Die natürliche Heilkrise Bis jetzt haben wir uns in diesem Kapitel ausschließlich mit Krankheiten und ihrer Entstehung beschäftigt. Wo bleibt die Heilung? Nun, im nächsten Abschnitt werde ich einerseits mehr davon berichten und gleichzeitig die bisherigen Aussagen einordnen. Ich möchte Sie daher einladen, einen natürlichen Heilungsprozess zu verfolgen, in den nicht eingegriffen wird. Natürlich habe ich auch dazu eine Grafik vorbereitet, die dieses Geschehen besser verdeutlichen soll. Abbildung 21 Dieses Modell gilt sowohl für körperliche Krankheiten als auch für psychische Krisen, die meiner Ansicht nach ganz ähnlich verlaufen. Anfangs ist alles wie immer, und wir befinden uns im energetischen Normalzustand. Es geht uns gut, wir haben keinerlei Krankheitsanzeichen, bis ein Krankheitsreiz auftritt. Welche Reize dies sein können, haben wir bereits erörtert. Körper und Geist reagieren darauf, und es folgt nun die sogenannte Entscheidungsphase. In dieser Zeit entscheidet sich, ob der Organismus den Reiz mit seinen bisherigen Mechanismen verarbeiten kann. Bei einer Erkältung frieren wir etwas, und die Nase fängt leicht an
zu laufen. Vielleicht versuchen wir, diesen Symptomen mit einem heißen Bad entgegenzuwirken. Wenn uns etwas psychisch beeindruckt hat, fühlen wir uns eigenartig unwohl und versuchen vielleicht, uns durch irgendetwas, das uns Spaß macht, in eine bessere Stimmung zu versetzen. Manchmal haben wir Erfolg: Der Körper kann die Erkältung abwehren, oder wir können das psychische Ereignis loslassen und wieder zur Normalität zurückkehren. Ist dies nicht der Fall, folgt darauf die Krankheitsphase. Jetzt geht es uns wirklich schlecht, wir bekommen Fieber und Husten. Bei psychischen Verletzungen werden wir vielleicht von Schmerz und Trauer überwältigt, weil uns etwas Schlimmes widerfahren ist. Die Energie wird in dieser Phase weit heruntergefahren. Wir ziehen uns automatisch in einen tiefen Yin-Bereich zurück und fühlen uns schwach und verletzlich. Dann folgt die sogenannte Krise: Das Fieber steigt stark an, und im Körper tobt ein unerbittlicher Krieg zwischen Krankheitserregern und Abwehrzellen. Bei psychischen Ereignissen spüren wir den Schmerz vielleicht so stark, dass wir ständig weinen könnten und meinen, unser Herz würde brechen und wir würden von diesen Kräften innerlich zermalmt. Genau an diesem Punkt, wenn wir denken, alles sei zu Ende und wir müssten sterben, tritt oft auf wundersame Weise eine Wende ein. Der Yin-Tiefpunkt ist erreicht, der natürliche Zyklus beginnt von Neuem, und das Yin strebt wieder dem Yang zu. Das Fieber sinkt leicht, alle Tränen sind vergossen, und es kommt meist zu einer kurzen Ruhephase, in der Körper und Geist Kraft für den bevorstehenden Aufschwung sammeln. Die darauffolgende Genesungsphase dauert nicht lange, denn an diesem absoluten Tief- und Umkehrpunkt wird meist alles bearbeitet und es bleibt kaum etwas zurück, was eine schnelle Erholung behindern könnte. Wir können wieder zu unserem energetischen Ausgangspunkt zurückkehren, oft gehen wir sogar gestärkt aus diesem Prozess hervor. Ich betrachte diese Kurve als den natürlichen und auch anzustrebenden Verlauf von Krankheit und Heilung. Aus meiner Sicht entstehen chroni-
sche Beschwerden vor allem deshalb, weil die natürliche Entwicklung unterbrochen wurde. Es kann nämlich auch Mut erfordern, sich auf diesen Prozess einzulassen, und man braucht einen Therapeuten, der entscheiden kann, wie tief die Krise gehen darf, ohne den Klienten zu schädigen. Diese Grenze muss bei jeder Erkrankung und bei jedem Patienten neu gezogen werden und hängt sowohl vom Klienten als auch vom Therapeuten ab. Aber die Krise ist außergewöhnlich heilsam und für das weitere Leben gewinnbringend, wenn man dem Tao folgt und sich von ihm leiten lässt. Die gestörte Heilkrise Die oben dargestellte Kurve ist sehr harmonisch und schwingt sich sanft wieder zur Ausgangsposition empor. Wird sie unterbrochen, könnte sie dagegen folgendermaßen aussehen: Abbildung 22 Die Kurve verläuft zunächst identisch, verändert sich aber an dem Punkt, den ich als Unterbrechung bezeichne. Er entspricht nicht dem Krankheitsreiz, sondern eher dem sogenannten Entscheidungspunkt, an dem die üblichen Abwehrmechanismen versagen und der Krankheitsprozess beginnt. An dieser Stelle sorgen wir meist mit allen Mitteln dafür (oder lassen dafür sorgen), dass wir nicht krank werden. Auf der psychi-
schen Ebene ist dieser Abbruch meist leicht nachzuvollziehen. Wer will sich schon schwach, hilflos oder traurig fühlen? Jeder will doch nur glücklich und energiegeladen sein! Aber kehren wir zur ganzheitlichen Sicht zurück. Zur ganzheitlichen Gesundheit gehört die Krankheit, gehört die Tiefe, gehören die unangenehmen Gefühle. Zum ganzheitlichen Heilungsprozess gehört auch die Heilkrise. Das bedeutet, dass eine Unterbrechung immer dann stattfindet, wenn ich versuche, die Abwärtsbewegung und die entsprechenden Gefühle zu verhindern. Aber ohne Abwärtsbewegung kann es auch keinen richtigen Aufschwung geben. Auch im körperlichen Bereich versuchen wir gelegentlich zu bremsen. Statt auf die Krankheitszeichen zu hören und uns Zeit für unseren Körper zu nehmen, uns vielleicht ins Bett zu legen und die Sache richtig auszukurieren, nehmen wir starke Medikamente, die die Symptome unterdrükken, damit wir schnellstmöglich wie gewohnt weitermachen können. Auch die meisten schulmedizinischen Therapien und Medikamente haben zum Ziel, die Yin-Phase zu unterdrücken. Doch die gepunktete Linie in Abbildung Nr. 22 zeigt deutlich, dass dieser Bereich in diesem Fall fehlt. Yin-Energie äußert sich dann dadurch, dass Störungen im weiteren Energieverlauf auftreten (die in der Abbildung durch eine gezackte Linie dargestellt sind). Die Energie wird durch die Yin-Kraft immer wieder leicht nach unten gezogen und erreicht auch nicht mehr das ursprüngliche Niveau. Kommt dies nur einmal vor, reguliert sich das System nach einer Weile wieder. Wenn sich der Prozess jedoch wiederholt, sinkt die Körperenergie immer weiter ab, und es kann zu einer chronischen Erkrankung kommen. Im psychischen Bereich können auf diese Weise zum Beispiel Depressionen entstehen. Körper und Geist finden gewissermaßen einen Kompromiss: Durch die abgesenkte Körperenergie kommt die Yin-Kraft zum Tragen, ohne dass man wirklich ins Yin eintauchen muss. Man könnte auch sagen, dass die natürliche Heilkrise den Verlauf einer akuten Erkrankung, die gestörte Heilkrise den Verlauf einer chronischen Erkrankung zeigt. Einige dieser Unterbrechungsmechanismen haben wir bereits kennen gelernt. Auf psychischer Ebene können dies Muster,
Selbstbilder, verdrängte Gefühle oder Traumata sein. Im körperlichen Bereich werden die Symptome vor allem dadurch unterdrückt, dass Krankheitsanzeichen ignoriert werden oder Therapieverfahren den natürlichen Heilverlauf unterbrechen.