Prävention von Sprachentwicklungsstörungen Dr. Gertraud Weggemann-Posch Pädiatrische Fortbildungstage: Prävention Feldkirch, 6.11.2009
Prävention von Sprachentwicklungsstörungen (SES) Spezifische Sprachentwicklungsstörung (Nur Spracherwerb betroffen, also sprachfreie Leistungen normal) Unspezifische Sprachentwicklungsstörung (als Begleiterscheinung bei einer körperlichen oder geistigen Störung: z.b.: globaler EWR, neurolog. Schädigung, schwere Hörstörung, Blindheit, Autismus usw.)
Spezifische Sprachentwicklungsstörung 10-20 % der Kinder jeden Jahrganges! Fallen in den ersten 2 Jahren auf durch eine Verzögerung der Sprachentwicklung (Late Talkers) Risiken: Ausbildung einer manifesten Sprachentwicklungsstörung Schulschwierigkeiten (bes. Legasthenie) > berufliche Chancen eingeschränkt Verhaltensprobleme Intellektuelle Defizite
Heidelberger Elterntraining (HET) zur frühen Sprachförderung (Buschmann A., Jooss B.) Frühinterventionsprogramm für 2-jährige Kinder mit Sprachentwicklungsverzögerung Sog. Late Talkers: Wortschatz unter 50 Wörter und/oder keine Zweiwortverbindungen mit 24 Monaten 10-20% der Zweijährigen Stärkung der Sprachkompetenz der Eltern als wichtigster Kommunikationspartner des Kindes Elteranleitung in 7 Gruppensitzungen über 3 Monate Sensibilisierung der Eltern für sprachförderliches Verhalten Training in Sprachlernstrategien Sprachförderliche Grundhaltung Auf die Höhe des Kindes begeben Direkte Zuwendung Blickkontakt Abwarten, was das Kind sagen möchte Dem Kind aufmerksam und interessiert zuhören Beim Reden nicht unterbrechen Bestätigend aufgreifen, was das Kind gesagt hat Einfache kurze Sätze verwenden Langsam, deutlich und mit guter Betonung sprechen Interessiertes Nachfragen Spaß am Sprechen vermitteln
Heidelberger Elterntraining zur frühen Sprachförderung (Forschungsergebnisse) 47 Kinder Trainingsgruppe 24 Kontrollgruppe 23 Follow up mit 3 Jahren 75% Aufholer 6 SES 40% Aufholer 13 SES (Nur Kinder mit einer isolierten Sprachverzögerung der produktiven Sprache ohne sonstige Defizite. Keine Störung des Sprachverstehens.)
Heidelberger Elterntraining zur frühen Sprachförderung (Forschungsergebnisse bei Kindern m. zusätzlich rezeptiver Problematik) 80 70 Rate of children in percent 60 50 40 30 20 10 Language in normal range T scores >= 40 Language deficits T scores >1.0 SD below mean SLI T score >=1.5 SD below mean 0 Intervention SELD Waiting SELD Intervention SRELD Waiting SRELD Rate of individuals who caught up at the age of three years SELD Specific expressive language delay, SRELD Specific receptive-expressive language delay SLI Specific Language Impairment
Sprachbeurteilung durch Eltern für 2 Jährige Kurztest (SBE-2-KT) von W.v.Suchodoletz & S.Sachse Screening zur Früherkennung der Late Talkers 57 Wörter und eine Frage zu Mehrwortäußerungen Kritischer Wert für SES: 21-22 Monate: unter 13 23-24 Monate: unter 19 Konsequenz: Hörstörung ausschließen (pädaudiologische Untersuchung) Kognitive Retardierung ausschließen (Entwicklungstest) DD: autistische Störung Mit Sprachtest prüfen, ob auch Sprachverständnisstörung
Sprachverzögerung ist nicht gleich Sprachstörung! Ohne Intervention: 1/3 holt auf innerhalb von 1 Jahr 1/3 nach 1 Jahr noch leichte Mängel 1/3 nach 1 Jahr noch deutliche Mängel Aber auch bei der Einschulung haben viele LTs noch deutliche Schwächen! (Defizite in Wortschatz, Grammatik und Lautbildung) Schulschwierigkeiten und schlechtere Berufschancen sind vorprogrammiert! Bes. gefährdet sind Kindern mit gleichzeitig bestehender Sprachverständnisstörung und Kinder von Müttern mit niedriger Schulbildung. Therapeutische Hilfe (HET) ist deshalb besonders bei diesen Kindern nötig!
Pilotprojekt in OÖ - SPES (Sprachentwicklungsscreening) Gesundheits- und Sozialabteilung des Landes OÖ in Zusammenarbeit mit dem Institut für Sinnes- und Sprachneurologie in Linz (Dr. D. Holzinger, Prim. Dr. J. Fellinger) Ziel: Screeningtest, einsetzbar für die Mutter-Kind-Passuntersuchung im Alter von 2 und 3 Jahren Elfra Kurztest VTO (Vroegtijde Onderkenning): Kurztest zur Prüfung des Sprachverstehens) 25 Kinderärzte haben 2525 zweijährige Kinder getestet. 15% der Zweijährigen waren auffällig. Angebot des Heidelberger Eltertrainings. (Kostenübernahme durch die Jugendwohlfahrt des Landes OÖ. Unkostenbeitrag für Eltern von Euro 20,00 für Materialkosten)
VTO (Kurztest zur Prüfung des Sprachverstehens) (Ridder et al 2006) Früherkennungsinstrument für Sprachentwicklungsstörungen (Niederlanden) 5 min. Screeningverfahren durch den Arzt: Befragung der Eltern zur Sprachproduktion (Wörter, 2- Wortverbindungen) Befragung der Eltern zur sprachlichen Interaktion (Spielverhalten) Überprüfen des Sprachverständnisses beim Kind über ein Erfragen von Körperteilen einer Puppe, auf die das Kind zeigen soll. Kosteneffizienz: mit 8 Jahren in der Studiengruppe VTO 30% weniger Kinder in Sonderschulen!! Auffällige, expressive Sprachprobleme um 42% weniger als bei der Kontrollgruppe.
Umsetzung in Vorarlberg Christine Troy (Logopädin): HET kann nun gestartet werden. Initiative von Dr. H. Geiger: Arbeitsgruppe zur Umsetzung der neuen Erkenntnisse im Bereich Prävention von SES: Dr. E. Gehrer, Dr. G. Weggemann, Dr. A. Winder, Dr. J. Wohlgenannt aks Arbeitskreis für Vorsorge und Sozialmedizin des Landes Vorarlberg bietet HET an.
Warum 2 Jahre warten?! Im Bereich Sehen: je früher desto besser (Katarakt muss mit 6 Wochen behoben werden, sonst mangelhafte Synapsenbildung im visuellen Cortex!) Use it or loose it! Im Bereich Hören: Intervention spätestens mit 3 Mon. gefordert. Im Bereich Motorik: früher Einsatz der Physiotherapie bei Risikokindern (es wird nicht gewartet bis das Kind geht bzw. nicht geht.) Im Bereich Sprache: wird gewartet bis das Kind mit 2 Jahren spricht, bzw. nicht spricht!
Baby Talk Programm (Dr. Sally Ward) 140 Kinder* im Alter von 10 Monaten 50% mit verzögerter Sprachentwicklung 50% Baby Talk Programm (BTP): - 4 Besuche 1x / Monat - BTP ½ h täglich Kontrollgruppe Follow up mit 3 Jahren Fast alle aufgeholt (Nur 3 unter Altersniveau) 85% noch immer sprachverzögert Follow up mit 7 Jahren Nur 4 SES Sprachfähigkeit 1-2 Jahre voraus, auch Lesefähigkeit und IQ! 20 SES IQ unteres Drittel, nur 1 Kind unter den Begabten Auch großer Unterschied im emotionalen und sozialen Verhalten und in der Konzentration! *Kinder mit Sprachverzögerung, mild bis schwer (ausgeschlossen: Autismus, Hörstörung, EWR)
Sprechen mit dem Baby ½ Stunde täglich 1:1 Situation Umgebung ruhig und ohne Ablenkungen Aufmerksamkeit Horchen
Baby Talk Programm Mit dem Baby sprechen Verwenden Sie kurze, einfache, aber vollständige Sätze: z.b.:. Komm zu mir Fröhliches Zwiegespräch in engem Kontakt: Seine Laute kopieren. Seine Pausen für eine Antwort abwarten. Geduldig zuhören. Neue Laute spielerisch einführen. Die Tonlage in Ihrer Stimme ist automatisch etwas höher, als wenn Sie mit Erwachsenen sprechen. Dies ist für das Baby hilfreich, da der Ohrkanal beim Baby an höhere Frequenzen angepasst ist als beim Erwachsenen. Sie sprechen auch melodischer und mit lebhafterem Gesichtsausdruck. Dies weckt ebenfalls die Aufmerksamkeit des Kindes. Sprechen Sie langsam mit Pausen zw. den Sätzen. Freude an der Sprache wecken: mit kurzen Reimen und Fingerspielen. Viele Spielgeräusche machen. Geräuschquellen suchen. Signalisiert dem Baby: Horchen macht Spaß!
Baby Talk Programm (Fortsetzung I) Verwenden Sie viele Wiederholungen, z.b.: Hier sind deine Finger. Ein Finger, noch ein Finger usw. Oder Das sind Teddys Augen, Teddys Nase... Die Wiederholungen helfen dem Kind sich das Wort einzuprägen, sodass es dies dann später abrufen kann. Möglichst keine Fragen ( Was ist das? ), deren Beantwortung Sie schon kennen, denn das Gespräch soll echt sein und kein Test. Möglichst keine negative Sprache (z.b.: Nein!, Lass das! usw.) in dieser ½ Stunde. Also sorgen Sie für eine kindersichere Umgebung. Nicht zum Sprechen auffordern! Seine Sprache nicht korrigieren, sondern richtig wiedergeben, was es gemeint haben könnte, ohne vorwurfsvolle Tonlage. Beachten Sie die goldene Regel: Ja! Z.B: das Kind sagt Nane. Mutter: Ja! Hier ist die Banane.
Baby Talk Programm (Fortsetzung II) Das Kind möglichst zu verstehen suchen, auch wenn es noch so undeutlich spricht. Nie im Regen stehen lassen, sondern den Satz so gut als möglich für es vollenden. Der Erwachsene beteiligt sich an dem vom Kind ausgewählten Buch oder Spiel (nicht umgekehrt dem Kind den Willen des Erwachsenen aufzwingen!) und teilt aufmerksam das Interesse des Kindes. Der gemeinsame Aufmerksamkeitsfokus ist der Schlüssel zum Erfolg!!
KON-LAB Sprachprogramm (Dr. Z. Penner) Sprache hochsensibles Regelwerk Schlüssel zum Sprachcode: Sprachrhythmus (z.b. Wortbetonung, Silbenlänge, Tonhöhe) Die Meilensteine der Sprachentwicklung sind Modell für die Therapiebausteine. Die sprachlichen Regeln der Wort- und Satzbildung werden zusätzlich visualisiert: Puzzles, Kärtchen, Mulitmediaspiele, CDs mit Liedern und Buch, Videos, DVDs, Bildergeschichten Sorgfältig gewählter Input, der alle überflüssige Sprache weglässt und nur die zulässt, die zum Entdecken der Grammatikregeln wichtig ist. Sprachwissenschaftler: Zeitfenster der Hirnentwicklung: kritische Phase des Spracherwerbs in den ersten 2-3 Jahren.
Ratgeber für Eltern zur frühen Sprachförderung
Fragen zur Sprachentwicklung bei der MU-KI-Pass Untersuchung 3. bis 4. Monat Seit wann lächelt das Baby? Lautiert und lacht es, wenn Sie mit ihm spielen? Lautiert es, wenn Sie mit ihm sprechen? Blickt es Sie an, wenn Sie mit ihm plaudern? Reagiert es auf Geräusche und Musik? Untersuchung: Blickkontakt und Lächeln ev. provozierbar Verhaltensänderung durch plötzliches Läuten eines Glöckchens ev. beobachtbar
Fragen zur Sprachentwicklung (Fortsetzung I) 7. bis 9. Monat Macht es viele Laute? Lautiert es so, als wolle es mit Ihnen plaudern? Macht es kurze Silben: ma, ba, da? Wiederholt es die Silbe: ma-ma, ba-ba? Reagiert es, wenn sein Name genannt wird? Dreht es den Kopf bei jedem Geräusch? Untersuchung: Reagiert es, wenn es beim Namen gerufen wird? Hört es den Sprechenden zu, wenn der Arzt mit der Mutter spricht? Hörtest mit Hochtonrassel und leiser Stimme: hohe Töne ( iii, sss, ttt ), und tiefe ( uuu, hmhm ) im Ohrniveau links und rechts.
Fragen zur Sprachentwicklung (Fortsetzung II) 10. bis 14. Monat Versteht es Nein!? Versteht es seinen Namen und Mama und Papa? Macht das Kind Bitte, bitte oder Winke, winke auf rein sprachliche Aufforderung, ohne dass ihm die Geste vorgezeigt wird? Macht es andere Gesten auf Aufforderung, z.b. Wie groß bist du? Macht es gern mit beim Spiel Backe, backe Kuchen oder Hoppa, hoppa, Reiter und versucht es selber, diese Spiele zu starten? Macht es lange Lallketten und wiederholt es die Silben mehrmals: ma-ma-ma-da-da? Ta-ba-ga (Buntes Lallen?) Lallt es so melodisch, wie sich die Muttersprache anhört? Sagt es schon ein Wort? (Muss noch nicht) Untersuchung: Macht vielleicht Winke, winke auf Aufforderung. Schaut vielleicht auf die Mama bei der Frage: Wo ist die Mama? Ev. (in der Praxis aber leider selten!) hört man das Kind lallen: Silben sollten so kurz und so melodisch wie in der Muttersprache sein.
Fragen zur Sprachentwicklung (Fortsetzung III) 2 Jahre versteht es Aufforderungen (mit 2 Hauptwörtern), wie: Bring den Ball dem Papa., Gib die Puppe der Mama., Gib den Löffel in die Tasse. Gibt es auf Aufforderung familiäre Gegenstände: Löffel, Tasse usw.? Hat es schon viele Worte? Bildet es kleine Sätze: Zwei- oder mehr Worte? Z.B.: Mama da., Papa Auto. Benennt es Bilder im Bilderbuch? Spielt es mit Figuren im Puppenhaus? Untersuchung: SBE-2-KT: Sprachbeurteilung durch die Eltern mit dem Kurztest Fragen nach Körperteilen ( Wo ist die Nase? usw.) an der Puppe. Ev. 5 Gegenstände (Puppe, Stühlchen, Löffel, Tasse, Schlüssel) vor dem Kind ausbreiten und sagen: Gib den Löffel in die Tasse. (Ausgangszustand nach jeder Aufforderung wieder herstellen). Setz die Puppe auf den Stuhl., Gib den Schlüssel der Mama. (Die 2-Jährigen sind allerdings am allerschwierigsten zu testen!!!)
Bedingungen zur Sprachentwicklung (aus BIAP Empfehlung 24-02) Faktoren beim Kind: Auditive Faktoren: auch leichter Hörverlust kann sich negativ auf die Entwicklung des Lallens und der Sprache auswirken. Morphologische Faktoren: orofaciale Intaktheit ist Voraussetzung für die Entwicklung der Artikulation (zb.:gaumenspalte) Visuelle Faktoren: Blickkontakt löst die Kommunikation aus! Neurologische und kognitive Faktoren: Hirnleistungsschwächen bedingen Schwierigkeiten der Sprachgestaltung. Faktoren bei der Eltern-Kind-Interaktion: Je sensibler die Mutter auf die Äußerungen des Kindes, seine Mimik und Gestik reagiert, umso besser gelingt die Sprachentwicklung.
Frühe Intervention = Prävention! Sorgen der Eltern ernst nehmen, denn sie haben fast immer recht! Das wächst sich aus! = obsolet!!! Abklären und im Fall von Sprachverzögerung nicht zuwarten, sondern rasch intervenieren! Die Intervention: Stärkung der Kompetenz der Eltern, ihrem Kind bei der Entwicklung zu helfen, ist sehr erfolgreich!!
Referenzen HET: Buschmann, A., Joos, B. (2007): Heidelberger Elterntraining zur frühen Sprachförderung. In Forum Logopädie, Heft 5, S.6-11. SBE-2-KT: www.kjp.med.uni-muenchen.de/sprachstoerungen/sbe-2- KT.php VTO: Ridder et al.2006: VTO Vroegtijde Onderkenning. In: Holzinger, D., Fellinger, H.(2008): Früherkennung von Sprachentwicklungsproblemen in der kinderärztlichen Praxis. In Pädiatrie und Pädologie. Verlag Springer Heft 43, Nr.2, 2008, S.29-33 BTP: Ward, S. (2000): Babytalk. The pioneering book that will change childcare forever. Cambridge: Century University Press. KONLAB: www.kon-lab.com Weggemann, G.(2006): Psst! Ich lerne sprechen. Hohenems. Bucher- Verlag Biap (Büro International d. Audiophonologie): www.biap.org/biapallemand.htm