Richtlinien für die Bearbeitung von Jugendstrafsachen bei den Staatsanwaltschaften

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Transkript:

Richtlinien für die Bearbeitung von Jugendstrafsachen bei den Staatsanwaltschaften Rundverfügung des Generalstaatsanwalts des Landes Brandenburg vom 4. Mai 2009 (421-8) I. Grundsätzliches Das Jugendstrafrecht ist vom Erziehungsgedanken beherrscht. Dies bedeutet, dass der Staatsanwalt in einem Verfahren gegen einen Jugendlichen (14-18 Jahre) oder einen diesem gleichstehenden (vgl. 105 JGG) Heranwachsenden (18-21 Jahre) aus Anlass einer festgestellten Straftat auf die Sanktionen hinzuwirken hat, die zur Unterbindung weiterer krimineller Handlungen erforderlich, aber auch ausreichend sind (jugendadäquates Präventionsstrafrecht). II. Stellenwert der Jugendstrafsachen Der Bearbeitung von Jugendstrafsachen ist bei den Staatsanwaltschaften ein hoher Stellenwert einzuräumen, weil bereits durch die staatsanwaltliche Reaktion wesentlicher Einfluss auf die weitere Entwicklung eines jungen Straftäters genommen werden kann. Demgemäß bestimmen 36, 37 JGG, dass für Verfahren, die zur Zuständigkeit des Jugendgerichts gehören, Jugendstaatsanwälte zu bestellen sind, die erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein sollen. III. Die Straftat als Episode oder Symptom Bei der Mehrheit junger Straftäter stellt sich Kriminalität als ein entwicklungsbedingtes und daher episodenhaftes Verhalten dar, das im Verlauf des Erwachsenwerdens wieder aufgegeben wird. Nach wissenschaftlicher Erkenntnis gilt dies sogar für den Fall, dass diese jungen Straftäter nicht ermittelt und daher für ihre Taten überhaupt nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Dem entspricht altes Erfahrungswissen, das William Shakespeare in seiner 1609 entstandenen Komödie Ein Wintermärchen wie folgt zum Ausdruck gebracht hat (3. Aufzug, 3. Szene): Ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen zehn und dreiundzwanzig, oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit: denn dazwischen ist nichts als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten ärgern, stehlen und balgen. Daraus folgt, dass die erzieherische Einwirkung bei der Mehrzahl der entdeckten jungen Straftäter auf die Vermittlung von Unrechtseinsicht beschränkt werden kann, eine frühzeitige Stigmatisierung als Straftäter aber vermieden werden sollte. Von dieser Personengruppe

2 sind jedoch diejenigen verhältnismäßig wenigen jungen Mehrfachtäter zu unterscheiden, die für den größten Teil der Jugendkriminalität verantwortlich sind und deren kriminelles Verhalten nicht als eine Episode des Entwicklungsprozesses, sondern als ein Symptom für eine soziale Fehlentwicklung zu werten ist, auf die mit Nachdruck erzieherisch reagiert werden muss. IV. Persönlichkeitserforschung Damit die erzieherisch gebotene Sanktion gefunden werden kann, hat der Staatsanwalt die Ermittlungen grundsätzlich (vgl. 78 Abs. 3 Satz 1 JGG) auch auf die Persönlichkeitserforschung des jugendlichen oder heranwachsenden Beschuldigten zu erstrecken ( 43, 109 Abs. 2 JGG). V. Beschleunigungsgebot Bei der Bearbeitung von Jugendstrafsachen ist vor allem das Beschleunigungsgebot zu beachten. Erzieherische Maßnahmen sind nämlich nur dann sinnvoll, wenn sie der Tat auf dem Fuß folgen. Eine allzu späte Reaktion kann sogar eine negative erzieherische Wirkung entfalten. VI. Umfassende Zusammenarbeits- und Unterrichtungspflichten 1. Die erzieherisch gebotene Sanktion kann nur dann zügig herbeigeführt werden, wenn der Jugendstaatsanwalt sich eng mit den Jugendgerichten, der Jugendgerichtshilfe (vgl. Nr. 32 MiStra) und der Polizei abstimmt und seine Zuständigkeit für einen bestimmten Jugendlichen möglichst nicht wechselt. Um dies zu erreichen und für die übrigen Verfahrensbeteiligten feste Ansprechpartner zu schaffen, ist die Geschäftsverteilung in den Jugendabteilungen der Staatsanwaltschaften des Landes Brandenburg bereits 1999 in der Weise regionalisiert worden, dass möglichst ein Jugendstaatsanwalt für die Bearbeitung aller Straftaten von Jugendlichen und Heranwachsenden zuständig ist, die in einem bestimmten Amtsgerichtsbezirk ihren festen Wohnsitz oder Aufenthalt haben (vgl. 42, 108 JGG). 2. 67 Abs. 1 bis 3 JGG räumen den Erziehungsberechtigten eines jugendlichen Beschuldigten Beteiligungsrechte ein (vgl. auch Art. 9 Abs.2 S.3 BbgLV), auf das nur sie selbst verzich-

3 ten können. Eine Entziehung dieser Rechte ist nur durch den Richter gemäß 67 Abs. 4 JGG möglich. 3. Falls Hinweise auf ein gestörtes Beziehungsverhältnis zwischen Beschuldigten und ihren Sorgeberechtigten oder deren mangelnde Erziehungseignung dergestalt vorliegen, dass Anlass zur Prüfung von Maßnahmen des Vormundschafts- oder des Familiengerichts besteht, hat der Jugendstaatsanwalt unverzüglich die entsprechende Unterrichtung gemäß Nr. 31 MiStra vorzunehmen. 4. Anfragen der beiden für den Jugendstrafvollzug im Land Brandenburg zuständigen Justizvollzugsanstalten Wriezen und Cottbus-Dissenchen nach dem Sachstand bestimmter Verfahren oder nach eventuell noch weiteren Ermittlungsverfahren gegen Häftlinge hat der Jugendstaatsanwalt zur Ermöglichung sachgerechter Vollzugsentscheidungen gewissenhaft und schnellstmöglich zu beantworten. 5. Von Strafsachen gegen Jugendliche und Heranwachsende sind die von den Beschuldigten besuchten Schulen gemäß Nr. 33 MiStra zu unterrichten. VII. Besondere Zusammenarbeit mit den Schulen Für die Bewertung der Straftat eines jungen Menschen als Episode oder Symptom (vgl. III.) ist das soziale Umfeld des Beschuldigten ausschlaggebend. Neben der familiären Situation kommt daher seinem Verhalten in der Schule besondere Bedeutung zu. Erheblichen erzieherischen Einfluss ist auch der Reaktion auf in der Schule und im schulischen Umfeld begangene Straftaten beizumessen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es außerhalb der eine Anzeigepflicht des 138 StGB begründenden Fälle grundsätzlich eine pädagogische Ermessensentscheidung darstellt, ob die Schule ihr bekannt gewordene strafbare Handlungen von Schülern zur Anzeige bringt oder darauf selbst mit pädagogischen Mitteln reagiert. Wegen der unterschiedlichen Herangehensweise von Schulen und Strafverfolgungsbehörden, die wegen des Legalitätsprinzips beim Vorliegen eines Anfangsverdachts wegen einer Straftat zum Einschreiten gemäß 152 Abs.2 StPO verpflichtet sind, erscheinen regelmäßige Gespräche zwischen Staatsanwälten und den in ihrem Zuständigkeitsbereich liegenden Schulen (vgl. VI. 1) wünschenswert, um die erzieherisch wirksamsten Reaktionen auf die verschiedenen Erscheinungsformen sogenannter Schulkriminalität zu finden. Dies bedeutet, dass die vier Staatsanwaltschaften den sechs Staatlichen Schulämtern aus ihren Jugendabteilungen Ansprechpartner benennen, die für schulische Veranstaltungen als Referenten zur Verfügung stehen und die in regelmäßigen Abständen - möglichst halbjährlich, jedenfalls

4 aber einmal im Jahr - den Schulen Gespräche anbieten, in denen Schulstraftaten und die erzieherische Reaktion darauf mit der Schulleitung und dem Lehrerkollegium auch anhand von Einzelfällen erörtert werden sollen. VIII. Ersttäter Bei Ersttätern ist - sofern die Schwere der Tat nicht entgegensteht - vor allem zu erwägen, ob auf die weitere strafrechtliche Verfolgung wegen Geringfügigkeit oder im Hinblick auf bereits durchgeführte oder noch durchzuführende erzieherische Reaktionen nach den 45, 47 JGG verzichtet werden kann (Diversion). Wegen weiterer Einzelheiten dieser Verfahrensart wird auf den Gemeinsamen Runderlass des Ministeriums der Justiz und für Europaangelegenheiten, des Ministeriums des Innern und des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport vom 22. Dezember 2000 (JMBl. 2001, 23 ff) in der Fassung vom 6. Februar 2003 (JMBl. 2003, 30) und die Richtlinien (RLJGG) zu 45 JGG verwiesen. Ist durch die Straftat eine Person geschädigt worden, sollte der Jugendstaatsanwalt prüfen, ob er einen Täter- Opfer-Ausgleich veranlasst, weil dadurch eine besonders wirkungsvolle erzieherische Einwirkung erreicht werden kann. Insoweit wird auf die Allgemeine Verfügung des Ministers der Justiz und für Europaangelegenheiten vom 24. August 2000 verwiesen (C II, JMBl. 2000, 114, 116 ff., JMBl. 2003, 2). IX. Mehrfachtäter Bei Mehrfachtätern sollte der Staatsanwalt in der Regel darauf hinwirken, dass auf jede neue Straftat eine intensivere Reaktion folgt. Dies bezieht sich nicht nur auf die Sanktionsarten, die von den eingriffsschwachen Erziehungsmaßregeln ( 9 JGG) über die Zuchtmittel ( 13 JGG) bis zur eingriffsintensivsten Sanktion, der Jugendstrafe ( 17 JGG) reichen, sondern auch auf die Verfahrensart. So erhöht sich die Intensität des Eingriffs durch die Verfahrensart von dem Absehen von der Verfolgung ohne Beteiligung des Richters ( 45 Abs. 1 und 2 JGG), dem Absehen von der Verfolgung mit Beteiligung des Richters ( 45 Abs. 3 JGG), dem - nicht gegenüber Heranwachsenden zulässigen (vgl. 109 JGG) - Vereinfachten Jugendverfahren mit oder ohne Beteiligung des Staatsanwalts ( 76, 78 JGG) bis hin zur förmlichen Anklageerhebung mit folgender Entscheidung in der Hauptverhandlung. Insbesondere sollte der Jugendstaatsanwalt nach bereits erfolgter Diversion im Fall hinreichenden Tatverdachts wegen einer neuen Straftat eines Jugendlichen stets prüfen, ob statt einer Anklageerhebung eine richterliche Entscheidung im Vereinfachten Jugendverfahren herbeizuführen ist, weil dadurch eine besonders schnelle erzieherische Reaktion bewirkt werden kann. Ergibt sich danach erneut hinreichender Tatverdacht wegen einer weiteren Straftat,

5 wird nunmehr eine Anklageerhebung zu erfolgen haben, die allerdings im Fall einer schweren Straftat bereits bei einem Ersttäter geboten sein kann. X. Einheitliche Sanktion bei mehreren Straftaten Da der Jugendrichter auch bei der Begehung mehrerer Straftaten stets nur einheitlich Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe festzusetzen hat ( 31 JGG), sollte sich der Jugendstaatsanwalt vor Anklageerhebung vergewissern, ob gegen den Beschuldigten nicht noch wegen weiterer Straftaten ermittelt wird und gegebenenfalls das Ergebnis dieser Ermittlungen abwarten, um gegebenenfalls die Anklageerhebung auch auf diese Straftaten erstrecken zu können. Der Jugendstaatsanwalt sollte weiter darauf hinwirken, dass er davon Kenntnis erhält, wenn gegen den Beschuldigten wegen einer nach Anklageerhebung begangenen Straftat ermittelt wird. Gegebenenfalls hat er auf den zügigen Abschluss der polizeilichen Ermittlungen hinzuwirken und unverzüglich Anklage zu erheben, um eine gemeinsame Verhandlung vor dem Jugendgericht zu ermöglichen. XI. Ausnahme der Untersuchungshaft für Jugendliche Im Ermittlungsverfahren hat der Jugendstaatsanwalt zu beachten, dass nach den Regelungen des 72 JGG die Verhängung und Vollstreckung von Untersuchungshaft bei Jugendlichen nur ausnahmsweise erfolgen soll. Dies gilt insbesondere für Jugendliche, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben ( 72 Abs. 2 JGG). Liegen die Voraussetzungen, unter denen ein Haftbefehl erlassen werden kann vor, sollte der Jugendstaatsanwalt daher zunächst erwägen, auf die einstweilige Unterbringung des Jugendlichen in einem Heim der Jugendhilfe gemäß 72, 71 Abs. 2 JGG hinzuwirken. Wegen der Verfahrensweise im Einzelnen wird auf den Gemeinsamen Runderlass des Ministers der Justiz und für Europaangelegenheiten, des Ministers des Innern und des Ministers für Bildung, Jugend und Sport vom 26. April 2001 (JMBl. 2001, 146 ff.) über Haftentscheidungshilfe in Jugendstrafverfahren verwiesen. XII. Beantragung von Jugendstrafe Der Jugendstaatsanwalt sollte sein besonderes Augenmerk auf die in seinem Bezirk aufhältigen Mehrfachtäter richten, bei denen die Anwendung von Erziehungsmaßregeln oder gar von Zuchtmitteln nicht die erwünschte erzieherische Wirkung entfaltet hat. Bei diesen jungen Straftätern bedarf es der besonders gründlichen Prüfung, ob schädliche Neigungen in einem Ausmaß vorliegen, das die Verhängung einer Jugendstrafe erforderlich erscheinen läßt ( 17 JGG, sh. aber auch 27 JGG). Um sich darüber frühestmöglich Klarheit zu verschaf-

6 fen, hat der Jugendstaatsanwalt besonders engen Kontakt zu der Jugendgerichtshilfe und den Jugendkommissariaten zu unterhalten. Mindestens zwei Mal im Jahr hat der Jugendstaatsanwalt mit den Polizeibeamten und den Jugendgerichtshelfern, die für die Mehrfachtäter des von ihm bearbeiteten Amtsgerichtsbezirks zuständig sind, gemeinsame Dienstbesprechungen durchzuführen. Bei seinem Schlussantrag in der Hauptverhandlung hat der Jugendstaatsanwalt zu beachten, dass eine Jugendstrafe so bemessen werden muss, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist ( 18 Abs. 2 JGG). In Einzelfällen kann sich eine vorherige Kontaktaufnahme mit den für die Justizvollzugsanstalten Wriezen und Cottbus-Dissenchen als Vollstreckungsleiter zuständigen Jugendrichtern empfehlen, um die Dauer der dort angebotenen schulischen und beruflichen Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen in Erfahrung zu bringen. XIII. Intensivtäter Bei jugendlichen und heranwachsenden Intensivtätern hat der Jugendstaatsanwalt in enger Zusammenarbeit mit der Polizei und der Jugendgerichtshilfe und in terminlicher Abstimmung mit dem Jugendgericht auf die Durchführung eines sogenannten vorrangigen Jugendverfahrens hinzuwirken. Intensivtäter sind Straftäter, die hinreichend verdächtig sind, den Rechtsfrieden besonders störende Straftaten, wie etwa Gewalt- und schwerwiegende Eigentumsdelikte gemäß 223, 224, 226, 227, 231, 242, 243, 244, 244 a, 249, 250, 251, 252, 255 StGB, oder aber innerhalb eines Jahres in mindestens zehn Fällen Straftaten von einigem Gewicht, d.h. solche, die die Bagatellgrenze und den Bereich geringer Schuld übersteigen, begangen zu haben und bei denen die Gefahr einer sich verfestigenden kriminellen Karriere besteht. Mit dem vorrangigen Jugendverfahren soll erreicht werden, dass zwischen der verantwortlichen Vernehmung des Intensivtäters bei der Polizei und der Hauptverhandlung - unter Wahrung der Erklärungsfrist zur Anklageschrift gemäß 201 StPO und der einwöchigen Ladungsfrist gemäß 217 Abs. 1 StPO - möglichst kein längerer Zeitraum als sechs Wochen liegt. Dies erfordert, dass alle Beteiligten zügig arbeiten, wobei Informationen möglichst mündlich oder fernmündlich ausgetauscht und die Akten unverzüglich weitergeleitet werden sollten.

7 Im Idealfall sollte ein vorrangiges Jugendverfahren wie folgt ablaufen: 1. Liegen nach der ersten verantwortlichen Vernehmung eines jungen Straftäters nach Einschätzung der Polizei die Voraussetzungen für ein vorrangiges Jugendverfahren vor, so führt sie hierüber umgehend eine Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft herbei. Falls der Jugendstaatsanwalt der Durchführung eines derartigen Verfahrens zugestimmt hat, setzt er hiervon sogleich die Jugendgerichtshilfe in Kenntnis. 2. Nach Abschluss der Ermittlungen übersendet die Polizei den Vorgang unverzüglich der Staatsanwaltschaft. Der Aktendeckel wird mit einer besonderen Kennzeichnung versehen, die allen Beteiligten die Notwendigkeit einer vorrangigen Bearbeitung signalisiert. 3. Falls der Jugendstaatsanwalt einen hinreichenden Tatverdacht bejaht, setzt er hiervon unverzüglich mündlich oder fernmündlich den Vorsitzenden des Jugendgerichts in Kenntnis, damit ein voraussichtlicher Hauptverhandlungstermin vorgemerkt werden kann. Sodann fertigt er umgehend die Anklageschrift und übersendet diese unverzüglich mit den Akten dem Jugendgericht, wobei er sich auch zur Frage der Bestellung eines Pflichtverteidigers äußert. Der Jugendstaatsanwalt trägt Sorge dafür, dass die Jugendgerichtshilfe unverzüglich eine Mehrfertigung der Anklageschrift erhält, und wirkt darauf hin, dass deren Bericht zur Vorlage im Hauptverhandlungstermin umgehend erstellt wird. 4. Der Jugendstaatsanwalt wirkt beim Vorsitzenden des Jugendgerichts darauf hin, dass die Anklageschrift zügig zugestellt und nach Eröffnung des Hauptverfahrens ein kurzfristiger Hauptverhandlungstermin anberaumt wird. Des Weiteren bittet er den Vorsitzenden des Jugendgerichts, ihm den Hauptverhandlungstermin vorab mündlich oder fernmündlich mitzuteilen oder mitteilen zu lassen. 5. Der Jugendstaatsanwalt teilt den Hauptverhandlungstermin der Jugendgerichtshilfe und der Polizei umgehend mit.

8 6. Die Strafvollstreckung sollte möglichst umgehend nach Rechtskraft des Urteils eingeleitet werden. XIV. Gewalttäter Wird wegen einer rechtsextremistisch, fremdenfeindlich oder antisemitisch motivierten Gewalttat gegen einen jugendlichen oder heranwachsenden Straftäter eine Jugendstrafe mit Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung verhängt, kommt nach dem Ergebnis einer Studie des Instituts für angewandte Familien-, Kindheits- Jugendforschung der Universität Potsdam, der eine bei meiner Behörde seit 1998 geführte Gewalttatenliste zu Grunde liegt, der Auflage, sich aus einer Delinquenz fördernden Gruppe zu lösen, und der konsequenten Ahndung von Verstößen gegen Bewährungsauflagen besondere Bedeutung zu. Auch sollte danach der Jugendstaatsanwalt darauf hinwirken, dass eine verständliche und strenge, aber respektvolle Kommunikation bei der Gerichtsverhandlung erfolgt. XV. Pressearbeit Die Pressearbeit der Staatsanwaltschaften in Jugendstrafverfahren hat wegen des besonderen Schutzbedürfnisses der Betroffenen mit entsprechender Zurückhaltung zu erfolgen. XVI. Inkrafttreten Diese Rundverfügung tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft. Gleichzeitig tritt meine gleichnamige Rundverfügung vom 22. Oktober 2007 außer Kraft. (Dr. Rautenberg)