WS 2015/16: Vorlesung Einführung in das europäische und deutsche Asylsystem VL 10: Sozialleistungen Überblick und Einstieg ins AsylbLG 22.12.2015 Dr. Johannes Eichenhofer, Berlin 1
Überblick über die Vorlesung I. Einführung ins Sozialrecht II. Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben an den Sozialgesetzgeber III. Die Sozialleistungen nach dem AsylbLG IV. Das Verfahren in Berlin V. Zusammenfassung 2
WS 2015/16: Vorlesung Einführung in das europäische und deutsche Asylsystem I. Einführung ins Sozialrecht Dr. Johannes Eichenhofer, Berlin 3
1. Begriff des Sozialrechts 4
Sozialrecht bezeichnet das Recht der Sozialleistungen, d.h. die von einem öffentlichen Träger geschuldeten Geld-, Dienst- oder Sachleistungen. Die Gewährung von Sozialleistungen dient der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit (vgl. 1 I SGB I) Zur Vertiefung: E. Eichenhofer, Sozialrecht, 9. Aufl. 2014, 1. 5
Sozialrecht und soziale Rechte Zur Verwirklichung der in 1 Abs. 1 SGB I genannten Ziele dienen die sozialen Rechte ( 3-10 SGB I). Aus ihnen folgen Ansprüche nur insoweit als ihre Voraussetzungen und ihr Inhalt in anderen Normen konkretisiert werden ( 2 Abs. 1 S. 2 SGB I) Soziale Rechte schaffen Leitperspektiven für die in den besonderen Bestimmungen konkretisierten Sozialleistungsansprüche und strukturieren damit das Sozialrecht. 6
Die einzelnen sozialen Rechte im Überblick: - soziale Vorsorge: Sicherung bei Eintritt eines sozialen Risikos, z.b. Arbeitslosen- (SGB III), Kranken- (SGB V), Renten- (SGB VI), Pflegeversicherung (SGB IX) - soziale Förderung: Erreichen von Chancengleichheit, z.b. Ausbildungsförderung (BAFöG), Familienleistungen - soziale Entschädigung: Ausgleich von Sonderopfern für die Allgemeinheit, z.b. Verbrechensopferentschädigung - soziale Hilfe: Sicherung des Existenzminimums, z.b. Grundsicherung für Arbeitsuchende ( Hartz IV = SGB II), Sozialhilfe (SGB XII), Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) 7
2. Quellen des Sozialrechts 8
a) Universelles Völkerrecht Jeder Mensch (hat) als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit (vgl. Art. 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte = AEMR, sowie Art. des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte = IPwskR / UN-Pakt II) Jeder Mensch (hat) das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen (Art. 25 AEMR) Anspruch von Familien, Müttern und Kindern auf sozialen Schutz (Art. 25 Nr. 2 AEMR, Art. 10 IPbpR) 9
b) Regionales Völkerrecht: Die Europäische Sozialcharta Die Europäische Sozialcharta vom 18.10.1961 gewährt folgende soziale Rechte: ein Recht auf soziale Sicherheit (Art. 12), wonach die Staaten ein System sozialer Sicherheit aufbauen und unterhalten müssen, ein Recht auf Fürsorge (Art. 13), wonach die Staaten jedem Bedürftigen Unterstützung und Betreuung gewähren müssen, ein Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste (Art. 14), das die Staaten zu Auf- oder Ausbau von Sozialarbeit anhält Ein Recht körperlich, geistig und seelisch behinderter Menschen auf Ausbildung und berufliche Wiedereingliederung (Art. 15) Sozialer und wirtschaftlicher Schutz der Familien (Art. 16) 10
c) Recht der Europäischen Union Art. 3 Abs. 3 EUV: Die EU ist eine soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt... Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierung und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. (...) Art. 27-36 GRCh (soziale Grundrechte) Art. 145-150 AEUV (Europäische Beschäftigungspolitik), Art. 151-161 AEUV (Europäische Sozialpolitik). Koordinierungs-VO 883/2004 (dient der Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV) durch den Export von Sozialleistungen von einem Mitgliedstaat in den anderen, sowie der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten); gilt auch für anerkannte Flüchtlinge. 11
d) Deutsches Recht: Sozialgesetzbuch I-XII SGB I: Allgemeine Regeln des Sozialrechts SGB II: Grundsicherung für Arbeitssuchende ( Hartz IV ) SGB III: Arbeitsförderung SGB IV: Allgemeine Regeln der Sozialversicherung SGB V: Krankenversicherung SGB VI: Rentenversicherung SGB VII: Unfallversicherung SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe SGB IX: Behindertenrecht SGB X: Verwaltungsverfahren SGB XI: Pflegeversicherung SGB XII: Sozialhilfe... Und: Zahlreiche Einzelgesetze (z.b. BAföG, WoGG und: das Asylbewerberleistungsgesetz AsylbLG) à III. und IV. 12
3. Migration als Herausforderung für das Sozialrecht 13
- Grundsätzlich darf jeder Staat selbst bestimmen - wer gesichert ist - welche Leistungen erbracht werden - wie diese Leistungen finanziert werden - wer einen Anspruch auf Leistungen hat - Folge: Da es keinen supranationalen Sozialstaat gibt, führt Migration grundsätzlich dazu, dass Migranten ihre sozialen Rechte verlieren (Rechtsproblem) 14
- Die Lösung: Internationales Sozialrecht als Teil des Sozialrechts, das die Zu- und Einordnung fremder Personen in den innerstaatlichen Solidarverband regelt - Mögliche Anknüpfungspunkte für die Zu- und Einordnung: - Staatsangehörigkeit - Gebietszugehörigkeit (Wohnsitz, gewöhnlicher Aufenthalt sog. Territorialitätsprinzip) - Entgegen seiner Bezeichnung handelt es sich beim internationalen Sozialrecht weder um Völker- noch um Europarecht, sondern um Normen des nationalen Rechts, die allerdings dessen internationalen Geltungsbereich regeln. Zur Vertiefung etwa: E. Eichenhofer, Sozialrecht, 9. Aufl. 2014, Rn 82 ff. 15
Deutsches internationales Sozialrecht - Es gilt das Territorialitätsprinzip: Die Vorschriften des SGB gelten vorbehaltlich internationaler Bestimmungen ( 30 Abs. 2 SGB I) für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben ( 30 Abs. 1 SGB I) - Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. ( 30 Abs. 3 SGB I) 16
Problem: Setzt der gewöhnliche Aufenthalt nach 30 Abs. 1, 3 SGB I einen Aufenthaltstitel voraus? ea: Nein, maßgeblich ist eine Prognose über die zu erwartende tatsächliche Aufenthaltsdauer (vgl. etwa: Schlegel in: Juris-PK SGB I, 30 Rn 1). arg.: der Wortlaut setzt keinen rechtmäßigen Aufenthalt voraus; Unionsbürger bedürfen keines Aufenthaltstitels und wären nach der ea vom Geltungsbereich ausgenommen. hm: Ja (vgl. etwa: BSGE 67, 238 (242), Mrozynski in: Ders., Kommentar zum SGB I, 4. Auflage 2010, 30 Rn 29). arg.: Nur durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels wird ein nicht nur vorübergehender Aufenthalt ( 30 Abs. 3 SGB I) sichergestellt; auch: Einheitlichkeit der Rechtsordnung und Sanktionierung illegaler Migration. 17
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1. Verfassungsrechtliche Vorgaben 19
Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 GG) verpflichtet den Staat zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit, konkret: zur Hilfe gegen Not und Armut, zur Sicherung eines die Menschenwürde wahrenden Existenzminimums, zum Abbau sozialer Abhängigkeit, zur Sicherung vor sozialen Risiken und zur Hebung des Wohlstandes. Der soziale Gehalt der Grundrechte (Art. 1-19 GG): Die o.g. Verpflichtungen folgen auch aus den Gleichheitsrechten (Art. 3 GG). Die Freiheitsrechte des GG setzen ebenfalls ein Mindestmaß sozialer Sicherheit voraus. 20
Insbesondere: Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.v.m. Art. 20 Abs. 1 GG) - Mit Urteil vom 9.2.2010 (1 BvL 1, 3, 4/09 = BVerfGE 125, 175 Hartz IV ) hat das BVerfG entschieden, dass aus Art. 1 Abs. 1 i.v.m. Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, d.h. der Sicherung der Existenz und der Gewährleistung eines Mindestmaßes an gesellschaftlicher, kultureller und politischer Teilhabe folgt. - Mit Urteil vom 18.7.2012 (1 BvL 10/10 = BVerfGE 132, 134 AsylbLG) stellte das BVerfG fest, dass dieses Grundrecht auch Ausländern zusteht und dass 3 AsylbLG dessen Anforderungen nicht genügt. Auch sei es unzulässig, die Höhe des Existenzminimums von migrationspolitischen Erwägungen abhängig zu machen. Differenzierungen seien nur bei signifikant unterschiedlichen Bedarfen zulässig. 21
2. Europarechtliche Vorgaben 22
Zu einigen Quellen des europäischen Sozialrechts oben, I.2. Sozialrechtliche Diskriminierungsverbote speziell für Drittstaatsangehörige sehen etwa vor Art. 11 Daueraufenthalts-RL 2003/109/EG (für daueraufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige) Art. 29 ff. Qualifikations-RL 2011/95/EU (für international Schutzberechtigte, d.h. anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Geschützte) Sozialrechtliche Mindeststandards Art. 12 ff. Vorübergehender-Schutz-RL 2001/55/EG Art. 7 f. Opferschutz-RL 2004/81/EG Art. 14 Rückführungs-RL 2008/115/EG Art. 4, 13 ff. Aufnahme-RL 2013/33/EU 23
Insbesondere: Die Aufnahme-RL 2013/33/EU Persönlicher Anwendungsbereich (Art. 3 Abs. 1): (...) alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates Asyl beantragen, solange sie als Asylbewerber im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen, sowie ihre Familienangehörigen, wenn sie nach nationalem Recht von dem Asylantrag erfasst sind. Grundsatz der Mindestnormen, Art. 4 Die einzelnen Mindestvorgaben, Art. 13 ff. Medizinische Untersuchungen, Art. 13 Schulbildung Minderjähriger, Art. 14 Arbeitsmarktzugang und Bildung, Art. 16 f. Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts, Art. 17 Unterbringung, Art. 18 Medizinische Versorgung, Art. 19 Leistungen für besonders schutzbedürftige Personen (z.b. Minderjährige, Ältere, Schwangere, Behinderte..), Art. 21 ff. 24
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1. Ziel und Entstehungsgeschichte des AsylbLG 26
Mit dem AsylbLG soll die Existenzsicherung ( soziale Hilfe s.o. I.) von Asylbewerbern, Geduldeten und vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern sichergestellt werden. Hintergrund: Für diesen Personenkreis besteht (für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts) ein Arbeitsverbot (vgl. 32 BeschV), sodass die ihren Lebensunterhalt nicht selbst sichern dürfen ( rechtliche Unmöglichkeit ). Das AsylbLG wurde mit dem Asylkompromiss von 1993 als Reaktion auf die im Zuge des Jugoslawien-Konflikts steigenden Asylbewerberzahlen verabschiedet. Verglichen mit der allgemeinen Existenzsicherung nach dem SGB II (für Erwerbsfähige) und dem SGB XII (für Erwerbsunfähige) sind die Sätze des AsylbLG niedriger. So sollten Anreize für Wanderungsbewegungen vermieden werden. 27
2. Grundsätzliches zum Leistungsbezug 28
Zum persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes Das AsylbLG ist gemäß seines 1 anwendbar auf im Inland aufhältige... -... Asylbewerber ( 55 AsylG), Abs. 1 Nr. 1 und 7 -... Inhaber einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach 23 Abs. 1, 24, 25 Abs. 4 S. 1 oder 5 AufenthG, Abs. 1 Nr. 3 -... Geduldete ( 60a AufenthG), Abs. 1 Nr. 4 -... vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer ( 58 AufenthG = illegal Aufhältige), Abs. 1 Nr. 5 Folge: Leistungsbezug nach anderen Gesetzen ist ausgeschlossen (vgl. 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II, 23 Abs. 2 SGB XII). 29
Leistungskürzung nach Maßgabe von 1a AsylbLG Geduldete und illegal Aufhältige sowie ihre Familienangehörigen können nach 1a AsylbLG die (Regel-) Leistungen des AsylbLG gekürzt werden, wenn sie... -... eingereist sind, um Sozialleistungen zu beziehen (Abs. 1) -... länger als zum Ausreisetermin in Deutschland bleiben (Abs. 2) -... zu vertreten haben, dass ihr Aufenthalt nicht beendet werden kann (Abs. 3) z.b. weil sie ihren Pass weggeworfen haben. Folge: Sie erhalten dann nur Leistungen, die sich als im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten erscheinen. Die Leistungskürzung ist dann aufzuheben, wenn der o.g. Tatbestand nicht mehr vorliegt (z.b. der Ausländer an der Wiederbeschaffung seines Passes mitwirkt). 30
Zeitliche Befristung der Geltung des AsylbLG ( Wartefrist ) - Nach 2 Abs. 1 AsylbLG sollen denjenigen Personen, die seit 15 (ehemals 48) Monaten Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, (höhere) Leistungen nach dem SGB XII gewährt werden (hier beträgt der Regelsatz für einen Alleinstehenden derzeit 399,- statt 359,- pro Monat) - Bei der Berechnung der Wartefrist kommt es nach hm nicht auf die Dauer des Aufenthalts, sondern allein der Dauer des Leistungsbezugs an (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 9.5.2007, L 11 AY 58/06) - Mit Ablauf der Wartefrist ist das Gewähren von Sach- statt von Geldleistungen nur noch nach Maßgabe des 2 Abs. 2 AsylbLG zulässig. 31
3. Die einzelnen Sozialleistungen nach dem AsylbLG 32
a) Die Grundleistungen während des Aufenthalts in der Erstaufnahmeeinrichtung - Nach 3 Abs. 1 S. 1-4 AsylbLG soll der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern während des Aufenthalts in der Erstaufnahmeeinrichtung ( 47 Abs. 1 AsylG: sechs Wochen bis sechs Monate seit Stellen des Asylantrags) durch die sog. Grundleistungen grdsl. nur in Form von Sachleistungen und Gutscheinen gedeckt werden. Gleiches gilt für den notwendigen persönlichen Bedarf ( 3 Abs. 1 S. 5-7). - Nur wenn Sachleistungen nicht mit vertretbarem Verwaltungsaufwand möglich (S. 7) sind, können Geldleistungen in Form eines Taschengeldes gewährt werden, wobei der Höchstsatz von 143 (für alleinstehende Leistungs-berechtigte) bis 84 (Kinder unter 6 Jahren) reicht. - Notwendiger und notwendiger persönlicher Bedarf betragen im Jahre 2015 zusammen 359,- (demgegenüber bei SGB II/XII: 399,- ). 33
Die einem Asylbewerber zustehenden Sachleistungen für Ernährung und Hygiene (Quelle: Flüchtlingsrat München). 34
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b) Grundleistungen bei einem Aufenthalt außerhalb der Erstaufnahmeeinrichtung Nach 3 Abs. 2 AsylbLG sollen bei einer Unterbringung außerhalb der Erstaufnahmeeinrichtung vorrangig Geldleistungen erbracht werden, deren Höhe über die in Abs. 1 genannten Sätze hinausgeht. Nur soweit es den Umständen nach erforderlich ist (Abs. 2 S. 3) können nach wie vor Sachleistungen oder Gutscheine gewährt werden. Diese Norm ist einschlägig, wenn der in 47 Abs. 1 AsylG genannte Zeitraum abgelaufen ist oder ein Asylbewerber z.b. mangels vorhandener Plätze in Erstaufnahmeeinrichtungen von Anfang an außerhalb der Erstaufnahmeeinrichtung (z.b. in einer privaten Wohnung) untergebracht ist. 36
c) Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt - Nach 4 AsylbLG sind Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt nur zur Behandlung akuter Krankheiten und Schmerzzustände zu gewähren. - Alle übrigen Behandlungen (z.b. wegen chronischer Krankheiten) können (Ermessen) nur nach 6 Abs. 1 S. 1 AsylbLG gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung der Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht geboten sind. - ABER: Nach Ablauf der Wartefrist von 2 AsylbLG erhalten Asylbewerber*innen gemäß 264 Abs. 5 SGB V eine Gesundheitskarte, mit der sie Leistungen wie gesetzlich Krankenversicherte in Anspruch nehmen können. 37
4. Zur Verfassungs- und Europarechtskonformität, sowie zur Reform des AsylbLG 38
Zur Reform des AsylbLG I: Das Rechtsstellungsverbesserungsgesetz Nach dem Urteil des BVerfG v. 18.7.2012: Gesetzentwurf des Bundestages vom 22.9.2014 (BT-Drs. 18/2592) - Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis gem. 25 Abs. 4a, 4b, 5 AufenthG sind vom persönlichen Anwendungsbereich des AsylbLG ausgenommen - Wartefrist ( 2) für den Zugang zur Sozialhilfe beträgt max. 15 Monate - Aufhebung von Sanktionen nach 1a wegen eines Verstoßes gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen - Erhöhte und transparente Leistungssätze auf Grundlage des Statistikmodells der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Einführung eines Bargeldbedarfs im Rahmen der Grund-leistungen in Höhe von 140 Euro für allein stehende Erwachsene, 126 Euro für erwachsene Partner, die einen gemeinsamen Haushalt führen, bzw. für Minderjährige zwischen 82 und 90 Euro Dieses sog. Rechtsstellungsverbesserungsgesetz (BT-Drs. 18/3144) trat zum 1.3.2015 in Kraft. 39
Zur Reform des AsylbLG II: Das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (AsylVerfBeschlG) Mit dem AsylVerfBeschlG vom 20.10.2015 (BGBl. I 1722), das bereits am 24.10.2015 in Kraft trat, wurde das AsylbLG in mehrerer Hinsicht wieder verschärft, um mögliche Fehlanreize, die zu ungerechtfertigten Asyl-anträgen führen können, zu beseitigen (BT-Drs. 18/6185, S. 1) Wiedereinführung des Sachleistungsprinzips, 3 AsylbLG n.f. Neue Leistungskürzungen nach 1a AsylbLG n.f. 40
(P): Vereinbarkeit des AsylbLG mit BVerfG-Rspr.? - Als problematisch erweisen sich insbesondere - die Wiedereinführung des Sachleistungsprinzips in 3 - die Beibehaltung der Leistungskürzung im Falle der um-zu- Einriese ( 1 Abs. 1a) und die weiteren Tatbestände für eine Leistungskürzung nach 1 Abs. 2 und 3 - der nach wie vor restriktive Zugang zu medizinischer Versorgung in 4 und 6 (z.b. bei der zahnmedizinischen Versorgung, Dialyse statt medizinisch indizierter Nierentransplantation, generell: Verweigerung von Operationen - solange sie nicht der Linderung akuter Schmerzzustände dienen) 41
(P): Vereinbarkeit mit der Aufnahme-RL 2013/33/EU? - Nach Art. 17 RL 2013/33/EU steht den Betroffenen Zugang zu materiellen Leistungen zu, die einen angemessenen Lebensstandard sichern (d.h. den Lebensunterhalt, sowie die physische und psychische Gesundheit) - Nach Art. 19 RL 2013/33/EU ist über die medizinische Notversorgung hinaus die unbedingt erforderliche Behandlung von (chronischen) Krankheiten und schweren psychischen Störungen zu gewähren. - Nach Art. 23 Abs. 4 RL 2013/33/EU ist Minderjährigen im Bedarfsfall psychologische Betreuung zu gewähren. - Nach Art. 24 Abs. 1 RL 2013/33/EU ist für unbegleitete Minderjährige unverzüglich ein Vormund zu bestellen. - Nach Art. 25 RL 2013/33/EU ist für Gewaltopfer ein Zugang zu adäquater medizinischer und psychologischer Betreuung 42 einzurichten.
WS 2015/16: Vorlesung Einführung in das europäische und deutsche Asylsystem IV. Das Verfahren in Berlin Dr. Johannes Eichenhofer, Berlin 43
1. Ankunft mit Sonderzügen (Umverteilung nach Berlin) 44
Asylbewerber*innen, die mit einem Sonderzug (z.b. von Bayern) nach Berlin reisen, werden bei ihrer Ankunft zunächst auf Notunterkünfte verteilt. Im Anschluss müssen sie sich beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in der Turmstr. 21 in Berlin-Moabit vorregistrieren lassen, d.h. sie müssen ihren Namen, ihr Herkunftsland, die Anzahl ihrer Familienmitglieder und sofern vorhanden ihre Handynummer angeben. Anschließend müssen sich Asylbewerber*innen sich bei der sog. Registrierungsstraße in der Kruppstraße registrieren lassen, mit der zugleich festgestellt wird, ob das Land Berlin für den Asylantrag zuständig ist oder eine Umverteilung in ein anderes Bundesland stattfinden muss. Maßgeblich hierfür ist der Königsteiner Schlüssel ( 45 Abs. 1 AsylG). Hiernach muss das Land Berlin derzeit 5,04557 % der Flüchtlinge aufnehmen. 45
Ist Berlin für die Aufnahme der / des Antragsteller*in zuständig, wird ihnen auch eine Erstaufnahmeeinrichtung ( 47 AsylG) zugewiesen. Dort erhalten sie einen Impftermin, einen Berlin- Pass, ein erstes Taschengeld und ggf. einen Krankenschein. Sodann haben Asylbewerber*innen die Möglichkeit, ihren Asylantrag ( 14 AsylG) bei der BAMF-Außenstelle in Berlin- Spandau zu stellen. Für die Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG ist fortan das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in der Turmstr. 21 in Berlin-Moabit zuständig. Der Anspruch entsteht mit Abschluss der Registrierung. Ist ein anderes Bundesland nach Maßgabe des Königsteiner Schlüssels für die Aufnahme der / des Antrag-steller*in zuständig, erhält sie / er eine Fahrkarte an den Ort der Erstaufnahmeeinrichtung in dem betroffenen Bundesland. Dort werden dann die Leistungen nach dem AsylbLG gewährt. 46
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2. Sonstige Neuankömmlinge in Berlin 48
Alle übrigen Asylbewerber*innen melden sich nach ihrer Ankunft in Berlin zunächst direkt beim LaGeSo. Dort findet ihre Vorregistrierung statt. Anschließend wird ihnen eine Unterkunft zugewiesen und sie erhalten einen Termin bei der zentralen Erstaufnahmestelle in der Bundesallee 171, in der auch das BAMF, die Ausländerbehörde und die Bundesagentur für Arbeit sitzen. Dort wird ihre vollständige Registrierung durchgeführt, mit deren Abschluss der Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG entsteht. 49
Ist Berlin für die Aufnahme der / des Antragsteller*in zuständig, erhält sie / er in der Ausgabestelle der Zentralen Erstaufnahmestelle ein erstes Taschengeld, einen Termin zur Impfung und ggf. zur Röntgenuntersuchung. Auch kann der Asylantrag ( 14 AsylG) bei der Außenstelle des BAMF in der zentralen Erstaufnahmestelle gestellt werden. Alle weiteren Leistungen nach dem AsylbLG werden durch das LaGeSo gewährt. Für Geduldete ist das Bezirkssozialamt nach Geburtsmonat zuständig. Ist ein anderes Bundesland nach Maßgabe des Königsteiner Schlüssels für die Aufnahme der / des Antrag-steller*in zuständig, erhält sie / er eine Fahrkarte an den Ort der Erstaufnahmeeinrichtung in dem betroffenen Bundesland. Dort werden dann die Leistungen nach dem AsylbLG gewährt. 50
WS 2015/16: Vorlesung Einführung in das europäische und deutsche Asylsystem V. Zusammenfassung Dr. Johannes Eichenhofer, Berlin 51
Was haben wir heute gelernt? Begriff, Quellen und System des Sozialrechts Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben für die soziale Sicherung von Asylbewerbern Standort des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) im System des Sozialrechts Wesentlicher Inhalt, Verfassungs- und Europarechtskonformität des AsylbLG Ablauf des Verfahrens in Berlin. 52
WS 2015/16: Vorlesung Einführung in das europäische und deutsche Asylsystem Vielen Dank für die Aufmerksamkeit! Frohe Weihnachten und guten Rutsch!!! Dr. Johannes Eichenhofer, Berlin 53