Wissen im radikal-konstruktivistischen Denken nach Ernst von Glasersfeld

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Transkript:

Wissen im radikal-konstruktivistischen Denken nach Ernst von Glasersfeld Mit der folgenden Arbeit soll der radikal-konstruktivistische Wissensbegriff grundlegend erklärt sowie durch die Verweise auf seine Bezugsquellen präzisiert und somit von den vielen trivialen Verwendungsweisen unterscheidbar gemacht werden, die mit der weiten Verbreitung konstruktivistischen Gedankenguts in etlichen, auch nicht wissenschaftlichen Zusammenhängen einhergegangen sind. Einfach ausgedrückt, erklärt Ernst von Glasersfeld (1996, S. 22), handelt es sich da [beim Radikalen Konstruktivismus] um eine unkonventionelle Weise die Probleme des Wissens und Erkennens zu betrachten. Doch um diese einfache Betrachtungsweise des Wissens verstehen zu können, muss zuerst geklärt werden, wie denn die konventionelle Art und Weise aussieht, mit den Problemen des Wissens umzugehen. Diese Frage ist nicht leicht und vor allem nicht eindeutig zu beantworten, weder im Bereich unserer alltagsnahen Vorstellung von Wissen noch im Bereich der Wissenschaften 1. Dennoch soll anhand einiger ausgewählter Beispiele der Versuch unternommen werden, ein grobes Bild des Wissensbegriffs in unserer westlichen Mediengesellschaft sowie des traditionellen Wissensbegriffs in immer noch vielen Sparten der unterschiedlichsten Wissenschaften zu skizzieren. Anhaltspunkte für einen alltagsnahen Wissensbegriff Im alltäglichen Gebrauch sind wir mittlerweile dazu übergegangen, Wissen als eine Ware anzusehen, die getauscht und gehandelt werden kann. 1 Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Wissensformen unserer westlichen Medienkultur bietet das Buch Instantwissen, Bricolage, Tacit Knowledge... (Hug & Perger 2003). eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 1

Diese durch die Kommerzialisierung etlicher Wissensformen erwirkte Ansicht schränkt unseren Geltungsbereich für das, was wir Wissen nennen, weitestgehend auf digitalisierbares und profitables Wissen ein. Kurz umschrieben könnte man sagen, dass nur noch das als Wissen gilt, was sich verkaufen oder zumindest indirekt in Profit umwandeln lässt. Belege dafür finden wir in den zahlreichen Medien-Angeboten, wo sich gerade im Fernsehen die Inhalte immer mehr nach den Einschaltquoten richten. Doch auch im universitären Bereich wird die Kluft zwischen wirtschaftlich verwertbarem (in den meisten Fällen naturwissenschaftlichem) und unrentablem philosophischen Wissen, gerade was die Finanzierbarkeit der Forschung und Lehre anbelangt, immer größer. Dieser erste Anhaltspunkt für unsere alltägliche Vorstellung von Wissen verweist darauf, dass Wissen ähnlich wie andere Waren als ein Gut angesehen wird, welches außerhalb von uns mit relativer Stabilität existiert und getauscht werden kann. Ein zweiter Anhaltspunkt für den alltagsnahen Wissensbegriff sind die Erfahrungen, die wir im Laufe unserer Sozialisation, vor allem während unserer schulischen Ausbildung, mit Wissen gemacht haben. Das Bild, welches uns in den allermeisten Fällen von Institutionen der Aus- und Weiterbildung (auch noch in vielen universitären Bereichen) vermittelt wird, zielt im großen und ganzen auf die Reproduzierbarkeit von Wissen ab. Die Beurteilung derart reproduzierten Fakten-Wissens findet dann häufig nach dem Schema richtig/falsch statt und lässt kaum Platz für Alternativen, eine Hinterfragung und Reflexion oder den Versuch einer persönlichen Bewertung und Einordnung der derart erlernten Fakten. Doch selbstverständlich findet man auch im Alltag, gerade in den als postmodern bezeichneten westlichen Kulturen, Ansätze dafür, diesen traditionellen Wissensbegriff zu hinterfragen und zu bezweifeln. Die Pluralität unterschiedlichster Lebensformen und die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen unterwerfen die alten Wissensbestände immer eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 2

mehr einem Wandel, der auch im alltäglichen Leben bemerkbar wird und der eine berechtigte Skepsis am herkömmlichen Wissensbegriff hervorruft. Gegen beide Ansichten, sowohl gegen diejenige, Wissen sei eine Ware, die ohne weiteres tauschbar ist, als auch gegen die Ansicht, Wissen sei hartes, objektives Faktenwissen, erhebt der Radikale Konstruktivismus, wie später gezeigt werden wird, ernst zu nehmende Einwände. Der traditionelle Wissensbegriff in der Philosophie Im Bereich der Wissenschaften beschäftigte sich vor allem die Philosophie mit der Frage nach dem Wissen, und viele der heute immer noch gebräuchlichen Ansichten über wissenschaftlich gesichertes Wissen gehen auf die antiken griechischen Philosophen zurück. Ernst von Glasersfeld gibt in seinem Buch Wege des Wissens (1997, S. 198) eine Übersicht über die vier bei den Griechen gebräuchlichen Wissensbegriffe: doxa episteme gnosis sophia Meinung oder Erfahrungswissen rationales Verstehen wahres Wissen, wie es von Metaphysikern beansprucht wird Weisheit. Wie Parmenides (~540 bis 480/460 v.chr.), der in einem Lehrgedicht die Göttin Dike zu einem Jüngling über den Unterschied zwischen wahrem Wissen (er nennt es episteme) und bloßer Meinung (doxa) sprechen lässt, versuchten die meisten der griechischen Philosophen anhand solcher Begriffsunterscheidungen ein Bild des Wissens zu entwerfen, das Subjektivität weitestgehend ausschloss. Auch wenn später an die Stelle der griechischen Götter der christliche Gott als Offenbarungsquelle und Rechtfertigung für das wahre Wissen trat, so blieb das Ansinnen dennoch eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 3

meistens das gleiche, nämlich der Versuch einer objektiven Widerspiegelung der wahren Welt. Doch bereits in der Zeit der Anfänge der Philosophie gab es jene Denker, die an der Möglichkeit einer solchen Abbildung der Welt durch unser Wissen zweifelten. Seit dem Beginn der abendländischen Philosophie beherrscht nämlich ein grundlegendes Problem den Bereich der Erkenntnistheorie und damit auch die Frage nach dem Wissen, insbesondere dem wissenschaftlichen Wissen. Erkenntnis wird üblicherweise als Repräsentation, d.h. als Widerspiegelung einer vom erkennenden Subjekt unabhängigen Welt aufgefasst. Am deutlichsten kommt diese Vorstellung wohl in den ersten Theorien der Wahrnehmung der griechischen Philosophen Empedokles (~483 bis 424 v.chr.) und Demokrit (~470 bis 371 v.chr.) zum Vorschein, die davon ausgehen, dass die Dinge, welche wir wahrnehmen, Strahlen oder auch kleine Bildchen aussenden, welche von unseren Sinnesorganen aufgenommen werden und uns so ein Abbild der Welt liefern. Zwar wurde die Theorie der Wahrnehmung im Laufe der Geschichte stets verändert und heute kann man wohl davon ausgehen, dass diese Ansicht einer 1:1- Abbildung der Außenwelt durch unsere Sinnesorgane in den allermeisten Bereichen der Wissenschaft nicht mehr vorherrscht, aber dennoch konnte bislang keine zufriedenstellende Erklärung für den Prozess der Wahrnehmung gefunden werden. Doch bereits im antiken Griechenland wie auch durch die gesamte Geschichte hindurch machten einige Philosophen, die der Tradition der Skeptiker zugeschrieben werden, auf ein unlösbares Problem im Bereich der Wahrnehmung und der Erkenntnis aufmerksam. Wenn wir nämlich das Bild, das wir uns beispielsweise mit Hilfe unserer Sinnesorgane von der Welt (oder aber auch nur von einem Gegenstand) gemacht haben, mit der Realität vergleichen wollen, d.h. wenn wir das Bild mit dem wirklichen Gegenstand auf seine Richtigkeit hin vergleichen wollen, so bleibt uns nichts anderes übrig, als uns erneut ein Bild der Welt eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 4

(oder jenes Gegenstandes) zu machen. Und dieses erneute Bild kann wiederum nur auf der Grundlage unserer spezifischen Weise der Wahrnehmung und unserer Erfahrung erstellt werden. Ein Vergleich mit der Realität ist somit vollkommen ausgeschlossen. Ernst von Glasersfeld erklärt dieses Problem, indem er auf den griechischen Skeptiker Xenophanes verweist: Selbst wenn es jemandem gelänge [...] sich die Welt so vorzustellen, wie sie wirklich ist, so könnte er doch nicht wissen, daß es ihm gelungen ist (vgl. Diels 1957; Xenophanes Fragment 34) (Glasersfeld 1998, S. 504). Diese grundlegende Skepsis gegenüber der Erkenntnis gilt jedoch nicht bloß für unsere Wahrnehmung, sondern für unser alltägliches Erleben und selbstverständlich auch für den Bereich der Wissenschaft. Der Erlebende, sei er nun wissenschaftlich tätig oder nicht, kann niemals erkunden, inwieweit oder ob überhaupt das, was er erlebt, mit einer von ihm unabhängigen Welt übereinstimmt. Um da eine Übereinstimmung festzustellen oder zu prüfen, müßte das Erlebte ja mit der Wirklichkeit verglichen werden und dieser Vergleich ließe sich nur machen, wenn man Erlebtes dem noch nicht Erlebten gegenüberstellen könnte. Der einzige Zugang zu noch nicht Erlebtem aber führt eben durch das Erleben, und darum läßt sich nie ermitteln, ob die Art und Weise des Erlebens das von der Wirklichkeit Gegebene vermindert oder verfälscht (Glasersfeld 2000, S. 10). Doch trotz der Einwände der Skeptiker setzte sich ein Wissensbegriff durch, der wohl am prominentesten in Platons Theaitetos (1991, S. 151-367) dargelegt wird und der auch heute noch große Geltung hat. Platon lässt in diesem Dialog den weisen Sokrates mit dem jungen Mann Theaitetos über Wissen sprechen. Dieser schlägt im Laufe des Dialogs mehrere Definitionen für Wissen vor und erläutert diese anhand von Beispielen, doch Sokrates widerlegt alle von ihnen. Und obwohl die Frage nach dem Wissen von Sokrates im Endeffekt unbeantwortet bleibt, hat eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 5

sich doch der traditionelle Wissensbegriff der Philosophie aus eben diesem Werk Platons bis in unsere Zeit hinein gehalten. Der traditionelle Wissensbegriff: X weiß, dass p. (1) Es ist wahr, dass p. (2) X meint, dass p. (3) X hat Gründe für die Annahme, dass p. Dieser traditionelle Wissensbegriff verlangt also drei Voraussetzungen dafür, dass man von wahrem Wissen einer Person X über einen Sachverhalt p (eine Proposition) sprechen kann. Die erste Voraussetzung ist die Wahrheit des Sachverhalts. Bei der Annahme Ich weiß, dass der Mount Everest der höchste Berg der Welt ist handelt es sich also nur dann um Wissen, wenn es auch wahr ist, dass der Mount Everest der höchste Berg der Welt ist. Die zweite Voraussetzung ist das Anerkennen eines Sachverhalts, d.h. nur wenn ich auch wirklich davon überzeugt bin, dass der Mount Everest der höchste Berg der Welt ist, kann man davon sprechen, dass ich es weiß. Die dritte Voraussetzung der traditionellen Wissensdefinition ist, dass ich Gründe für meine Meinung habe, die rechtfertigen, dass ich diese Meinung vertrete. Kurz zusammengefasst lässt sich also sagen: Wissen ist gerechtfertigte oder begründete, wahre Meinung. Selbstverständlich gibt es auch in der modernen Philosophie Einwände, die gegen den traditionellen Wissensbegriff vorgebracht wurden, am prominentesten wohl durch den Philosophen Edmund L. Gettier, der in einem Aufsatz mit der Frage, ob begründete, wahre Meinung Wissen ist (Gettier 1963), die Probleme der traditionellen Wissensdefinition neu aufwarf, indem er Beispiele für Situationen fand, in denen die Voraussetzungen des traditionellen Wissensbegriffs erfüllt sind, es jedoch eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 6

dennoch keinen Sinn macht, von wahrem Wissen zu sprechen. Eines dieser später als Gettier-Probleme bekannt gewordenen Beispiele sei hier sinngemäß widergegeben: Zwei Personen, Smith und Jones, haben sich für eine Stelle beworben. Smith wurde vom Personalchef der Firma mitgeteilt, dass Jones den Job bekommen wird. Außerdem hat Smith gesehen, wie Jones sich vor dem Betreten der Firma eine Münze (vielleicht seinen Glücksbringer) in die Hosentasche gesteckt hat. Nun folgert Smith: Derjenige, der die Stelle erhalten wird, hat eine Münze in der Hosentasche. Folgendes tritt aber ein: Smith bekommt die Stelle (der Personalchef hatte die beiden verwechselt) und auch Smith hatte noch von gestern Abend eine Münze in seiner Hosentasche (was er vergessen hatte) (vgl. ebd., S. 122). Dieser Fall erfüllt zwar die Voraussetzungen für den traditionellen Wissensbegriff nämlich (1) Es ist wahr, dass derjenige, der die Stelle erhalten wird, eine Münze in der Hosentasche hat, (2) Smith meint, dass derjenige, der die Stelle erhalten wird, eine Münze in der Hosentasche hat, und (3) Smith hat Gründe (die Beobachtung mit dem Glücksbringer und die Aussage des Personalchefs) für die Annahme, dass derjenige, der die Stelle erhalten wird, eine Münze in der Hosentasche hat, stellt aber dennoch kein wahres Wissen dar. In den allermeisten Fällen wurde auf solche und ähnliche Kritikpunkte am traditionellen Wissensbegriff dadurch reagiert, dass man versuchte die dritte Bedingung (X hat Gründe für die Annahme, dass p.) soweit zu verändern, dass sie dem Einwand stand halten konnte. Nach und nach wurde versucht die Möglichkeit falscher Annahmen und Begründungen eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 7

innerhalb der Wissensdefinition gering zu halten und somit die Subjektivität weitestgehend vom Wissensbegriff auszuschließen. Der radikal-konstruktivistische Wissensbegriff Der Radikale Konstruktivismus hingegen sieht das Problem eines derartigen Wissensbegriffs zum einen aufgrund seiner erkenntniskritischen Einstellung in der ersten Bedingung der traditionellen Definition, zum anderen aber gerade in der Vernachlässigung der Subjektivität. Da es nämlich von der jeweiligen Person, d.h. von ihren kognitiven Strukturen, die sie beispielsweise aus ihren bisherigen Erfahrungen gewonnen hat, abhängt, was sie anhand welcher Gründe zu akzeptieren bereit ist, macht es wenig Sinn, die Subjektivität vom Wissensbegriff und seinen Bedingungen trennen zu wollen. Kritische Menschen sind vielleicht selbst beim Vorliegen ausgezeichneter Gründe nicht bereit eine These zu akzeptieren, andere wiederum glauben bereitwillig viele Dinge, selbst solche, die für andere reichlich abstrus wirken. Der erste Punkt verweist auf das bereits weiter oben angesprochene Erkenntnis-Problem der Skeptiker, d.h. die Unmöglichkeit der wahrheitsgetreuen Abbildung einer objektiven Realität. Der Radikale Konstruktivismus anerkennt nun die Unlösbarkeit dieses Erkenntnisproblems und zieht daraus die Folgerung, dass eine Wissenstheorie einerseits versuchen muss möglichst ohne ontologische Voraussetzungen auszukommen und andererseits die spezifische Art und Weise der Wahrnehmung, des Erlebens, des Denkens und somit des gesamten menschlichen Wissens zur Grundlage der Theorie zu machen. Mit Ernst von Glasersfeld kann man die radikal-konstruktivistische Auffassung von Wissen folgendermaßen zusammenfassen: eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 8

Der Radikale Konstruktivismus beruht auf der Annahme, daß alles Wissen, wie immer man es auch definieren mag, nur in den Köpfen von Menschen existiert und daß das denkende Subjekt sein Wissen nur auf der Grundlage eigener Erfahrung konstruieren kann (Glasersfeld 1996, S. 22). Wissen wird also nicht als Widerspiegelung oder Repräsentation einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet [...], sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts (Glasersfeld 1998, S. 503). Somit stellt Wissen im Radikalen Konstruktivismus [...] kein Bild oder keine Repräsentation der Realität [dar], es ist vielmehr eine Landkarte dessen, was die Realität uns zu tun erlaubt. Es ist das Repertoire an Begriffen, begrifflichen Beziehungen und Handlungen oder Operationen, die sich in der Verfolgung unserer Ziele als viabel [d.h. brauchbar] erwiesen haben. Daher betrachte ich Wissen als instrumental, und die Ziele, für die es als Instrument dient, liegen auf zwei Ebenen, auf einer biologischen und auf einer begrifflichen (Glasersfeld 1997, S. 202). Nimmt man also den Einwand der Skeptiker gegenüber jedweder Form der Erkenntnis ernst und bislang wurde noch keine Lösung für das von ihnen aufgeworfene Erkenntnisproblem gefunden so bietet der radikal-konstruktivistische Wissensbegriff eine sinnvolle Alternative zur traditionellen Wissensdefinition, da er auf die Koppelung von Wissen und Wahrheit verzichtet. Zudem anerkennt er die ebenfalls bereits von den Skeptikern aufgezeigte, unhintergehbare Subjektgebundenheit allen Wissens und macht diese zur Grundlage für einen Wissensbegriff, dessen Brauchbarkeit sich bereits in so unterschiedlichen Wissenschaften wie der Pädagogik, der Neurophysiologie, den Management- oder den Medienwissenschaften gezeigt hat. eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 9

Die Quellen des radikal-konstruktivistischen Wissensbegriffs Selbstverständlich ist diese Auffassung von Wissen auch in der Geschichte der Wissenschaften nicht vollkommen neu, und so gibt es neben den Skeptikern eine ganze Reihe von Autoren, auf die sich Ernst von Glasersfeld in seiner Theorie explizit beruft und gewiss auch eine ganze Reihe von Autoren, die er nicht berücksichtigt hat (vgl. z.b. Glasersfeld 1996, S. 56-97). Um die Herkunft eines solchen Wissensbegriffs besser nachvollziehbar zu machen und um ihn besser von anderen Positionen unterscheidbar zu machen, sollen hier einige der wichtigsten Quellen exemplarisch genannt sein, die für die Entwicklung der radikalkonstruktivistischen Wissenstheorie von Bedeutung sind. Die im Laufe der Quellensammlung zitierten Stellen gehen zudem noch einmal auf wichtige, grundlegende Gesichtspunkte des radikal-konstruktivistischen Wissensbegriffs ein. Auf die Skeptiker und im besonderen auf Xenophanes wurde ja bereits verwiesen, weshalb die skeptische Position hier noch einmal zusammengefasst in einem Zitat widergegeben werden soll: Schon unter den Vorsokratikern, so schreibt Glasersfeld, waren einige, die ganz klar sahen, daß es eine derartige absolute Gültigkeit oder Wahrheit des menschlichen Wissens nicht geben kann, denn, um sie nachzuweisen, müßte man in der Lage sein, dieses Wissen mit der Realität zu vergleichen. Da wir unsere Vorstellungen jedoch stets nur mit Vorstellungen vergleichen können, gibt es für uns keine Möglichkeit herauszufinden, ob unsere Vorstellungen Dinge repräsentieren, die in einer realen Welt existieren, geschweige denn, ob sie diese wahrheitsgetreu wiedergeben. Die Skeptiker haben diese logisch unanfechtbare Einsicht im Laufe von zwei Jahrtausenden untermauert und verfeinert (Glasersfeld 1997, S. 47-48). eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 10

Neben den Verwiesen auf die im 3. Jahrhundert n. Chr. in Byzanz entwickelte, sogenannte negative Theologie (vgl. Glasersfeld 1996, S. 61-62) und selbstverständlich der Bezugnahme auf Descartes (vgl. ebd., S. 65-67), erwähnt Glasersfeld insbesondere die drei britischen Empiristen John Locke, George Berkeley und David Hume als wichtige Vordenker für den Radikalen Konstruktivismus. Anhand ihrer Ausführungen und Überlegungen grenzt Glasersfeld seine Wissenstheorie noch einmal scharf von zwei Bereichen ab, einerseits nämlich von jedweder Form eines naiven Realismus, andererseits von der Metaphysik: Empiristen stimmen darin überein, daß Wissen aus der Erfahrung hervorgeht und daß es im Bereich der menschlichen Erfahrung geprüft wird. Wie jedoch diese Erfahrung mit einer realen Welt verknüpft werden soll, die ihr zugrunde liegt, darüber sind die Meinungen sehr unterschiedlich. Heute begegnet man oft dem Ausdruck hartgesottener Empirist in dem Sinne, daß experimentelle Ergebnisse Daten liefern, die die kennzeichnenden Merkmale oder den Zustand einer vom Beobachter unabhängigen realen Welt widerspiegeln. Keiner der drei großen britischen Empiristen war ein derartig naiver Realist (ebd., S. 67). Vielmehr beschäftigten sich Locke und Hume [...] mit menschlichem Verstehen [...] und Berkeley mit menschlichem Wissen. Alle drei konzentrieren sich primär darauf, wie der rationale Verstand Wissen erwirbt und wie Wissen konstituiert wird (ebd., S. 72-73). Und Glasersfeld kommt zu dem Schluss, dass gemäß den Ausführungen Humes der [...] Glaube, daß menschliches Wissen eine absolute Realität abbilden sollte, [...] nicht länger auf redliche Weise durch Nachdenken über die menschliche Erfahrung gerechtfertigt werden [konnte], er mußte seine Begründung im Bereich der Metaphysik finden (ebd., S. 73). Mehr als nur ein Vordenker der radikal-konstruktivistischen Idee war ein wenig später dann der Neapolitaner Philosoph Giambattista Vico. eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 11

Er [...] war der erste, wie Glasersfeld sagt, der bewußt eine konstruktivistische Wissenstheorie entwarf. Der Mensch, sagte er, könne nur wissen, was er selber aufbaut [...] (Glasersfeld 1997, S. 49). Der menschliche Verstand, führt Glasersfeld die Gedanken Vicos weiter aus, kann daher nur die Dinge erkennen, die aus Material gemacht sind, das ihm zugänglich ist und das ist das Material der Erfahrung, und eben durch sein Machen entsteht sein Wissen davon (Glasersfeld 1996, S. 76). Neben Kant, von dem Ernst von Glasersfeld die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Realität sowie grundlegende Aspekte der Intersubjektivität herleitet, legte Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie einen ebenso markanten Grundstein für die Weiterentwicklung des Wissensbegriffs. Anhand des Darwinschen Ansatzes bringt Glasersfeld die Begriffe der Evolution und der Anpassung mit dem des Wissens in Verbindung: Erst mit dem Erscheinen der Darwinschen Evolutionstheorie wurde ein Begriff zugänglich, schreibt Glasersfeld, der es ermöglichte, dem Wissen eine andere Rolle zuzuschreiben. Es war der Begriff der Anpassung, und kurz vor der Jahrhundertwende führten William James, Georg Simmel, Ernst Mach, Alexander Bogdanov, Hans Vaihinger und andere ihn in den Bereich der Kognition ein (Glasersfeld 1998, S. 505). Welche andere Rolle des Wissens dies ist, erklärt Glasersfeld, indem er das Beispiel wissenschaftlicher Fortschritts anführt: Nach der gängigen Lehrmeinung wurden Hypothesen zu Theorien und sodann durch immer weitere Bestätigung zu Tatsachenbeschreibungen oder Gesetzen, die eine objektive Realität abbildeten. Nun aber ließ sich der Fortschritt der Wissenschaft und des menschlichen Wissens im allgemeinen als ständige Evolution auffassen, die mit der biologischen Theorie Darwins vollkommen übereinstimmte (Glasersfeld 1996, S. 85). eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 12

Doch die Ideen Darwins beeinflussten nicht erst den Radikalen Konstruktivismus und dessen Wissensbegriff, sondern sie spielten bereits für Jean Piaget eine enorm wichtige Rolle, wie Glasersfeld selbst betont: Die [ ] Anpassung bildet auch die Grundlage von Piagets Genetischer Epistemologie. In dieser Kognitionstheorie hat Wissen nicht den herkömmlichen Zweck, eine vom Wissenden unabhängige Welt zu repräsentieren, sondern dient dem Organismus dazu, so zu Handeln und zu denken, daß er mit der Lebenswelt nicht in Konflikt kommt (Glasersfeld 1998, S. 505). Wie komplex, aber auch wie ungeheuer wichtig Piagets Arbeiten für Ernst von Glasersfeld sind, betont er, wenn er sagt: Piaget ist nicht leicht zu lesen. [...] Sein unermüdliches Bestreben, seine Gedanken in größtmöglicher Differenziertheit auszudrücken, trägt natürlich nicht immer zum Verständnis des Lesers bei. Und dennoch habe ich nie daran gezweifelt, daß es der Mühe wert war, diese Schwierigkeiten zu überwinden; diese Mühe hat mich zu einer Ansicht menschlichen Wissens geführt, die keine andere Quelle hätte liefern können (Glasersfeld 1996, S. 99). Und an anderer Stelle schreibt Glasersfeld dann: Piaget war fraglos der Pionier der konstruktivistisch ausgerichteten Kognitionsforschung in diesem Jahrhundert. Sein Ansatz war [...] unbequem, denn er verlangt drastische Veränderungen gewisser Grundbegriffe, die seit Tausenden von Jahren als selbstverständlich gelten. Zu diesen Grundbegriffen gehören Realität, Wahrheit und der Begriff dessen, was Wissen ist und wie wir zu ihm gelangen (ebd., S. 100). Glasersfeld erklärt nämlich, [...] daß Wissen nach seiner [gemeint ist Piagets] Auffassung aus der physischen oder mentalen Aktivität eines Individuums entsteht und daß es zielgerichtete Aktivität ist, die dem Wissen seine besondere Organisation verleiht: Alles Wissen eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 13

ist an Handeln gebunden, und das Erkennen eines Objekts oder eines Ereignisses besteht in seiner Assimilation an ein Handlungsschema [...] (Piaget 1967 a, S. 14 f.) (Piaget 1967, zitiert in Glasersfeld 1996, S. 103). Und weiters verdeutlicht er: Die Beziehung des Wissens zur realen Welt ist in Piagets Modell daher eine reziproke, denn jede begriffliche Struktur wird voraussichtlich modifiziert, wenn sie mit einem Umwelthindernis kollidiert (Glasersfeld 1996, S. 129). Damit ist in aller Kürze erklärt, was Piaget mit Anpassung im Bereich des Wissens meint, nämlich die Veränderung von begrifflichen Strukturen. Und daraus folgert Glasersfeld schließlich: Kurzum, die Wissenstheorie, die mit Piagets Arbeit am besten vereinbar ist, ist eine instrumentalistische, in der Wissen nicht das Erkennen einer vom erfahrenden Subjekt unabhängigen Welt bedeutet. Aus dieser Perspektive werden kognitive Strukturen, Handlungsschemas, Begriffe, Regeln, Theorien und Gesetze primär nach dem Kriterium des Erfolgs bewertet, und Erfolg kann sich dabei nur auf die Bemühungen der Organismen beziehen, angesichts von Perturbationen inneres Gleichgewicht zu erreichen, zu erhalten und auszuweiten (ebd., S. 130). Die letzte, aber gleichzeitig wohl auch die aktuellste Quelle radikalkonstruktivistischen Denkens liegt in der Kybernetik begründet. Mitte der Sechzigerjahre, zwanzig Jahre nachdem Norbert Wiener sein erstes Buch über Kybernetik (1965) veröffentlicht hatte, bemerkte Piaget, daß es zwischen dieser neuen Disziplin und seinen eigenen Ideen Parallelen gab. Das grundlegende konstruktivistische Prinzip, daß der menschliche Verstand die Wirklichkeit organisiert, indem er sich selbst organisiert (Piaget, 1937, p.311), verkörpert zweifellos die kybernetische Idee der Selbstorganisation (Piaget 1937, zitiert in Glasersfeld 1998, S. 507). Daß dieses Prinzip die Konstruktion menschlichen Wissens steuert und daher aller eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 14

Erkenntnistheorie zugrunde liegt, wurde das erste Mal am Beginn des 18. Jahrhunderts von Vico betont und hernach überzeugend von Kant nachgewiesen [...] (Glasersfeld 1996, S. 238). Heute bilden Begriffe wie Selbstregelung, Autonomie, Rückkopplung, Selbstreferenz, Steuerung oder Zirkularität die wesentlichen Elemente der Theorien jener Kybernetiker, die sich mit der allgemeinen Frage nach dem menschlichen Wissen beschäftigen. Ihre Formulierung im Rahmen der Theorie der Selbstorganisation, legt Glasersfeld dar, hat zum einen eine umfassende Biologie der Kognition für lebende Organismen ergeben (Maturana/Varela 1980), zum anderen eine Theorie der Wissenskonstruktion, die sowohl den Absurditäten des Solipsismus als auch den fatalen Widersprüchen des Realismus mit Erfolg entgeht (von Foerster 1973; McCulloch 1970; Glasersfeld 1976b). Jeder Versuch zu erkennen, wie wir erkennen, ist ganz augenscheinlich selbstreferentiell (ebd., S. 241). Von der Kybernetik übernimmt der Radikale Konstruktivismus also den Aspekt der Selbstreferentialität und legt diesen Begriff, der in der Geschichte der Philosophie gewiss ebenso verpönt war wie der der Subjektivität, seiner Theorie, d.h. dem Versuch Wissen über unser Wissen zu erlangen bzw. Erkenntnis über unsere Erkenntnis zu gewinnen, zu Grunde. Anhand der Umschreibungen Ernst von Glasersfelds am Beginn dieses Textes sowie anhand der Vielzahl an Quellen und Verweisen auf andere Gebiete sollte sich nun ein Wissensbegriff herauskristallisiert haben, der sich deutlich von unseren alltäglichen Auffassungen sowie von der traditionellen philosophischen Wissensdefinition unterscheidet, bei dem jedoch auch ersichtlich wird, dass es eine ganze Reihe von Denkern gab und gibt, die in ihren Überlegungen auf ähnliche Ergebnisse gekommen eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 15

sind und die somit eine bedeutende Rolle für den Radikalen Konstruktivismus einnehmen. Literatur: Gettier, Edmund L. (1963) Is Justified True Belief Knowledge?, In: Analysis. 23, S. 121-123. Platon (1991) Theaitetos. In: Sämtliche Werke VI. Griechisch und Deutsch. Frankfurt/M., Insel-Verlag, S. 151-367. Glasersfeld, Ernst von (1996) Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Glasersfeld, Ernst von (1997) Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken. Heidelberg, Carl Auer Systeme. Glasersfeld, Ernst von (1998) Die radikal konstruktivistische Wissenstheorie. In: Frank Benseler et al., Hrsg. Ethik und Sozialwissenschaften. Vol. 9, S. 503-596. Glasersfeld, Ernst von (2000) Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In: H. Gumin & H. Meier, Hrsg. Einführung in den Konstruktivismus. 5. Auflage. München/Zürich, Piper Verlag GmbH, S. 9-39. Hug, Theo & Perger, Josef, Hrsg. (2003) Instantwissen, Bricolage, Tacit Knowledge... Ein Studienbuch über Wissensformen in der westlichen Medienkultur. Innsbruck, Studia-Verlag. eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04 16