Nr. 2 Das Menschenbild der Individualpsycholgogie ein Überblick

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Transkript:

Nr. 2 Das Menschenbild der Individualpsycholgogie ein Überblick

1. Das Menschenbild der Individualpsychologie ein Überblick Jeder Mensch hat ein sein eigenes Bild vom Wesen des Menschen. Manche Bereiche des Bildes werden ganz bewusst wahrgenommen, andere bleiben im Unbewussten, bleiben verborgen und es fällt schwer, Worte dafür zu finden. Der Umgang mit anderen Menschen ist vom privaten Menschenbild geprägt. Gerade aber der professionell mit anderen Menschen Arbeitende: der Berater, Therapeut, Lehrer, Erzieher, Unternehmer usw. sollte sich seines eigenen privaten Menschenbildes bewusst sein. Die Auseinandersetzung mit Psychologie ist letztlich zum großen Teil die Auseinandersetzung mit dem eigenen psychologischen Menschenbild und mit dem Menschenbild der psychologischen Schule, die zur Grundlage der eigenen Arbeit werden soll. Der Vorteil der Individualpsychologie (IP) liegt in dem systematischen und nachvollziehbaren Blick auf den Menschen, seine Ziele und seine Lebensaufgaben. Gleichwohl psychosoziale Arbeit immer auch ein gewisses Maß an menschlicher Intuition verlangt, lassen sich individualpsychologische Grundlagen der Beratung gut lernen. Die Ausbildung zum Berater setzt die Kenntnis des individualpsychologischen Menschenbildes voraus. Ein guter Berater im Sinne der IP kann aber nur sein, wer sich ihre Sicht zu eigen macht und sich zu eine ermutigten und ermutigenden Persönlichkeit weiterentwickelt. Die Individualpsychologie Alfred Adlers (1870-1937) stellt ein vor allem aus der Therapiepraxis entstandenes psychologisches System dar, ein erstes Gesamtpsychotherapiemodell, das sowohl die normale Psyche als auch Neurosen, Psychosen Psychopathien, Prävention und Rehabilitation umfasst. Adlers Persönlichkeitstheorie wohnt eine ganzheitliche, die Aktivität des Einzelnen betonende Sichtweise inne. Adler trat schon sehr früh für die Sozialmedizin ein, machte auf gesellschaftliche Faktoren der Krankheitsentwicklung aufmerksam und betonte die Bedeutung psychologischer Prophylaxe. Viele moderne sozialen Lernprogramme haben ihre theoretischen Wurzeln in den Ideen Adlers, der schon in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Bedeutung des Gemeinschaftsgefühls betonte und dessen methodisches Training empfahl. Die Individualpsychologie Alfred Adlers ist eine wertende Psychologie, die klare Empfehlungen für die Psychohygiene des Einzelnen gibt. Nicht zuletzt deshalb hat sie sich lange Zeit im wissenschaftlichen Diskurs einer wertfreien, positivistischen i Wissenschaftstradition schwer getan. Heute wird zunehmend anerkannt, dass es eine moralische Neutralität in der Psychotherapie/Beratung kaum geben kann, diese gar im Gegenteil nicht einmal wünschenswert sei. Mit dem Begriff Individualpsychologie wollte Adler einen Kontrapunkt zum Instanzenmodell Sigmund Freuds setzen. Er stellte die Ganzheitlichkeit (Individuum = lat. Das Unteilbare) in den Mittelpunkt seines Persönlichkeitsmodells und betonte, dass jede Ausdrucksform durchströmt ist vom Bewegungsgesetz des Ganzen (Adler) ii. 2. Der Mensch ein zielorientiertes Wesen Die Bewegung des Einzelnen, sein Verhalten, lässt sich nach Adler nie vollständig begreifen, wenn man ausschließlich nach Ursachen für dieses Verhalten sucht. Vielmehr können wir den Menschen nur verstehen, wenn wir seine Ziele kennen. Dabei können die Ziele sehr bewusst sein ( Ich will das haben, also kaufe ich es mir. ), oft existieren sie aber auch im 05.09.2007 Akademie für Individualpsychologie GmbH Dorfstrasse 111 CH-8424 Embrach +41 (0) 44 865 05 20 2/7

Verborgenen auf der unbewussten Ebene. Das Ziel ist vorwiegend symbolisch und nicht immer konkret als wirkliche körperliche Bewegung zu verstehen. Vielleicht erreicht der Mensch das Ziel nicht, aber das Ziel erklärt die Art, wie er sich verhält. (Dreikurs) iii Das finale Prinzip stellt ein grundlegendes Konzept dar und führt zu einer völlig anderen Beurteilung menschlichen Handelns als das Prinzip der Kausalität. Adler sah etwa ab 1912 in der Betrachtung der Zweckursächlichkeit die therapeutisch wirksamere Arbeitshypothese. Für die Praxis ist vor allem die Tatsache bedeutsam, dass die finale Betrachtungsweise mit ihrem weichen Determinismus einem optimistischeren Menschenbild entspricht und dem Individuum stets einen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum zuweist. So können wir an unseren bewussten und unbewussten Zielen arbeiten, indem wir sie erkennen und verändern. Auf determinierende Wirkursachen für unser Verhalten, die u.u. weit zurück in unserer Kindheit liegen, können wir im Hier und Jetzt kaum Einfluss nehmen. 3. Der Mensch - ein soziales Wesen Man kann den Menschen nur verstehen, wenn man ihn im Rahmen seiner sozialen Beziehungen betrachtet. Von Geburt an sind wir auf andere Menschen ausgerichtet. Alle Sinnesorgane sind so ausgebildet, dass wir Kontakt aufnehmen können zu anderen Menschen. Das Verhalten eines Neugeborenen ist schon sehr früh von dem Ziel geprägt, einen Platz zu finden in der Welt, in der Familie, in seinem unmittelbaren sozialen Umfeld. Glück und Zufriedenheit sind abhängig vom Gelingen der sozialen Beziehungen. Auch individuelle Schwierigkeiten und psychogene Krankheiten bekommen ihre Bedeutung erst vor dem Hintergrund der sozialen Beziehungen des Menschen. Das wissen wir im Grunde alle durch unsere eigene Lebenserfahrung und durch die Überlegung, was situativ auftretende Symptome wie Stottern, Erröten, oder Wutausbrüche um nur einige zu nennen - für einen Sinn haben sollten, wenn man den anderen wegdenkt. iv Gerade weil die Qualität der Beziehungen so bedeutsam sind, formuliert Adler die sozialen Lebensaufgaben Gemeinschaft, Arbeit und Liebe. Mosak und Dreikurs ergänzen später noch die Lebensaufgaben Der Umgang mit sich selbst und die Sinnfrage. Am ASI wird gemäß der von Schoenaker vorgenommenen Gewichtung, die Lebensaufgabe Liebe an die erste Stelle gesetzt. Auf eine Beschreibung der Lebensaufgaben wird an dieser Stelle verzichtet und verwiesen auf die Darstellung in Schoenaker (2000) v. 4. Minderwertigkeitsgefühl Der Rolle des Minderwertigkeitsgefühls ist bei den Vertretern der Individualpsychologie stets diskutiert worden. Der Begriff ist als zentraler Eckpunkt der IP so populär geworden wie etwas der Ödipuskomplex in der Psychoanalyse. Dies mag zu seiner Abnutzung und Verflachung beigetragen haben. Adler sieht im Minderwertigkeitsgefühl eine normale, notwendige, gar erwünschte treibende Kraft im Individuum. Adler führt dies auf die biologische Minderwertigkeit des Menschen als physiologische Frühgeburt zurück und sieht im Minderwertigkeitsgefühl den Motor der gesamten Menschheitsentwicklung. Ein gesteigertes Minderwertigkeitsgefühl hingegen verweist immer auf Beziehungsstörungen und ist demnach von hoher Relevanz für die Beratungspraxis. Im Umkehrschluss nämlich 05.09.2007 Akademie für Individualpsychologie GmbH Dorfstrasse 111 CH-8424 Embrach +41 (0) 44 865 05 20 3/7

kann die Stärkung des Glaubens an die eigenen Fähigkeiten, also eine gezielte Fremd- und Selbstermutigung zur besseren Bewältigung der Lebensaufgaben beitragen. 5. Zugehörigkeitsgefühl Ein Hauptziel aller Menschen liegt nach Alfred Adler in dem Streben nach Zugehörigkeit. Von Beginn an, sind Kinder bemüht, einen Platz in der menschlichen Gemeinschaft zu finden. Sie sind auf der Suche nach ihrer Rolle in der Familie, in die sie hinein geboren werden. Die besondere Funktion des Gefühls der Zugehörigkeit zu einer Gruppe für das psychische Befinden, wird vor allem deutlich in dem Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit. Die meisten Menschen kennen das Gefühl, zeitweise (oder dauerhaft) mit anderen Menschen zusammen zu sein und sich dieser Gruppe nicht zugehörig zu fühlen. Häufig wird diese Erfahrung als in irgendeiner Form unangenehm beschrieben, gekennzeichnet durch fehlende Spontaneität, Überreflexion, Angst vor Fehlern oder Blamagen, körperliche Verspannungen etc. Auf der Gegenseite führt das Gefühl der Zugehörigkeit dazu, dass sich die geistigen und körperlichen Kräfte auf die Sache konzentrieren können. Es gibt kein störendes Infragestellen des möglichen eigenen Beitrags. Auf eine einfache Formel gebracht könnte man sagen, Zugehörigkeitsgefühl drückt sich aus in der Gewissheit von: Hier bin ich Mensch, hier kann ich s sein. (J. W. v. Goethe) 6. Gemeinschaftsgefühl Zugehörigkeitsgefühl und Gemeinschaftsgefühl befähigen den Menschen zur Bewältigung seiner Lebensaufgaben. Das Streben nach Zugehörigkeit macht es möglich, einen Platz in einer Gruppe zu finden. Das Gemeinschaftsgefühl kommt einem Interesse für die Interessen anderer gleich. Dabei versteht Adler es als eine angeborene Möglichkeit, die es bewusst zu entfalten gelte. Das Verständnis von Gemeinschaftsgefühl geht vor allem von der Logik des menschlichen Zusammenlebens aus. Gut entwickeltes Gemeinschaftsgefühl ist sozial nützlich. Das Gemeinschaftsgefühl impliziert in diesem Sinne auch die soziale Gleichwertigkeit aller Menschen. In diesem Gedanken wird die Nähe der Individualpsychologie zur Philosophie deutlich ohne dabei ihren eindeutigen praktischen Bezug zu verlieren: Die Individualpsychologie hat klare Meinungen darüber, was für einen Menschen gut ist und was nicht. (Schoenaker 2000) vi 7. Familienkonstellation Auf der Suche nach dem eigenen Platz findet das Kind schnell heraus mit welcher Rolle es seinem sozialen Grundbedürfnis nach Beachtung gerecht werden kann. Dabei wählen Kinder in einer Familie oft gegensätzliche Rollen. Dieser Prozess setzt ein hohes Maß an kreativer Eigengestaltung beim Kind voraus, wenngleich sich häufig gewisse Regelhaftigkeiten beobachten lassen. Zuweilen haben Erstgeborene aus zwei verschiedenen Familien mehr Ähnlichkeit miteinander als zwei Kinder aus der gleichen Familie. Die Familienposition, also die Position in der Geschwisterreihe, scheint einen Einfluss zu haben auf die Entwicklung des kindlichen Lebensstils. 05.09.2007 Akademie für Individualpsychologie GmbH Dorfstrasse 111 CH-8424 Embrach +41 (0) 44 865 05 20 4/7

8. Lebensstil Der Lebensstil des Einzelnen umfasst die Meinungen, die sich jemand im Verlauf seines Lebens über sich, die Mitmenschen, über das Leben, bestimmte Werte u.a. bildet. Diese Meinungen dienen dem Menschen als Leitlinie und prägen das Verhalten. Der Lebensstil die Struktur, die private Logik jedes Einzelnen schreibt gewissermaßen vor welches Verhalten geeignet ist, um die eigenen bewussten und unbewussten Ziele zu verwirklichen. Neben der Familienkonstellation wirken auch andere Einflussgrößen auf die Ausbildung eines individuellen Lebensstils. Eine große Rolle spielen die Familienatmosphäre- etwa der elterliche Erziehungsstil aber auch die individuelle Veranlagung, das Temperament und viele andere Faktoren. Die Meinungsbildung des Kindes ist nie allein durch äußere Faktoren vorbestimmt, sondern immer ein Prozess der Wechselwirkungen, in dem das Kind eine aktive, kreative Rolle einnimmt. Dem Kind entsteht dadurch eine relative, zunächst vielleicht unbewusste Möglichkeit der Selbstbestimmung. 9. Der Mensch ein Entscheidungen treffendes Wesen Die Frage nach der Freiheit des Menschen beschäftigt die großen Denker seit Jahrtausenden. Wie frei kann der einzelne Einfluss nehmen auf die Belange des täglichen Lebens? Die Frage erreicht philosophische Dimensionen, wenn man sie mit der Suche nach dem Ursprung und dem Sinn des Lebens verbindet. In der Praxis psychosozialer Beratung und in der Auseinandersetzung mit dem eigenen psychologischen Menschenbild wird die Fragestellung ganz konkret. Wie festgelegt ist jemand durch frühkindliche Erfahrungen in seinem Lebensstil? Ist der Lebensstil veränderbar? Der Mensch scheint sich in der Kindheit in unverstandener Weise selbst zu determinieren, indem er ein final bestimmtes individuelles Bewegungsgesetz den Lebensstil - bildet. Dieser Determinismus wird in der Individualpsychologie relativiert und als weicher Determinismus beschrieben, weil der Einzelne grundsätzlich jederzeit in der Lage ist, nicht nach den Bewegungsgesetzen der privaten Logik zu handeln, sondern diese in Frage zu stellen und das eigene Verhaltensrepertoire zu erweitern. Der Lebensstil ist also insofern relativ, weil durch die bewusste Auseinandersetzung damit also etwa durch selbstbewusst reflektierendes Verstehen im Rahmen einer Lebensstilanalyse unverstandene Fixierungen verändert werden können. 10. Kindheitserinnerungen Viele individuelle Problemstellungen lassen sich besser verstehen und verändern, wenn die unbewussten Meinungen die ein bestimmtes nicht immer günstiges - Verhaltensmuster nahe legen, bekannt sind. Die Individualpsychologie hat verschiedene Wege beschritten, um diesen unbewusst handlungsleitenden Meinungen auf die Spur zu kommen. Als ein effektives Zugangstor neben der Analyse der Familienkonstellation und der Auseinandersetzung mit Träumen hat sich die genaue Betrachtung früher Kindheitserinnerungen erwiesen: Es gibt keine zufälligen Erinnerungen ; aus der unberechenbar großen Anzahl von Eindrücken, die den Menschen treffen, wählt er nur jene als Erinnerung aus, von denen er wenn auch nur dunkel spürt, dass sie für seine Entwicklung wichtig waren. So stellen seine Erinnerungen seine `Lebensgeschichte dar, eine Geschichte, die er sich selbst erzählt, um 05.09.2007 Akademie für Individualpsychologie GmbH Dorfstrasse 111 CH-8424 Embrach +41 (0) 44 865 05 20 5/7

sich zu warnen oder zu trösten, sich die Ausrichtung auf sein Ziel zu erhalten und sich darauf vorzubereiten, mit Hilfe verflossener Erfahrungen der Zukunft mit einem bereits erprobten Handlungsstil zu begegnen. (Alfred Adler) vii Der Blick zurück darf dabei nicht Missverstanden werden. Die Individualpsychologie sucht Lösungen für individuelle Problemlagen. Lösungen müssen immer im Hier und Jetzt gefunden werden und zu einer optimistischen Zukunftsorientierung beitragen. Der Blick zurück dient einzig dem Verstehen. Ziel ist es, aus der Vergangenheit zu lernen und einen versöhnlichen Blick auf die eigene Biographie zu werfen. Minderwertigkeiten führen schnell im Sinne einer Überkompensation zu einer Erhöhung des eigenen Selbst oder zur Abwertung der Mitmenschen. Alfred Adler betont hingegen die soziale Gleichwertigkeit aller Menschen, die er zum einen als gegeben ansieht, die zum anderen aber auch Entwicklungsziel für den einzelnen ist. 11. Schlussbemerkungen Die Individualpsychologie, wie sie hier in Grundzügen ihres Menschenbildes beschrieben wurde, entspricht der Tradition von Alfred Adler, Rudolf Dreikurs und Theo Schoenaker. Eine psychologischen Schule bringt im Verlauf ihrer Geschichte immer neue Denker hervor, die einige Aspekte stellenweise anders bewerten und gewichten, aus diesem Grund werden im wissenschaftlichen Diskurs Begrifflichkeiten, ihre Bedeutungen und Abgrenzungen immer wieder diskutiert. Für die Positionierung eines psychologischen Menschenbildes ist das ein notwendiger Prozess. Zuletzt darf nicht vergessen werden, dass die Individualpsychologie aus engem Kontakt zum Menschen, aus der Praxis für die Praxis formuliert wurde. Die Tatsache, dass die Ideen Alfred Adlers auch hundert Jahre nach ihrer Formulierung noch im Gespräch sind, zeigt ihr alltagspraktische Relevanz. Autor Alexander Grindel ist Diplom-Pädagoge und Individualpsychologischer Berater (ASI). Er arbeitet als Berater mit dem Schwerpunkt Erziehungs- und Lernberatung in einem eigenen Institut. Kontakt: alexander.grindel@gmx.de 05.09.2007 Akademie für Individualpsychologie GmbH Dorfstrasse 111 CH-8424 Embrach +41 (0) 44 865 05 20 6/7

Individualpsychologische Beraterin AFI Individualpsychologischer Berater AFI Ein Beruf mit Zukunft Dreijährige, berufsbegleitende Ausbildung. Weitere Informationen erhalten Sie unter: Akademie für Individualpsychologie GmbH Dorfstrasse 111 CH-8424 Embrach +41 (0) 44 865 05 20 www.akademiefuerindividualpsychologie.ch i Leitmotiv einer positivistischen Denkweise ist der von Karl Popper formulierte Grundsatz, wonach sich alle bedeutungsvollen Aussagen der Wissenschaft auf Beobachtungen zurückführen lassen. Wissenschaftliche Theorien sollen durch Beobachtungen falsifizierbar sein. ii zitiert aus: Brunner, Reinhard u. Titze, Michael. Wörterbuch der Individualpsychologie. Ernst-Reinhard-Verlag. (2)1995, S. 178 iii zitiert aus: Schoenaker, Theo: Ja..., aber! RDI-Verlag. 2000, S. 31 iv ebd. S. 32 v ebd. S. 32ff. vi zitiert aus: Schoenaker, Theo: Ja..., aber! RDI-Verlag. 2000, S. 36 vii zitiert aus: Brunner, Reinhard u. Titze, Michael. Wörterbuch der Individualpsychologie. Ernst-Reinhard- Verlag. (2)1995, S. 257 05.09.2007 Akademie für Individualpsychologie GmbH Dorfstrasse 111 CH-8424 Embrach +41 (0) 44 865 05 20 7/7