zentrische STreckung ii) k = 1: Rotation iii) k = 1, α = 0: Identität Es gilt weiter: Eine Drehstreckung, die nicht die Identität ist, hat genau einen Fixpunkt. Bei Drehstreckungen genügt es, positive k zu betrachten, denn ϑ = R S,α Z S,k = R S,α+180 Z S, k 47

Definition 3.4.4. EineKlappstreckung ist die Verknüpfung einer zentrischen Streckung und einer Geradenspiegelung, deren Achse durch das Streckzentrum geht. ϑ = S g Z S,k Es gilt: ϑ = S g Z S,k = Z S,k S g Spezielle Klappstreckung: k = 1: Geradenspiegelung Es gilt weiter: Eine Klappstreckung mit k 1 hat genau einen Fixpunkt. Satz 3.4.5. a) Die Verknüpfung einer gleichsinnigen Isometrie und einer zentrischen Streckung (k 1) ist eine Drehstreckung. b) Die Verknüpfung einer ungleichsinnigen Isometrie und einer zentrischen Streckung (k 1) ist eine Klappstreckung. 48

3.4.3 Noch zwei Sätze Satz 3.4.6. Die Verknüpfung zweier zentrischer StreckungenZ S2,k 2 Z S1,k 1 mit verschiedenen Zentren S 1 S 2 und k = k 2 k 1 ist: a) eine zentrische Streckung Z S,k, falls k 1. Das neue Zentrum S liegt auf der Geraden S 1 S 2 in folgender Lage S 1 S = 1 k 2 S1 S 2 1 k 1 k 2 b) eine Translation T v, falls k = 1. Der Vektor v ist parallel zur Geraden S 1 S 2 und es gilt v = (1 k 2 ) S 1 S 2 Satz 3.4.7. Gegeben sind eine Translation T v und eine zentrische Streckung Z S,k (k 1). Dann ist die Verknüpfung wieder eine zentrische Streckung. Z S,k T v = Z S,k, wobei SS = k 1 k v. 49

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Kapitel 4 Kreisgeometrie 4.1 Kreiswinkelsätze Definition 4.1.1. 1. Zwei Punkte A und B auf einem Kreis k teilen diesen in zwei zueinander komplementäre Bögen. Die Strecke AB = s heisst Sehne. 2. Ist b ein Kreisbogen mit Endpunkten A und B und liegt der Punkt C auf b, so heisst der Winkel γ = ACB Peripheriewinkel (Umfangswinkel) zum Bogen b. 3. Der Winkel µ = AM B Zentriwinkel Mittelpunktswinkel) zum Bogen b. 4. Die Tangente t an den Kreis k in A steht senkrecht auf dem Berührradius r = AM, sie bildet mit der Sehne AB den Sehnentangentenwinkel α. 51

Satz 4.1.2. a) Ein Peripheriewinkel über einem Kreisbogen ist halb so gross wie der zugehörige Zentriwinkel und gleich gross wie der zugehörige Sehnentangentenwinkel. b) Alle Peripheriewinkel über demselben Bogen sind gleich gross. c) Die Peripheriewinkel auf verschiedenen Seiten einer Sehne ergänzen sich auf 180. Zwei Beweise 1. klassisch 2. mit Geradenspiegelungen 52

Bemerkung 4.1.3. a) Spezialfall: Thaleskreis s = Durchmesser, γ = 90 b) Sehnenviereck α + γ = 180 β + δ = 180 Definition 4.1.4. Der Kreisbogen, auf dem die Scheitelpunkte aller gleich grossen Peripheriewinkel liegen, heisst Ortsbogen (Fasskreisbogen) über der Sehne s. Grundkonstruktion des Ortsbogenpaares Gegeben ist die Strecke AB der Länge s = 6 und der Winkel β = 60. Konstruieren Sie das Ortsbogenpaar über AB zum Winkel β. 53

Es gilt auch die Umkehrung des vorherigen Satzes. Satz 4.1.5. Sieht man die Strecke AB von einem Punkt P aus unter dem Winkel γ, dann liegt P auf dem Ortsbogen-Paar über AB zum Winkel γ. Beweis P innerhalb Ortsbogen P ausserhalb Ortsbogen Damit gelangt man zu einem neuen geometrischen Ort. 54

Satz 4.1.6. Der geometrische Ort aller Punkte, von denen aus eine Strecke unter dem Winkel γ erscheint, ist das Ortsbogen-Paar über der Strecke zum Winkel γ. Beispiel 4.1.7. Konstruieren Sie ein Dreieck, wenn folgende Grössen bekannt sind. b = 4cm, h b = 3cm, β = 60 55

4.2 Sehnensätze Satz 4.2.1. Sehnensatz Haben 2 Sehnen durch einen Punkt P im Inneren eines Kreises die Endpunkte A, A und B, B, so gilt: P A P A = P B P B Satz 4.2.2. Sekantensatz Haben 2 Sekanten durch einen Punkt P ausserhalb eines Kreises die Endpunkte A, A und B, B mit dem Kreis, so gilt: P A P A = P B P B 56

Satz 4.2.3. Sekanten-Tangentensatz Von einem Punkt P ausserhalb des Kreises berührt eine Tangente den Kreis im Punkt A und schneidet eine Sekante den Kreis in den Punkten B, B. Dann gilt: P A 2 = P B P B 57

4.3 Satzgruppe des Pythagoras Die meisten Menschen mit einer gewissen Schulbildung kennen den Satz von Pythagoras, und zwar nur in der Form a 2 + b 2 = c 2. Oft wissen sie aber nicht mehr, dass sich die Formel auf ein rechtwinkliges Dreieck bezieht. Am rechtwinkligen Dreieck benützt man oft die folgenden Bezeichnungen. a, b: Katheten c: Hypotenuse h: Höhe auf Hypotenuse p, q: Hypotenusenabschnitte 58

Satz 4.3.1. Kathetensatz des Euklid Das Quadrat über einer Kathete ist gleich dem Produkt von Hypotenuse und Hypotenusenabschnitt. Der Kathetensatz kann mit dem Sehenensatz bewiesen werden. Es gilt auch die Umkehrung des Kathetensatzes. Satz 4.3.2. Umkehrung des Kathensatzes Gilt für ein Dreieck ABC die Beziehung BC 2 = AB BD, wobei D der Höhenfusspunkt der Höhe von C auf AB, dann ist das Dreieck rechtwinklig bei C. 59

Satz 4.3.3. Höhensatz des Euklid Das Quadrat über der Höhe ist gleich dem Produkt der beiden Hypotenusenabschnitte. Der Höhensatz kann mit dem Sekanten-Tangentensatz bewiesen werden. Es gilt auch die Umkehrung des Höhensatzes. Satz 4.3.4. Umkehrung des Höhensatzes Gilt für ein Dreieck ABC die Beziehung CD 2 = AD BD, wobei D der Höhenfusspunkt der Höhe von C auf AB, dann ist das Dreieck rechtwinklig bei C. Aus dem Katheten- und dem Höhensatz kann schliesslich der berühmte Satz von Pythagoras bewiesen werden. Es gibt natürlich hunderte von Beweisen dieser Sätze! 60

Satz 4.3.5. Satz von Pythagoras Die Summe der Quadrate über den Katheten ist gleich dem Quadrat über der Hypotenuse. a 2 + b 2 = c 2 Auch hier gilt die Umkehrung. Satz 4.3.6. Umkehrung des Satzes von Pythagoras Gilt für ein Dreieck ABC die Beziehung dann ist das Dreieck rechtwinklig bei C. BC 2 + AC 2 = AB 2 61

Anwendungen 1. Verwandeln Sie ein gegebenes Rechteck mit den Seitenlängen a und b in ein flächengleiches Quadrat sowohl mit dem Höhensatz wie auch mit dem Kathetensatz. 2. Konstruieren Sie 6 auf zwei Arten, indem Sie die Gleichungen 6 = 1 6 und 6 = 2 3 verwenden. 3. Ein Quadrat mit der Seite a = 5cm soll in ein flächengleiches Rechteck mit den Seitenlängen b, c verwandelt werden, so dass gilt a) b + c = 11cm b) b c = 6cm 4. Ein Parallelogramm mit a = 6cm, h a = 1cm, α = 45 soll unter Beibehaltung des Winkels α in ein flächengleiches Parallelogramm verwandelt werden. Die folgende Figur zeigt zwei flächengleiches Parallelogramme. 62

4.4 Orthogonale Kreise Definition 4.4.1. Zwei Kreise schneiden sich orthogonal, wenn sich die Tangenten im Schnittpunkt senkrecht schneiden. Satz 4.4.2. orthogonale Kreise - harmonische Teilung 1. Schneiden sich zwei Kreise orthogonal, so wird jeder Durchmesser des einen Kreises vom anderen Kreis harmonisch geteilt. 2. Wird der Durchmesser eines Kreises durch einen anderen Kreis harmonisch geteilt, so schneiden sich die beiden Kreise orthogonal. 63

4.5 Pol und Polare Wir konstruieren von einem Punkt P ausserhalb eines Kreises k die Tangenten an den Kreis und verbinden die Beü hrungspunkte. Diese Verbindungsgerade p untersuchen wir nun näher. Für jeden Punkt X p gilt wegen des Kathetensatzes MX cos ϕ MP = r 2 (4.1) Definition 4.5.1. Die durch (4.1) definierte Gerade p heisst die Polare des Kreises k zum Pol P. Die Gleichung (4.1) gilt auch im Grenzfall P p. 64

Liegt der Punkt P innerhalb des Kreises k, so liegt die Polare p ausserhalb. Satz 4.5.2. Sei p die Polare des Kreises k zum Pol P. (i) Für Q p gilt: Die Polare q zum Pol Q geht durch P. (ii) Für q P gilt: Der Pol Q zur Polaren q liegt auf p. 65

4.6 Inversion am Kreis Gegeben ist ein Kreis mit Mittelpunkt M und Radius r. Definition 4.6.1. Die Abbildung ϕ sei folgendermassen definiert: ϕ : P P (P M), so dass P auf der Halbgeraden von M nach P liegt : P g + = (MP ) + MP MP = r 2 ϕ heisst Spiegelung am Kreis k oder Inversion am Kreis k. Bei der Inversion am Kreis k werden alle Punkte innerhalb von k (ausser dem Punkt M) auf Punkte ausserhalb von k abgebildet und umgekehrt. Satz 4.6.2. Eigenschaften der Inversion am Kreis 1. ϕ ist bijektiv. 2. Fixpunkte von ϕ sind genau die Punkte der Kreislinie k. 3. Jede Gerade durch M (ohne M) wird auf sich abgebildet. 66

4. Jede Gerade, die nicht durch M geht, wird auf einen Kreis durch M (ohne M) abgebildet und umgekehrt. 5. Jeder Kreis, der nicht durch M geht, wird auf einen Kreis abgebildet, der auch nicht durch M geht. 6. Ein Kreis ist genau dann ein Fixkreis, wenn er den Inversionskreis rechtwinklig schneidet. Bemerkung 4.6.3. Die Inversion am Kreis ist ein Beispiel einer Abbildung, die nicht geradentreu ist. Beispiel 4.6.4. schwierig! Gegeben sind 2 Kreisek 1, k 2 und ein Punkt P. Konstruieren sie einen Kreis k durch P, der die beiden Kreise k 1 und k 2 berührt. Eine Anwendung Wie fängt ein Mathematiker einen Löwen in der Wüste? - Er stellt sich in einen kreisrunden Käfig und muss nur aufpassen, dass sich der Löwe ausserhalb des Käfigs befindet. Mit einer Inversion am Kreis ist der Löwe im Käfig gefangen und unser Mathematiker ist frei. Was passiert, wenn sich unser Mathematiker anfangs genau in die Mitte gestellt hat? - Er landet im Jenseits. 67

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Kapitel 5 Goldener Schnitt Die Geometrie birgt zwei grosse Schätze: der eine ist der Satz von Pythagoras, der andere ist der Goldene Schnitt. Den ersten können wir mit einem Scheffel Gold vergleichen, den zweiten dürfen wir ein kostbares Juwel nennen. Johannes Kepler, 1571 Ð 1630. Der Goldene Schnitt ist das wohl berühmteste Zahlenverhältnis. Abbildung 5.1: Pentagramm: auch wichtiges Zeichen in der Magie (Drudenfuss: Schutzzeichen von Hexen und Druden). In der Antike ist das Pentagramm ein Symbol f ü dunkle, unergründliche Zusammenhänge. Es war das Erkennungszeichen des pythagoräischen Geheimbundes. Beim pythagoräischen Weltbild beruhen alle Harmonien auf ganzzahligen Verhältnissen. 69

Abbildung 5.2: Rathaus Leipzig 70

5.1 Was ist der Goldene Schnitt? Aufgabe Untersuchen Sie das regelmłssige F nfeck. Zeichnen Sie die Diagonalen. Welches ist das VerhŁltnis von Diagonale zu Seite? 71

Hippasos von Metapont hat aber schon um 450 v. Chr. entdeckt, dass gerade im Pentagramm das Verhältnis von Diagonale zu Seite kein gemeinsames Mass enthält; das Verhältnis ist also irrational. Dies haben Sie in der obigen Aufgabe herausgefunden. σ = Seite Diagonale = s d τ = Diagonale Seite = d s Die Verhältnisse σ und τ sind irrationale Zahlen. In der Geometrie kommen diese Verhältnisse auch in anderen Zusammenhängen vor. Definition 5.1.1. Der Punkt T teilt die Strecke AB stetig oder im im Goldenen Schnitt, wenn gilt: Die ganze Strecke d verhält sich zum längeren Abschnitt s, wie der längere Abschnitt s zum kürzeren d s. Abbildung 5.3: stetige Teilung Der länger Abschnitt heisst Major, der kürzere Minor. Ähnliche Dreiecke: ABD BT A AD AB = AB BT d s = s d s τ = 1 τ 1 τ = 1 σ = σ 1 σ τ 2 τ 1 = 0 τ = σ 2 + σ 1 = 0 σ = 5 + 1 2 5 1 2 72

Abbildung 5.4: reguläres Fünfeck - Pentagramm 5.2 Konstruktionen des Goldenen Schnitts und Eigenschaften Die Strecke d = 10 cm soll im Goldenen Schnitt geteilt werden. Warum besitzen d und s kein gemeinsames Mass m? Hätten d und s ein gemeinsames Mass m, dann gäbe es natürliche Zahlen p und q, so dass d = p m und s = q m. Dann wäre d s = p q Q. Beweisidee von Hippasos Hippasos von Metapont (ca. 450 v. Chr.) war ein griechischer Mathematiker aus dem 73

Abbildung 5.5: gemeinsames Mass? Kreis der Pythagoräer. Nach den Überlieferungen hat Hippasos zur glänzenden antiken Musiktheorie Wesentliches beigetragen. Er entwickelte Tonleitertheorien und Ähnliches. Abbildung 5.6: Hippasos Auch wird heute angenommen, dass er es war, der die berühmte Inkommensurabilität von Seite und Diagonale im Fünfeck (Pentagramm), dem pythagoräischen Ordenssymbol, fand. 74

Versucht man nämlich durch Wechselwegnahme zwischen Seite und Diagonale eine kleinste gemeinsame Teilstrecke zu finden, so stösst man auf ein kleineres Pentagramm, in dem die Streckenverhältnisse wieder der Ausgangssituation gleich sind und so weiter. Es gibt die Legende, dass die Pythagoräer Hippasos im Meer ertränkt haben sollen, weil er diesen berühmten Beweis veröffentlicht hat. Eine andere Beweisidee Abbildung 5.7: Hippasos Fügt man Fünfecke so aneinander, dass die Seite s n des n-ten Fünfecks die Diagonale d n+1 des d n+1 -ten Fünfecks wird, so gilt für jedes n: d n+1 = s n d n s n = s n s n+1 = d n+1 s n+1 τ = d n s n = d n+1 s n+1 = Hätten d n und s n ein gemeinsames Mass m, dann hätten es auch d n+1 und s n+1. Nun werden aber die Fünfecke mit wachsendem n immer kleiner, also kleiner als jedes Mass m. Das ist nicht möglich, also gibt es kein gemeinsames Mass m. Der Name Goldener Schnitt ist im 19. Jahrhundert entstanden, wahrscheinlich aus sectio divina (Kepler) undregula aurea (goldene Regel). Der Goldene Schnitt spielt in der Kunst eine grosse Rolle. Warum der Name stetige Teilung? - Trägt man bei einer stetig geteilten Strecke a den Minor (die kürzere Strecke) auf dem Major s (längere Strecke) ab, so wird diese wieder im Goldenen Schnitt geteilt. (Beweis?) 75

Weitere Beziehungen von τ und σ Da τ > 0 und τ 2 = 1 + τ, erhalten wir für τ die Wurzelfolge τ = 1 + τ = 1 + 1 + τ = 1 + 1 + 1 + τ = 1 + 1 + 1 + 1 +... Für σ gilt 1 = σ 2 + σ = σ(σ + 1), also σ = 1 1+σ Kettenbruch σ = 1 1 + σ = 1 1 + 1 1+σ = und damit erhalten wir für σ den 1 1 + 1 1+ 1 1+σ 1 1 1 + 1+ 1 1+ 1+... 1 Man kann auch Näherungswerte für σ berechnen: σ 7 = 0.619... ist ein guter Näherungswert für σ = 0.618dots. Vergleichen Sie das Rechteck R mit den Seitenlängen 13 und 21 und das Goldene Rechteck mit den Seitenlängen 13 und 13τ (= 21.034)! Vergleichen Sie auch die Zahlenfolge der Zähler sowie diejenige der Nenner! Sie erkennen bestimmtdie Fibonacci-Folge. 76

5.3 Goldene Rechtecke und Dreiecke Definition 5.3.1. Ein Rechteck mit SeitenverhŁltnis heisst Goldenes Rechteck. Goldene Dreiecke sind gleichschenklige Dreiecke mit SeitenverhŁltnis Somit gibt es spitzwinklige oder stumpfwinklige Goldene Dreiecke. Aufgabe Zeichnen Sie im regulären Fünfeck die beiden Arten Goldener Dreiecke ein. 77

Die Rechtecke R n mit den Seiten d n und s n sind Goldene Rechtecke. Die kürzere Seite des grösseren Rechtecks R n ist immer die längere Seite des nachfolgenden kleineren Rechtecks R n 1. Abbildung 5.8: Goldene Rechtecke Bemerkung: Mit Hilfe des Euklidischen Algorithmus zur Bestimmung des ggt zweier natürlicher Zahlen kann man schön zeigen, dass f r Goldene Rechtecke kein gemeinsames Mass der beiden Seiten existiert. Euklidischen Algorithmus zur Bestimmung des ggt von a und b (a > b) ggt (a, b) = ggt (b, a b) =... denn aus ggt (a, b) = m, folgt a = pm und b = qm fürp, q N, also a b = m(p q). z.b. ggt (15, 9) = ggt (9, 6) = ggt (6, 3) = ggt (3, 3) = 3. Zeichnen Sie dazu ein Rechteck mit Seitenlängen 15 und 9. Von diesem Rechteck nimmt man solange ein Quadrat (Seitenlänge = kleinere Rechteckseite) weg, bis ein Quadrat übrig bleibt. Mit diesem Quadrat lässt sich das gegebene Rechteck auspflastern, seine Seite ist das grösste gemeinsame Mass der Rechteckseiten. Folgerung Erscheint beim Verfahren des Euklidischen Algorithmus ein Rechteck, das zum gegebenen ähnlich ist, so kann nie ein Quadrat übrig bleiben, es gibt also kein gemeinsames Mass der Rechteckseiten. 78

Beispiele 1. In Rechtecken des DIN-Formats ist das Verhältnis der Seiten 2 Vergleichen Sie die beiden Rechtecke! Abbildung 5.9: DIN-Rechteck und Näherung 2. Vergleichen Sie das Goldene Rechteck mit dem Seitenverhältnis τ und ein Rechteck mit Seitenverhältnis zweier aufeinander folgender Fibonacci-Zahlen. 79

Abbildung 5.10: Goldenes Rechteck und Näherung 5.4 Weitere Konstruktionen mit dem Goldenen Schnitt 1. Goldenes Rechteck mit gegebener Breite b 2. Reguläres 5- Eck mit gegebener Seite s 3. Reguläres 5- Eck und 10-Eck mit gegebenem Umkreis r 80

Kapitel 6 Reguläre Polygone Abbildung 6.1: Max Bill 81

6.1 Definitionen und Berechnungen Definition 6.1.1. 1. Ein Polygon ist ein Streckenzug. Dieser kann geschlossen oder offen sein. (Wir betrachten nur ebene Polygone.) Die Ecken werden aufeinander folgend nummeriert: A 0, A 1,..., A n. Gilt A 0 = A n, so ist das Polygon geschlossen. Abbildung 6.2: Polygone 2. Ein geschlossenes ebenes Polygon heisst konvex, wenn mit je zwei Punkten im Innern des Polygons auch deren Verbindungsstrecke im Innern liegt. Abbildung 6.3: Polygone 3. Ein geschlossenes Polygon heisst regulär, wenn alle Seite gleich lang und alle Innenwinkel gleich gross sind. 82

Kreisteilung Zu jedem n 3 gibt es ein konvexes reguläres n-eck: Ê 1. Konstruieren Sie ein reguläres Sechseck (und ein reguläres Sternsechseck). 2. Reguläres n -Eck Abbildung 6.4: Kreisteilung Für festes n sind je zwei konvexe reguläre n-ecke ähnlich. Bezeichnungen am regulären n-eck: s n = Seite r n = Umkreisradius ρ n = Inkreisradius Welche Zusammenhänge bestehen zwischen s n, r n, ρ n? Berechnen Sie die Innenwinkel des regulären n-ecks. Welches ist der Flächeninhalt? 83

6.2 Konstruktionen regulärer n-ecke mit Zirkel und Lineal Euklid schränkte die für die Konstruktion zulässigen Hilfsmittel ein auf Zirkel und Lineal. In seinem Standardwerk Elemente (um 300 v. C.) gibt er Konstruktionen für das gleichseitige Dreieck, das Quadrat, das regelmässige Fünf- und Fünfzehneck an. Durch fortgesetzte Winkelhalbierung können also die folgenden n-ecke konstruiert werden. n = 3, 6, 12, 24,... n = 4, 8, 16, 32,... n = 5, 10, 20, 40,... n = 15, 30, 60, 120,... Welche weiteren regulären n-ecke kžnnen mit Euklids Hilfsmittel konstruiert werden? Carl Friedrich Gauss (1777-1855) hat diese Frage mit 19 Jahren beantwortet. Satz von Gauss Ein reguläres n-eck kann dann und nur dann mit Zirkel und Lineal konstruiert werden, wenn in der Primfaktorzerlegung von n jeder ungerade Primfaktor eine Fermat-Zahl F k ist und nur in erster Potenz vorkommt. Die k-te Fermat-Zahl ist definiert durch Also gilt F k = 2 (2k ) + 1 reguläres n-eck mit Zirkel und Lineal konstruierbar n = 2 i F l F m Fermat-Zahlen F 0 = 3 Primzahl F 1 = 5 Primzahl F 2 = 17 Primzahl F 3 = 257 Primzahl F 4 = 665537 Primzahl F 5 = 232 + 1 = 4294967297 = 641.6700417 keine Primzahl (Fermat hielt diese Zahl fälschlicherweise für prim.) Auch für die nächsten 11 Wertek = 6, 7,... 15, 16 ist die Fermat-Zahl keine Primzahl. 84

UZH Geometrie HS10 Kleines Fermat-Problem Es ist eine offene Frage, ob es ausser F0 F4 noch weitere Fermat-Zahlen gibt, die prim sind! Nicht mit Zirkel und Lineal konstruierbar sind also die folgenden regulären n-ecke: n = 7, 9 (= 32 ), 11, 13, 18 (= 2 32 ), 19, 114(= 2 3 19),... H.W. Richmond fand 1893 eine einfache Konstruktion des reguläres 17-Ecks. Gauss hat nur bewiesen, dass das 65 537-Eck konstruierbar ist. Johann Gustav Hermes hat dieses Polygon konstruiert. Man kann dies nachlesen in Über die Teilung des Kreises in 65537 gleiche Teile. Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu GŽttingen, Math.-Phys.Klasse, Bd. 1894, Heft 3, S. 170-186. Hermes war Mathematiklehrer in Lingen, arbeitete 10 Jahre am regulären 65537-Eck und deponierte das Manuskript in einem grossen, flachen Handkoffer im mathematischen Institut der Universität Göttingen. Dieses Diarium der Kreisteilung enthält auf 191 Blättern vom Format 47cm 55 cm Konstruktionen und riesige Tabellen. Felix Klein hat Hermes f r diese Fleissarbeit den Doktortitel der Universität Göttingen verliehen (datiert 1879, Königsberg in Preussen). Die Richtigkeit der Konstruktion hat wohl nie jemand nachgeprüft. Abbildung 6.5: Konstruktion des 65537-Ecks 85

6.3 Zwei Näherungskonstruktionen des regulären Siebeneck Abbildung 6.6: Dobrodaner Ornament: reguläres 7-Eck 1. Glaserkonstruktion Gegeben ist der Umkreis mit MittelpunktM und Radius r. AE sei ein Durchmesser, D die Mitte von EM. Die Senkrechte zu AE durch D schneidet den Kreis in B und C. Wie gross ist der absolute Fehler? s 7 BD = s 3 2 86

2. Schreinerkonstruktion Gegeben ist wieder der Umkreis mit MittelpunktM und Radius r. MB senkrecht auf Durchmesser AA Durchmesser in n (= 7) gleiche Teile teilen Strecken MA und MB um je ein Teilstück des Durchmessers verlängern Strecke ED schneidet den Kreis in F und G C ist von A aus der 3. Teilpunkt des Durchmessers Wie gross ist hier der absolute Fehler? s 7 CF Bemerkung: In gleicher Weise kann das reguläre 9-, 11-, 13-Eck konstruiert werden. C bleibt immer der 3. Teilpunkt.. 87

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Kapitel 7 Symmetrien 7.1 Gruppen Geometrische und algebraische Untersuchungen werden vergleichbar wegen ihrer Strukturen. Definition 7.1.1. Eine Verknüpfung auf einer Menge M ist eine Abbildung, die zwei Elementen von M wieder ein Element von M zuordnet. : M M M, (x, y)?x y M. Die Verknüpfung heisst assoziativ, falls gilt: x (y z) = (x y) z Beispiel 7.1.2. assoziative Verknüpfungen 1. M = Menge aller Abbildungen ϕ einer Menge A auf sich. Die Verknüpfung sei definiert als Hintereinanderschachtelung von Abbildungen. Dann ist sie assoziativ. (ϕ 1 ϕ 2 )(x) = ϕ 1 [ϕ 2 (x)] ϕ 1 (ϕ 2 ϕ 3 ) = (ϕ 1 ϕ 2 ) ϕ 3 = ϕ 1 ϕ 2 ϕ 3 2. (N, +) : Die Menge der natürlichen Zahlen mit der Addition als Verknüpfung + : N N N, (x, y) x + y 89

3. (N, +) : Die Menge der natürlichen Zahlen mit der Multiplikation als Verknüpfung + : N N N, (x, y) x y Definition 7.1.3. Eine Gruppe (G, ) besteht aus einer Menge G und einer assoziativen Verknüpfung, so dass gilt: : G G G, (x, y) x y G. (i) Es gibt ein Element e, das neutrale Element von G, mit der Eigenschaft:. a e = e a = a a G (ii) Zu jedem Element a G gibt es das inverse Element a 1 mit der Eigenschaft:. a G a G : a a 1 = a 1 a = e Eine Gruppe heisst Abelsch, falls die Verknüpfung kommutativ ist. Beispiel 7.1.4. Gruppen 1. (Z, +) : Die Menge aller ganzen Zahlen mit der Addition als Verknüpfung ist eine Gruppe. + : Z Z Z, (x, y) x + y Das neutrale Element ist 0, das zu x inverse Element ist x. 2. (Q, ) : Die Menge aller von 0 verschiedenen rationalen Zahlen mit der Multiplikation als Verknüpfung ist eine Gruppe. + : Q Q Q, (x, y) x y Das neutrale Element ist 1, das zu x inverse Element ist x 1 = 1 x. Eigenschaften von Gruppen Ist (G, ą ) eine Gruppe, so ist das Neutralelement e eindeutig bestimmt. Ist (G, ą ) eine Gruppe, so ist das inverse Element eindeutig bestimmt. 90

Definition 7.1.5. Zwei ebene Figuren F 1 und F 2 heissen kongruent, wenn es eine Isometrie ϕ gibt, so dass gilt: ϕ(f 1 ) = F 2 Man schreibt: F 1 = F2. Satz 7.1.6. Die Kongruenz von Figuren ist eine Äquivalenzrelation. Es gilt: 1. Reflexivität: F 1 = F1 2. Symmetrie: F 1 = F2 F 2 = F1 3. TransitivitŁt: F 1 = F2 und F 2 = F3 = F 1 = F3 91

7.2 Die Gruppe der Isometrien Die Isometrien der Ebene sind spezielle Abbildungen der Ebene. Definition 7.2.1. Iso = Menge aller Isometrien der Ebene (bzw. des Raumes) Satz 7.2.2. (Iso, ) ist eine Gruppe, die Isometrie-(Kongruenz-)gruppe der Ebene (bzw. des Raumes) auf sich. Sie heisst auch die Bewegungsgruppe der Ebene (bzw. des Raumes). Das neutrale Element ist die identische Abbildung id, das zu ϕ inverse Element ist ϕ 1. Die Gruppe ist nicht kommutativ. Definition 7.2.3. Ist M eine Teilmenge der Ebene (bzw. des Raumes), dann bezeichnet Iso(M) die Menge aller Isometrien von M auf sich selbst, also die Symmetrien von M. M kann auch die ganze Ebene (bzw. der ganze Raum) sein: Iso. Struktur von Iso(M) - Sind ϕ, ψ Iso(M), dann auch ϕ ψ Iso(M). - Jedes ϕ Iso(M) ist bijektiv und ϕ 1 Iso(M). Definition 7.2.4. Sei (G, ) eine Gruppe. Eine Teilmenge H von G heisst Untergruppe von (G, ), wenn folgendes gilt: e H, g h H g, h H, g 1 H g H Satz 7.2.5. (Iso(M), ) ist eine Untergruppe von (Iso, ). Iso(M) nennt man auch die volle Symmetriegruppe von M. 92

Beispiel 7.2.6. Symmetriegruppe des gleichseitigen Dreiecks. G = {ϕ 1, ϕ 2, ϕ 3, ψ 1, ψ 2, id} Die 3 Abbildungen ϕ i sind die Spiegelungen an den Seitenhalbierenden; die ψ i sind die Rotationen um 120 bzw. um 240. Welche Teilmengen von G bilden mit der Verknüpfung eine Untergruppe? 93

7.3 Die Gruppe der Ähnlichkeitsabbildungen Satz 7.3.1. Die Menge der Ähnlichkeitsabbildungen mit der Verknüpfung von Abbildungen bildet eine Gruppe. Satz 7.3.2. Untergruppen der Ähnlichkeitsabbildungsgruppe sind: 1. die Menge der gleichsinnigen Ähnlichkeitsabbildungen Dagegen bildet die Menge der ungleichsinnigen Ähnlichkeitsabbildungen keine Untergruppe. 2. die Menge Dilatationen (wegen der Sätze 16 und 17) 3. die Menge der Translationen, sogar eine kommutative Untergruppe der Gruppe der Dilatationen. 4. die Menge der zentrischen Streckungen mit gleichem Zentrum, eine kommutative Gruppe. Das gilt nicht für zentrischen Streckungen mit verschiedenen Zentren. 5. die Menge aller Drehstreckungen mit gleichem Zentrum, eine kommutative Gruppe. 6. die Menge aller Drehstreckungen und Klappstreckungen mit einem gemeinsamen Fixpunkt S, eine nicht kommutative Gruppe. 94

7.4 regelmässige Vielecke Definition 7.4.1. 1. Eine Figur F heisst symmetrisch, wenn es mindestens eine Isometrie ϕ( id) gibt, die F auf F abbildet. 2. Gilt ϕ(f ) = F, dann heisst ϕ eine Symmetrie von F. Eine ebene Figur F kann folgende Symmetrien aufweisen: - achsensymmetrisch - punktsymmetrisch - rotationssymmetrisch - translationssymmetrisch - schubspiegelsymmetrisch Satz 7.4.2. Die Menge der Symmetrien einer Figur bildet bezüglich der Verknüpfung von Abbildungen eine Gruppe. Satz 7.4.3. Jedes reguläre n-eck besitzt 2n Symmetrien, nämlich - n Rotationen (Sie bilden die Drehgruppe des n -Ecks) - n Achsenspiegelungen Definition 7.4.4. Die Symmetriegruppe des regulären n-ecks heisst Diedergruppe D n. (Dieder heisst Zweiflächner, Polyeder Mehrflächner) D 1 = Abbildungsgruppe eines gleichschenkligen Dreiecks (oder eines Drachenvierecks) D 1 = {id, s a } 95

D 2 = Diedergruppe des SZweiecks", Abbildungsgruppe eines Rechtecks D 2 = {id, s a, s b, s M }Kleinsche Vierergruppe D 3 =Diedergruppe des gleichseitigen Dreiecks D 3 = {id, s a, s b, s c, R S,120, R S,240 } R 3 = {id, R S,120, R S,240 } R 3 = ist die Drehgruppe des gleichseitigen Dreiecks; sie ist eine zyklische Untergruppe von D 3, wobei R S,120 die Untergruppe R 3 erzeugt. 96

D 4 = Diedergruppe des Quadrates (und ihre Untergruppen, Haus der Vierecke) 97

7.5 Bandornamente Bis jetzt untersuchten wir die Symmetriegruppen von Vielecken. Diese bestehen immer aus endlich vielen Geradenspiegelungen, Punktspiegelungen und Rotationen. Nimmt man noch die Translationen dazu, kann man Parkettierungen und Bänder untersuchen. Ein Bandornament ist ein Bandmuster mit fester Höhe, das sich auf beide Seiten unendlich fortsetzt und (mindestens) Translationssymmetrie aufweist. Welche Symmetrien weisen die obigen Bänder auf? Suchen Sie noch weitere Bandornamente mit anderen Symmetrien. Wie viele verschiedene Klassen finden Sie? 98

Die 7 Symmetrieklassen der Bandornamente Die einfachste Symmetrieklasse besitzt nur Translationssymmetrie. Die weiteren Symmetrieklassen können Achsensymmetrien an vertikalen Achsen und an der Mittelparallelen oder auch Punktsymmetrien und Schubspiegelungen aufweisen. (Die folgenden Beispiele f r die Symmetrieklassen sind einem Skript von Hans Walser von der Uni Basel entnommen.) Abbildung 7.1: Symmetrieklasse F 1 : nur Translation Abbildung 7.2: Symmetrieklasse F 2 : Translationen, Punktspiegelungen Abbildung 7.3: Symmetrieklasse F 3 : Translationen, Spiegelung an horizontaler Achse Abbildung 7.4: Symmetrieklasse F 4 : Translationen, Spiegelungen an vertikalen Achsen 99

Abbildung 7.5: Symmetrieklasse F 5 : Translationen, Punktspiegelungen, Spiegelung an horizontaler Achse, Spiegelungen an vertikalen Achsen Abbildung 7.6: Symmetrieklasse F 6 : Translationen, Punktspiegelungen, Spiegelungen an vertikalen Achsen Abbildung 7.7: Symmetrieklasse F 7 : Translationen, Schubspiegelung 100

7.6 Flächenornamente (Parkette) Ein Flächenornament ist eine Figur der Ebene, die zwei Translationssymmetrien besitzt, und zwar in 2 Richtungen. Die beiden Translationen werden durch zwei linear unabhängige Vektoren u und v bestimmt, so dass jede Translation um den Vektor w = λ u + µ v (λ, µ Z) die Figur auf sich selbst abbildet. Wählt man die beiden Vektoren u und v mit möglichst kleiner Länge, so heisst das von aufgespannte Parallelogramm ein Elementarbereich des Flächenornaments. Alle Elementarbereiche haben aber den gleichen Flächeninhalt. Abbildung 7.8: c 1949 M:C: Escher Foundation - Baarn - Holland. All rights reserved Die 17 Symmetrieklassen der Flächenornamente Auch bei zweidimensionalen Flächenornamente gibt es nur endlich viele Symmetrieklassen. Der Kristallograph E. S. Fedorov hat 1891 gezeigt, dass es 17 Symmetrieklassen gibt. Diese wurden 1924 von George Polya (1887-1985, ETH Zürich und Stanford) und Paul Niggli (1888-1953, ETH und UNI Zürich) wiederentdeckt. 101

Abbildung 7.9: aus L Tarassow. Symmetrie, Symmetrie, Spektrum Verlag, Heidelberg, Berlin, 1999. 102

Kapitel 8 Euklidische und Nichteuklidische Geometrien 8.1 Axiomensystem der ebenen euklidischen Geometrie Euklids Elemente bestehen aus 13 Büchern. Sie haben kein Vorwort, keine Einleitung. Es werden keine Ziele formuliert, keine Motivation, kein Kommentar. Das Werk beginnt abrupt mit 23 Definitionen. Definition 8.1.1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat. Abbildung 8.1: Wo ist der Punkt? Wie gross ist ein Punkt? Euklids Elemente unterscheiden sich von den heutigen axiomatischen Theorien wesentlich. Euklid definiert auch die Grundbegriffe: Punkte, Geraden, Ebenen. Heute verzichtet man meist auf solch exakte Definitionen der Grundbegriffe. 103

Seit David Hilbert(1862-1943) werden in Axiomensystemen die Grundbegriffe nicht näher definiert, erhalten also keine inhaltliche Bedeutung. Dafür werden Eigenschaften gewisser Relationen zwischen den Grundbegriffen postuliert. Euklids Modell hat sich über mehr als 2000 Jahre bewährt in Naturwissenschaft, Technik und Kultur. Es wurde auch für andere Wissenschaften zum Vorbild wissenschaftlicher Darstellung von Theorien. Die sogenannte Euklidische Geometrie kann als die abstrakte Beschreibung unserer ebenen und räumlichen Erfahrung aufgefasst werden. Der Abdruck eines Axiomensystems ist dem folgenden Buch entnommen. H: Scheid, W. Schwarz: Elemente der Geometrie, Elsevier Spektrum akademischer Verlag, 4. Auflage, 2007, p. 247-250. 104

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8.2 Modelle nichteuklidischer Geometrien Der Anstoss zur weiteren Entwicklung der Geometrie hat das Parallelenaxiom gegeben, das besagt, dass es zu jeder Geraden durch jeden Punkt genau eine Parallele gibt. Man hat lange geglaubt, dass dieses Axiom aus den ersten vier hergeleitet werden kann. Erst als man Ende des 18. Jahrhunderts die Unabhängigkeit des Parallelenaxioms nachweisen konnte, war der Weg frei zu anderen Geometrien, den sogenannten nichteuklidischen Geometrien. Als erster erkannte Carl Friedrich Gauss (1777-1855), dass eine in sich widerspruchsfreie Geometrie entsteht, wenn man annimmt, dass zu einer Geraden durch einen nicht auf ihr gelegenen Punkt mehrere Parallelen gezogen werden kžnnen. Das war die "Geburt"der nichteuklidischen Geometrie. Aus Furcht vor dem Geschrei engstirniger Philosophen hat Gauss seine Ęberlegungen nicht veržffentlicht. Gauss, dann aber auch Janos Bolyai (1802-1860) und Nicolai Lobatschewsky (1793-1856) begründeten mit diesen neuen Gedanken die erste nichteuklidische Geometrie. Felix Klein (1849-1924) kreierte dafür den Namen hyperbolische Geometrie. (hyperbole heisst griechisch der Überschuss: in der neuen Geometrie gibt es einen Überschuss an parallelen zu einer Gerade durch einen Punkt!). Eine Geometrie ohne Parallelen heisst elliptisch und die Euklidische Geometrie parabolisch. 109

8.2.1 Beispiel einer elliptischen Geometrie Definieren wir auf der Kugeloberfläche die Grundbegriffe folgendernassen: Definition 8.2.1. PUNKT: Paar diametral entgegengesetzter Punkte GERADE: Grosskreis auf der Kugel Damit bestimmen 2 PUNKTE genau eine GERADE und 2 GERADEN genau einen PUNKT. Zu einer gegebenen Gerade gibt es durch einen PUNKT ausserhalb der GERADEN keine Parallele! Dies ist ein Beispiel einer Geometrie ohne Parallelen. Bemerkung 8.2.2. Eine elliptische Geometrie ist auf einer Fläche mit positiver Krümmung lokalisiert (z.b. Kugeloberfläche). Einsteins allgemeine Relativitätstheorie (1916) gilt in einer elliptischen Geometrie. Die Geometrie des Universums ist elliptisch, da dem Weltraum wegen der Verteilung der Massen im Gravitationsfeld eine positive Krümmung zugeschrieben wird. Nach Einstein ist der Krümmungsradius mindestens 1.5 10 7 Lichtjahre. Die euklidische Geometrie als parabolische Geometrie hat die Krümmung null. Eine hyperbolische Geometrie ist auf einer Fläche mit negativer Krümmung lokalisiert (z.b. auf einer Pseudosphäre). 110

8.2.2 Kleinsches Modell einer hyperbolischen Geometrie Das Kleinsche Modell einer hyperbolischen Geometrie heisst auch Bierdeckelgeometrie. Definition 8.2.3. Unter einer Ebene versteht man das Innere eines Kreises. Eine Gerade ist jede durch den Rand des Kreises begrenzte Strecke. Ein Punkt ist ein euklidischer Punkt im Kreisinnern. Dann ist jede Gerade, die nicht durch das Innere des Winkels AP B geht, eine Parallele zu g durch P. Die Bewegungen sind Spiegelungen, die durch Polarenspiegelungen definiert sind. (gewöhnliche Geradenspiegelung, falls g durch den Kreismittelpunkt geht.) Die Spiegelung ist involutorisch, d.h. S g S g = id. Die Axiome (13) bis (16) gelten. 111

Die Verknüpfungen von Spiegelungen sind invertierbar, damit ist Axiom (13) erfüllt, d.h. die Bewegungen bilden eine Gruppe bezüglich der Verknüpfung. Auch Axiom (14) ist erfüllt: Die Abbildung einer Strecke ist die Strecke der abgebildeten Endpunkte. (Axiome 15 und 16 nicht erklärt) Bemerkung 8.2.4. Die Länge einer Strecke ABim Kleinschen Modell wird folgendermassen definiert: Zuerst betrachtet man die Gerade (Sehne), auf der die beiden Punkte liegen. Diese Gerade hat die euklidischen Endpunkte U, V. Die Länge l der Strecke AB im Kleinschen Modell wird definiert durch die Gleichung ( l = l(ab) = AU ln BU : AV BV ) Dabei wird der natürliche Logarithmus genommen und AU (usw) sind die euklidischen Längen der entsprechenden Strecken. Ist dies eine vernünftige Längendefinition? 1. l(aa) = 0, denn ln 1 = 0 2. l(ab) = l(ba) 3. Nähert sich A dem (euklidischen) Punkt U, so wird lim A U l(ab) = 4. l(ab) = l(ac) + l(cb) für einen Punkt C auf AB. 5. Bei einer Spiegelung ändert sich die Länge nicht. Was heisst wohl orthogonal in diesem Modell? Der Mittelpunkt des die Kleinsche Ebene definierenden Kreises sei M. Warum ist die Menge der Punkte X in der Kleinschen Ebene mit der Eigenschaft l(xm = c, c > 0 ein euklidischer Kreis? 112

8.2.3 Poincaré- Modell einer hyperbolischen Geometrie Henri Poincaré (1854 Ð 1912) war ein berühmter französischer Mathematiker, Physiker und Philosoph, der wesentliche Beiträge zur Himmelsmechanik, Thermodynamik, Elektrizitätslehre und Optik veröffentlichte. Henri Poincaré und Felix Klein haben beide die wesentlichen Theorien, die im 19. und anfangs 20. Jahrhundert entstanden, zu einem krönenden Abschluss gebracht und sich in ihren späten Jahren mit allgemeinen Fragen beschäftigt, Poincaré mit philosophischen, Klein mit ädagogischen. Im Poincaré-Modell einer hyperbolische Geometrie ist die Ebene eine sehr grosse Kreisfläche oder eine Halbebene. Ebene Inneres C eines sehr Halbebene Σ, durch euklidische grossen Kreises k Gerade s begrenzt Punkt Euklidischer Punkt Euklidischer Punkt Gerade Kreisdurchmesser zu s orthogonale Halbgeraden Ê Kreisteile, die k orthogonal auf s orthogonale Halbkreise schneiden Ê Spiegelung gewöhnliche Geradenspiegelung, gewöhnliche Geradenspiegelung, an g wenn g Kreisdurchmesser wenn g zu s orthogonale Halbgerade Ê Inversion am Kreis, Inversion am Kreis, wenn g Kreisteil wenn g Halbkreis Dieses Modell kann auch in Form einer Geschichte erzählt werden. Dadurch kann man 113

technische Schwierigkeiten vertuschen und erhält trotzdem eine Idee einer nichteuklidischer Geometrie. Die folgende Geschichte stammt aus dem Buch von Trudeau (siehe Literaturliste) 114

115

8.2.4 Künstlerischer Abschluss Das Poincaré-Modell einer hyperbolischen Geometrie ist im Buch von H.S.M. Coxeter (1907-2003) illustriert. M. C. Escher (1898-1972), der bekannte niederländische Künstler, hat darin neue Möglichkeiten für seine Annäherungen an die Unendlichkeit gefunden. Abbildung 8.2: Coxeter: Poincaré-Modell Abbildung 8.3: Escher: Kreislimit I, 1958 116

Abbildung 8.4: Escher: Kreislimit I, 1959 117

Zum Abschluss noch etwas Poetisches von Christian Morgenstern (1871 Ð 1914) Die zwei Parallelen Ê Es gingen zwei Parallelen ins Endlose hinaus, zwei kerzengerade Seelen und aus solidem Haus. Ê Sie wollten sich nicht scheiden bis an ihr seliges Grab; das war nun einmal der beiden geheimer Stolz und Stab. Ê Doch als sie zehn Lichtjahre gewandert neben sich hin, da wardõs dem einsamen Paare nicht irdisch mehr zu Sinn. Ê WarÕn sie noch Parallelen? Sie wusstenõs selber nicht, sie flossen wie zwei Seelen zusammen durch ewiges Licht. Ê Das ewige Licht durchdrang sie, da wurden sie eins in ihm; die Ewigkeit verschlang sie, als zwei Seraphim. 118

Kapitel 9 Graphen und Algorithmen 9.1 Einführung Das klassische Einführunsproblem der Graphentheorie ist Das Königsberger Brücken Problem Die Abbildung zeigt die Stadt Königsberg im 18. Jahrhundert. Die beiden Arme des Flusses Pregel umfliessen die Insel, den Kneiphof. Es gibt insgesamt 7 Brücken ber den Fluss. Abbildung 9.1: Königsberg Ist es möglich, von der Insel aus einen Rundgang durch die Stadt zu unternehmen, wäh- 119

renddessen man jede Brücke genau einmal überquert und am Schluss zum Ausgangspunkt zurückkehrt? Leonhard Euler (1707 Basel Ð 1783 St.Petersburg) beantwortete 1736 diese Frage mit einer Methode, welche die moderne Graphentheorie begründete. Abbildung 9.2: Leonhard Euler Anwendungen: Optimierungsprobleme auf Graphen Gütertransport von Produzenten zu Verbrauchern soll kostenminimal werden Kostengünstiges Netz von Versorgungsleitungen und kostenminimaler oder grösster Durchfluss durch das Netz Kürzeste Wege in Verkehrsnetzen Tourenplanung: schnellst mögliche Belieferung von Kunden Terminplanung von Projekten Oft lassen sich sehr grosse Probleme (z.b. Verkehrsnetze mit Hunderten von Strassen) mit graphentheoretischen Methoden mit relativ geringem, d.h. polynomialem Rechenaufwand lösen. Aber es gibt auch sehr schwere Probleme, die wahrscheinlich nur mit exponentiellem Rechenaufwand zu lösen sind. Viele Probleme sind in populärer Form sehr bekannt und wirken eher wie eine Knobelaufgabe. Ihre Anwendungsmöglichkeiten sind heute mit den schnellen Computern aber 120

enorm. Aufgabe: Brunnenproblem Vor langer Zeit in einem fernen Königreich standen drei Häuser in einem Tal und es gab in der Nähe drei Brunnen und das Wasser war rein und klar. Es war ein friedliches Tal, solange bis Zwietracht dort einkehrte. Die drei Höfe fielen in Feindschaft und der Streit wollte kein Ende nehmen. An Versöhnung war nicht zu denken. Die Menschen in den drei Höfen bestanden darauf, drei direkte Pfade zu den drei Brunnen zu haben. Die Pfade sollten aber die der Nachbarn nicht kreuzen. Wenn es von jedem Hof aus diese Wege gäbe, wären alle zufrieden und im Tal könnte Frieden einkehren. Doch bis heute herrscht dort Streit. Kann es jemals Frieden geben? Mit zwei Brunnen ist das Problem einfach! Aber mit drei Brunnen ist es hoffnungslos! Skizzieren Sie das Problem mit 2 und 3 Brunnen. Im Kern handelt dieses Problem vom Zeichnen von Figuren in der Ebene ohne mit dem Stift abzusetzen. Sie kennen wohl aus ihrer Kindheit das Zeichnen der Laterne (auch Haus des Nikolaus genannt) Abbildung 9.3: Haus des Nikolaus Ein praktisches Beispiel dazu ist das Postbotenproblem.: Ein Briefträger muss in seinem Dorf allen Leuten die Post verteilen. Dazu muss er alle Strassen mindestens einmal durchlaufen. Welcher Weg ist der kürzeste? Kann man diesen Weg in vertretbarer Zeit berechnen? Ein weiteres Problem ist die Routenplanung, zum Beispiel im GPS. 121

Abbildung 9.4: GPS Abbildung 9.5: Verkehrsplan Ein anderes Beispiel handelt vom Design von Computerchips: Stehen in einem Schaltkreis die Positionen der einzelnen Komponenten auf der Platine schon fest, können dann die Verbindungen auf der Oberfläche ohne Kreuzungen verlaufen? Oder eine andere Frage: Welche Position der Komponenten und der Verdrahtung auf der Platine beansprucht den geringsten Platz? 122

Abbildung 9.6: Computerchips Solche angewandten Probleme gehžren zusammen mit dem Design effizienter Algorithmen allesamt zur Graphentheorie. 123

9.2 Grundbegriffe Eine einfache Struktur auf einer Menge wird erzeugt durch eine binäre Relation. Zwei Elemente stehen in einer vorgegebenen Beziehung oder eben nicht. Das sind genau die Graphen. Sie sind die fundamentale Datenstruktur der diskreten Mathematik. Definition 9.2.1. Ein Graph G(V, E) besteht aus einer endlichen Menge V und einer Menge E V V. Die Elemente von V heissen Ecken (Knoten, vertices) und die Elemente von Eheissen Kanten (edges). Beispiele 1. V = {1, 2, 3, 4, 5}, E = {{1, 2}, {1, 4}, {1, 56}, {2, 3}, {2, 4}, {4, 5}} 2. Graph zum Königsberger Brückenproblem Abbildung 9.7: Königsberger Brückenproblem 124

Definitionen 1. Ein Graph kann parallele Kanten (Mehrfachkanten) haben. 2. Eine Ecke kann mit sich selbst verbunden sein, eine solche Kante heisst Schlinge. 3. Eine Ecke, von der aus keine Kanten gehen, heisst isolierte Ecke. 4. Ein Graph ohne Mehrfachkanten und ohne Schlingen heisst einfach. 5. Ein Graph kann zusammenhängend oder nicht zusammenhängend sein (dann besteht er aus mehreren Teilen. 6. Zwei Ecken heissen benachbart (adjazent), wenn sie durch eine Kante miteinander verbunden sind. 7. Zwei Kanten heissen inzident, wenn sie eine Ecke gemeinsam haben. 8. Die Ordnung eines Graphen ist V = Anzahl Ecken. 9. Die Grösse des Graphen ist E = Anzahl Kanten. 125

10. Der Grad einer Ecke A ist die Anzahl Kanten, die von dieser Ecke ausgehen; er wird mit d(a) (degree) bezeichnet. Ist d(a) = 0, so ist A eine isolierte Ecke. Abbildung 9.8: Grad einer Ecke 11. Unter einem vollständigen Graphen K n mit n Ecken versteht man einen Graphen, bei dem jede Ecke mit jeder durch eine Kante verbunden ist. Abbildung 9.9: vollständige Graphen Wie viele Kanten hat ein vollständiger Graph mit n Ecken? 126

9.3 Über Grade von Ecken Beispiel: Tennisturniere Bei einem Tennisturnier spielt jeder gegen jeden einmal. Nach einer gewissen Zeit sind folgenden Spiele gespielt: Der Graph ist einfach, denn jeder spielt gegen jeden genau einmal und keiner spielt gegen sich selbst. Beim jetzigen Spielstand zählen wir nur die gespielten Spiele und nicht die Ergebnisse. Es gibt Leute, welche die gleiche Anzahl Spiele gespielt haben. Ist das bei jedem Turnier so? Welches sind die möglichen Spielstände bei n Personen? Abbildung 9.10: mögliche Spielstände F r n = 2, 3 gibt es jedes Mal mindestens 2 Personen mit der gleichen Anzahl Spiele; also 127

mindestens 2 Ecken mit demselben Grad. Das gilt sicher nicht, wenn der Graph nicht einfach ist, wie das folgende Beispiel zeigt. Abbildung 9.11: mögliche Spielstände Satz 9.3.1. In jedem einfachen Graph gibt es mindestens 2 Ecken mit demselben Grad. Beweis. Der Graph habe n Ecken (n = V ) 0 Eckgrad n 1 i) Eine Ecke a 1 habe den Grad n 1. Dann ist a 1 mit allen anderen Ecken verbunden und keine Ecke hat den Grad 0. Auf die n 1 verbleibenden Ecken müssen die Eckgrade 1, 2,..., n1 verteilt werden. Also muss eine Zahl zweimal vorkommen. ii) Keine Ecke hat den Grad n 1. Also müssen die Zahlen 0, 1, 2,..., n 2 auf n Ecken verteilt werden. Damit muss eine Zahl zweimal vorkommen. Satz 9.3.2. In jedem Graph ist die Summe der Grade der Ecken gleich der doppelten Anzahl Kanten. d(a i ) = 2 E a i V Beweis. Jede Kante verbindet 2 Ecken. Gibt es q Kanten, so hat es 2q Enden. Damit ist die Summe der Eckgrade gleich 2q. Bemerkungen 1. Dieser Satz gilt auch für nicht einfache Graphen, also Graphen mit Schlingen und Mehrfachkanten. 2. Der zweite Satz ist auch als handshaking lemma bekannt: In einer Gruppe von Menschen begrüssen sich einige per Handschlag andere nicht. Notiert man bei jedem, wie viele Hände er geschüttelt hat und addiert die Zahlen, so erhält man stets eine gerade Zahl. Aus dem zweiten Satz folgt sofort der nächste. 128

Abbildung 9.12: Beweis dritter Satz Satz 9.3.3. In jedem Graph ist die Anzahl der Ecken mit ungeradem Grad gerade. Beweis. Ist die Summe von ungeraden Zahlen gerade, so ist die Anzahl Summanden gerade. Definition 9.3.4. Zwei Graphen heissen isomorph, wenn der eine durch kontinuierliche Verformung aus dem anderen hervorgeht. Mathematisch heisst dies: Zwei Graphen sind isomorph, wenn es eine bijektive Abbildung f : V gilt: V gibt, so dass {x, y} E {f(x), f(y)} E Beispiele 1. Sind die beiden Graphen isomorph? 2. Skizzieren Sie einen Graphen, dessen Ecken die Grade 1, 2, 3, 4 haben. Gibt es einen einfachen solchen Graph? 3. Wie viele Kanten besitzt ein Graph mit n Ecken, wenn alle Ecken denselben Grad g haben? 4. Beschreiben Sie den Isomorphismus für die beiden Graphen. 129

Abbildung 9.13: Beispiel 4 Definition 9.3.5. 1. Eine Folge aufeinander folgender Kanten (e 1, e 2,..., e n ) mit e i = (v i 1, v i ) ist ein Kantenzug. Die Ecken v i (i = 0,..., n) müssen nicht notwendigerweise verschieden sein. 2. Ein Kantenzug heisst geschlossen, wenn v 0 = v n. 3. Ein Weg oder eine Kette ist ein Kantenzug, der jede Ecke höchstens einmal enthält. 4. Ein Kreis ist ein geschlossener Weg v 0 = v n. 130

9.4 Bäume Die Theorie der Bäume stammt ursprünglich aus der Chemie, entwickelt aus dem Studium der Kohlenwasserstoffverbindungen und anderer Isomere. Abbildung 9.14: Bäume in der Chemie Bäume sind die fundamentalen Bausteine der Graphen. Sie ergeben auch die geeignete Datenstruktur f r viele diskrete Probleme, vor allem f r Such- und Sortierprobleme. Definition 9.4.1. 1. Ein Graph heisst ein Baum, wenn er zusammenhängend ist und keine Kreise enthält. Ein Graph, dessen Komponenten Bäume sind, heisst ein Wald. Abbildung 9.15: Bäume mit höchstens 5 Ecken 2. G(V, E) sei ein zusammenhängender Graph. Ein Untergraph T von G heisst ein aufspannender Baum (spanning tree), wenn T ein Baum der Ordnung n = V ist. 131

Jeder zusammenhängende Graph besitzt aufspannende Bäume: Entweder ist G schon ein Baum oder G besitzt einen Kreis. Entfernt man von diesem Kreis eine Kante, so ist G immer noch zusammenhängend. Entweder haben wir jetzt schon einen aufspannenden Baum oder wir müssen noch eine Kante eines Kreises entfernen. Auf alle Fälle sind wir in endlich vielen Schritten fertig. Satz 9.4.2. Folgende Aussagen sind äquivalent: 1. G(V, E) ein Baum. 2. Je zwei Ecken in G sind durch genau einen Weg verbunden. 3. G ist zusammenhängend und es gilt: E = V 1. in Worten: Ein Baum hat eine Ecke mehr als Kanten. Weiter gilt für einen Baum T der Ordnung n 2 und der Gradfolge der Ecken (d 1, d 2,..., d n ) der folgende Satz. Satz 9.4.3. In einem Baum ist die Summe der Grade der Ecken gleich der doppelten Kantenzahl. n d k = 2(n 1) k=1 Frage: Wie viele aufspannende Bäume besitzt ein Graph? Ð Schwierigeres Problem Satz 9.4.4. Satz von Cayley Der vollständige Graph K n auf {1, 2,..., n} mit n 2 besitzt n n 2 aufspannende Bäume. 132

Frage: Wie findet man in einem Graphen einen aufspannenden Baum oder einen aufspannenden Wald? Wie erkennt man, ob ein Graph zusammenhängend ist? EIn Algorithmus zur Konstruktion eines aufspannenden Baums ist der folgende. BREADTH-FIRST-SEARCH (Breitensuche) 1. Wähle beliebige Ecke und gib ihr die Nummer 1: aktuelle Ecke 2. Aktuelle Ecke habe Nummer iund die Nummern 1,..., r seien vergeben. Falls r = n: STOP Sonst: Gib den nicht nummerierten Nachbarn von i die Nummern r + 1, r + 2,... und füge Kanten ein: i(r + 1), i(r + 2),... Falls i + 1 nicht existiert: STOP Beispiele Sonst: Gehe zur Eckei + 1, das ist die neue aktuelle Ecke, und iteriere 2. 1. Suchen Sie einen aufspannenden Baum mit dem Breath-First-Search-Algorithmus 2. G ist durch folgende Nachbarschaftslisten gegeben. Wenden Sie den Breath-First- Search-Algorithmus an und beantworten Sie damit die Frage, ob G zusammenhängend ist. 133

9.5 Minimal aufspannendebäume (Minimal Spanning Tree) Gegeben sei der Plan eines Kommunikationsnetzes mit Kosten f r den Leitungsbau. Die Schaltelemente sind die Ecken, die Verbindungen zwischen den Schaltelementen die Kanten. Die Zahlen ber den Kanten sind die Kosten. Gesucht ist ein Schaltplan, sodass jedes Element mit jedem kommunizieren kann und die Kosten f r den Leitungsbau minimal werden. Modellierung durch einen gewichteten Graphen. Gegeben ist ein zusammenhängender GraphG(V, E) und eine Gewichtfunktion w. Gesucht ist ein aufspannender Baum T mit minimalem Gewicht. w(t ) = e E(T )w(e) Beispiel: Mit Breath-First-Search kann ein aufspannender Baum konstruiert werden. Dieser muss noch nicht optimal sein. Greedy-Strategy (gierige Strategie) Arbeite nach folgender Maxime: Erledige immer als nächstes den noch nicht bearbeiteten fettesten (optimalen) Teilbrocken. Die folgenden beiden Algorithmen arbeiten nach der Greedy-Strategie. 1. Kruskal-Algorithmus Beim Kruskal-Algorithmus wird immer die Kante mit minimalem Gewicht gewählt, aber so, dass keine Kreise entstehen. 134

Abbildung 9.16: Beispiel mit Kruskal-Algorithmus 2. Algorithmus von Prim Sei G(V, E) ein gewichteter zusammenhłngender Graph mit n Ecken. (Jeder minimal aufspannende Baum hat also n 1 Kanten.) (a) Wähle eine Kante minimalen Gewichts aus (samt den dadurch gegebenen Ecken). Diese Kanten stellen samt ihren Ecken den Anfangsbaum T dar, der im folgenden systematisch zu einem minimal aufspannenden Baum ausgebaut wird. (b) Solange der aufzubauende Baum T weniger als n 1 Kanten hat, führe folgendes aus: Suche unter denjenigen Kanten mit einer Ecke in T und einer Ecke ausserhalb T eine Kante mit minimalem Gewicht aus, sodass kein Kreis entsteht und füge sie zu T dazu (samt des dadurch bestimmten Knotens). Der mit Hilfe von Prims Algorithmus konstruierte Teilgraph T ist ein minimal aufspannender Baum des ursprünglichen Graphen G. Bemerkungen zum Beweis: Da der Graph endlich ist und bei jedem Teilschritt eine neue Kante dazu kommt, bricht der Algorithmus nach endlich vielen Schritten ab. Nach Abbruch des Algorithmus sind n 1 Kanten konstruiert, also alle n Ecken benützt. Mit Induktion könnte man jetzt zeigen, dass der konstruierte aufspannende Baum T minimal ist. Die Konstruktion ist nicht eindeutig. 135

Abbildung 9.17: Beispiel mit Algorithmus von Prim Abbildung 9.18: Beispiel zu beiden Algorithmen 136

9.6 Kürzeste Wege in Graphen Optimierungsprobleme auf gewichteten Graphen: Strassenplan: in möglichst kurzer Zeit oder mit möglichst wenig Kilometern von A nach B gelangen Verkehrsnetz: Schienennetz, Gewichtung der Kanten können die Fahrkosten, die Reisezeit, die Entfernung sein. Die Bahnverbindung vona nach B soll möglichst billig, möglichst kurz sein. Kommunikationsnetz: Übertragungskosten oder Übertragungszeit als Gewicht der Kanten. Gesucht ist der kostengünstigste Weg eines Datenpakets von einem Knoten zu einem anderen. Meistens wird vorausgesetzt, dass der Ausgangsknoten den Graphen vollständig kennt. Im Schienenverkehr oder im Strassenverkehr kennt man gewöhnlich den ganzen Graphen. Im Internet ist das nicht immer der Fall: Knotenausfall Überlastung von Kanten. Kürzeste Wege Problem: Der kürzeste Weg zwischen zwei Knoten. Die kürzesten Wege zwischen einem Knoten und zu allen anderen Knoten. Der kürzeste Weg in einem Graphen, bei dem alle Knoten (ev. genau einmal) besucht werden. Abbildung 9.19: Welcher Weg ist der kürzeste? Gegeben ist ein zusammenhängender Graph G und eine Gewichtsfunktion w : E R + = {x 0} Sei u V gegeben. Für einen Weg P = P (u, v) von u nach v ist die gewichtete Länge von P : l(p ) = E(P )w(e) e 137

Gesucht ist ein kürzester Weg von u nach v, d.h. l(p ) soll minimal werden. Die Länge eines kürzesten Weges bezeichnet man als den Abstand d(u, v). Der berühmte Algorithmus von Dijkstra konstruiert, ausgehend von einer fest gewählten Ecke u, einen aufspannenden Baum, dessen Weg von u nach v stets ein kürzester ist für alle Ecken v des Graphen. Abbildung 9.20: Edsger Wybe Dijkstra, 1930-2002, holländischer Mathematiker, Algorithmus 1959 Wir erläutern den Algorithmus hier an einem Beispiel. Beispiel zum Dijkstra Algorithmus 1. Startknoten grün 2. Alle Nachbarknoten blau, Abstand vom Startknoten anschreiben 3. Wähle als neuen Startknoten denjenigen mir kürzestem Abstand zum Start: grün (samt Kante zum vorherigen Startknoten) 4. zurück zu 1. (verbotene Kanten: rot) 138

Abbildung 9.21: Beispiel zum Dijkstra-Algorithmus Beispiel zum Dijkstra Algorithmus Abbildung 9.22: Tabelle zum Beispiel Noch ein Beispiel: Vom Knoten a aus alle kürzesten Wege berechnen. Abbildung 9.23: noch ein Beispiel 139

9.7 Eulersche Graphen Beim Königsberger Brückenproblem sucht man einen speziellen Kantenzug. Dieser sollte die folgenden Eigenschaften besitzen. 1. Der Kantenzug enthłlt keine Kante doppelt. 2. Der Kantenzug enthłlt alle Kanten des Graphen. 3. Anfang und Ende des Kantenzugs stimmen berein. Definition 9.7.1. Eine Tour ist ein Kantenzug nur mit der 1. Eigenschaft; er enthält also keine Kante doppelt. Eine Eulertour ist ein Kantenzug mit allen 3 obigen Eigenschaften. Jede Kante des Graphen wird also genau einmal durchlaufen und der Kantenzug ist geschlossen. Ein Graph mit einer Eulertour heisst auch Eulerscher Graph. Gibt es beim Königsberger Brückenproblem eine Eulertour? Abbildung 9.24: Königsberg Beispiel 9.7.2. Suchen sie in den untenstehenden Graphen geschlossenen Touren und Eulertouren. Welche Grade der Ecken kommen in den Graphen vor? Gibt es Touren mit der Eigenschaft 2, also Kantenzüge, die jede Kante genau einmal enthalten? Ergänzen Sie den letzten Graph, so dass eine Eulertour möglich ist. 140

(a) (b) (c) Satz 9.7.3. Ein zusammenhängender Graph ist genau dann eulersch (d.h. es gibt eine Eulertour), wenn der Grad jeder Ecke gerade ist. Beweis. A) Ist der Graph G eulersch, dann ist der Grad jeder Ecke gerade, denn man verlässt jede Ecke genau so oft wie man wie man hereinkommt! B) Die andere Richtung lässt sich algorithmisch beweisen. Es handelt sich um den Algorithmus von Hierholzer, 1973. Voraussetzung: Sei G(V, E) ein zusammenhängender Graph, dessen Knoten alle geraden Grad aufweisen. (a) Wähle eine Ecke A, beginne einen Pfad und markiere jede durchlaufene Kante. Jede so erreichte Ecke kann wieder verlassen werden bis sich der Kantenzug schliesst, da die Gradzahl jeder Ecke gerade ist. So entsteht ein Kreis. (b) Vernachlässige nun alle Kanten dieses Unterkreises. (c) Hat es noch unmarkierte Kanten, so beginnt eine in einer bereits traversierten Ecke B. Von B aus kann wieder ein Kreis konstruiert werden, der dann in den zuerst konstruierten eingebaut werden kann. (d) Konstruiere nun weiter solche Kreise, bis alle Kanten aufgebraucht sind. Das Resultat ist eine Eulertour. Bemerkung: Die Komplexität diesses Algorithmus ist linear in der Anzahl Kanten. Satz 9.7.4. Es sei G(V, E) ein zusammenhängender Graph mit k Knoten ungeraden Grades. Dann gilt folgendes. 1. Ist k = 0, so gibt es auf G eine Eulertour. 2. Ist k = 2, so gibt es auf G eine Tour, die alle Kanten des Graphen enthält. Man kann den Graph in einem Zug zeichnen, ohne eine Kante doppelt zu zeichnen. 141

Abbildung 9.25: Algorithmus von Hierholzer 3. Ist k > 2, so gibt es auf G keine Tour, die alle Kanten enthält. zum Beweis: 1. Dies wurde im letzten Satz mitdem Algorithmus von Hierholzer bewiesen. 2. Verbinde die beiden Ecken ungeraden Grades durch eine zusätzliche Kante. Konstruiere jetzt mit (1) eine Eulertour. Lösche nun die eingefügte Kante. Abbildung 9.26: zum Beweis (2) 3. klar wegen (1) und (2). Was passiert, wenn man jede Kante zweimal durchläuft?. Satz 9.7.5. In jedem zusammenhängenden Graph gibt es einen Kantenzug, der jede Kante genau zweimal durchläuft. Beweis: Man zeichnet einfach zu jeder Kante eine zweite parallele Kante. So erhält jede Ecke einen geraden Grad. Wegen des vorherigen Satzes gibt es eine Eulertour. Nun verschmelzt man die neuen Kanten wieder mit den ursprünglichen und erhält so einen Kantenzug, der jede Kante genau zweimal durchläuft. 142

Beispiel 9.7.6. Bildergalerie Meistens sind die Bilder längs Gängen aufgehängt. Auf einem Rundgang durch die Ausstellung möchte man alle Bilder sehen, ohne aber zweimal an denselben Bildern vorbeizukommen. Am Ende mžchte man wieder beim Eingang ankommen, der zugleich Ausgang ist. Ist ein solcher Rundgang überhaupt möglich? Abbildung 9.27: Ausstellungsraum 143

9.8 Hamiltonsche Graphen Europareise Eine Gruppe Jugendlicher möchte von Berlin aus mit der BAhnalle eingezeichneten Städte genau einmal besuchen und am Schluss wieder nach Berlin zurückkehren. Ist das möglich? Abbildung 9.28: Eisenbahn-Netzplan Bei dieser Reise soll jede Stadt genau einmal besucht werde. Es ist aber egal, ob jede Eisenbahnstrecke benützt wird oder nicht. Es ist also keine Eulersche Tour gesucht. Definition 9.8.1. Ein Hamiltonscher Kreis ist ein geschlossener Kantenzug, der jede Ecke des Graphen genau einmal enthłlt. Ein Graph, der einen Hamiltonschen Kreis enthält, heisst ein Hamiltonscher Graph. (a) Hamiltonscher Graph (b) kein Hamiltonscher Graph 144

Abbildung 9.29: W.R.Hamilton (1805-1865) Beispiel 9.8.2. Der Netzplan des Dodekaeders besitzt einen Hamiltonzyklus. Suchen Sie 145

einen solchen Kreis! Im Spiel von Hamilton Around the World soll man solche Touren finden, die jede Stadt (Ecken) des Dodekaederplans genau einmal besucht. Abbildung 9.30: Netzplan des Dodekaeders Beispiel 9.8.3. Billige Reise Jetzt soll die Reise eine Rundfahrt durch die 4 Städte St. Gallen, Zürich, Basel und Bern sein. Die Kosten sollen minimal werden. Abbildung 9.31: Billige Reise Wie viele Hamiltonsche Kreise gibt es? Welche Reise ist die billigste? Bemerkung Der obige Graph ist vollständig, d.h. von jeder Ecke gibt es zu jeder Ecke eine Kante. Hat ein vollständiger Graph n Ecken, so kann man von einer beliebigen Ecke aus die Hamiltonsche Reise beginnen, man hat noch n 1 Ecken zur Auswahl. Bei der nächsten 146

Ecke sind es noch n 2 usw. Im Ganzen hat man also (n 1)(n 2) 2 1 = (n 1)! Möglichkeiten. Ist uns die Richtung, wie der Hamiltonsche Kreis durchlaufen wird egal, so erhält man nur die Hälfte der Möglichkeiten. Also gilt Satz 9.8.4. Kreise. In einem vollständigen Graph mit n Ecken gibt es (n 1)! 2 Hamiltonsche In der obigen Reise mit 4 Städten gibt es nur 3 Hamiltonsche Kreise. Unter diesen möchte man den billigsten finden. Zahlenbeispiel Bei 6 Städten gibt es schon 5! = 60 Hamiltonsche Kreise. 2 Aber bei 20 Städte sind es etwa 60 Billiarden Hamiltonsche Kreise. Mit 1 Million Rechenoperationen pro Minute braucht man etwa 2 10 6 Jahre. Wer interessiert sich dann noch für dieses Problem! Das ist das berühmte Traveling Salesman Problem. Ein Handelsreisender hat Kunden in n Städten{S 1, S 2,..., S n }. Es gebe Strassen von jeder Stadt zu jeder anderen mit vorgegebenen Längen d(s i, S j ), der Distanz längs der Kante SiSj. Welche Route soll er wählen, wenn er jede Stadt genau einmal besuchen will, der Weg möglichst kurz sein soll und unser Reisender am Schluss zum Anfangspunkt zurückkehren soll? Gesucht ist also ein Hamiltonscher Kreis minimaler Länge. Bemerkung 9.8.5. Ê Im Allgemeinen ist es schwierig zu entscheiden, ob ein Graph einen Hamiltonschen Kreis enthłlt. Bis heute ist kein Algorithmus bekannt, der in polynomialer Zeit einen Hamiltonschen Kreis findet oder ausschliesst. In polynomialer Zeit bedeutet, dass die Anzahl erforderlicher Rechenschritte h öchstens mit einer festen Potenz der Anzahl Knoten und Kanten wächst. Ebenso ist nicht bekannt, ob ein Algorithmus existiert, der in polynomialer Zeit den kürzesten Weg findet. Man hält es auch für unwahrscheinlich, dass überhaupt ein solcher Algorithmus existiert. Das Travelling-Salesman-Problem (TSP), bei dem man durch jeden Knoten genau einmal geht, ist nicht zu verwechseln mit dem Chinesischen Postbotenproblem, bei 147

dem jede Kante mindestens einmal durchlaufen wird und der Weg minimale Länge haben soll. Zu diesen beiden Standardproblemen gibt es tausende von Anwendungen, die alle unter dem Titel Routenplanung bezeichnet werden kžnnen: Das TSP tritt auf in der Routenplanung von Speditionen, der M llabfuhr, von Lieferungen, Car-Pooling, beim automatischen Bohren, LŽten, Schweissen von Leiterplatten, usw. Interessante Informationen zum TSP finden Sie im Internet, z.b. unter: http://www.math.princeton,edu/tsp/ 148

Abbildung 9.32: TSP 149

Abbildung 9.33: TSP 150