Macht Glaube frei? Andreas Rieck. Eine Konfrontation des eigenen Gottesbildes mit der komplexen Psychologie C.G.Jungs. Geisteswissenschaft

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Transkript:

Geisteswissenschaft Andreas Rieck Macht Glaube frei? Eine Konfrontation des eigenen Gottesbildes mit der komplexen Psychologie C.G.Jungs Diplomarbeit

Macht Glaube frei? Eine Konfrontation des eigenen Gottesbildes mit der komplexen Psychologie C. G. Jungs

Eberhard-Karls-Universität Tübingen Katholisch Theologische Fakultät Lehrstuhl Praktische Theologie Macht Glaube frei? - Eine Konfrontation des eigenen Gottesbildes mit der komplexen Psychologie C. G. Jungs - Diplomarbeit Wintersemester 2005/ 2006 Andreas Rieck Tübingen, 3. Mai 2006 Seite 2

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis...3 Einleitung...5 Teil I. C. G. Jungs Theorie der Individuation: Der Weg vom Ich zum Selbst...7 1. Die Individuation...7 2. Der Prozess des Bewusstwerdens...10 3. Der Schatten...14 3.1 Inhalt und Entstehung...14 3.2 Der Umgang mit dem persönlichen Schatten...18 3.2.1 Annahme des Schattens...18 3.2.2 Verdrängung und Projektion...19 3.3 Gelungene Auseinandersetzung: Persönlichkeitsentfaltung hin zur Ganzheit... 22 4. Die Bedeutung des Symbols...23 4.1 Jung und Freud...23 4.2 Das symbolische Leben...24 5. Das Böse...29 5.1 Die quantitative psychische Wertigkeit und qualitative Wertung des Bösen...29 5.2 Die Dimension des vorläufigen Bösen...30 5.3 Das Gesetz der Enantiodromie...31 Exkurs: Das machtvolle Böse...32 Der Reiz des Bösen...33 Der Archetyp des Bösen...34 Fazit: Die Verantwortung des Einzelnen...35 6. Das Verständnis von Schuld in der Psychoanalyse...36 6.1 Der Sündenfall: Eintritt in die Welt der Unterscheidung...37 6.2 Der Exodus und das Dilemma...38 6.3 Das Motiv der felix culpa...39 6.4 Das Schuldgefühl...41 7. Die Entwicklung der Moral...44 8. Ziel der Individuation: Selbstbegegnung und Gottesbegegnung...48 Teil II. Der Einfluss dämonischer Gottesbilder auf die Individuation...51 1. C. G. Jungs Kritik an der christlichen Kultur...51 2. Die Entstehung von Gottesbildern...53 2.1 Die pränatale Phase...53 2.2 Die frühkindliche Zeit...55 2.2.1 Die Phase des Urvertrauens oder: Ich bin, was man mir gibt....55 2.2.2 Phase der Autonomie oder: Ich bin, was ich will....55 2.2.3 Die Phase der Initiative gegen Schuldgefühle oder: Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann....57 2.2.4 Die Hintergründe widersprüchlicher Gottesbilder...59 3. Die Auswirkungen der Schlüsselposition und des Schlüsselwortes auf das Gottesbild... 61 3.1 Die Schlüsselposition...61 3.2 Das Schlüsselwort...62 3.3 Der Weg der Auseinandersetzung mit dem eigenen Schlüsselwort...63 3.4 Mögliche Gründe für unterlassene Aufarbeitung...66 4. Dämonische Gottesbilder...67 4.1 Was heißt dämonisch?...67 4.2 Die dämonischen Gottesbilder im Einzelnen...68 Seite 3

4.2.1 Der strafende Richtergott...69 4.2.2 Der Willkürgott...71 4.2.3 Der strenge und allmächtige Vatergott...72 4.2.4 Der dämonische Todes-Gott...73 4.2.5 Der Buchhalter- und Gesetzesgott...74 4.2.6 Der Leistungsgott...75 4.3 Schlussfolgerungen...78 5. Der Gott Jesu Christi...79 5.1 Der Einstieg Gottes in die menschliche Krisengeschichte...80 5.2 Ein Beispiel für heilsame Gottesbilder des Neuen Testaments: Der barmherzige mütterliche Vater...81 6. Henri J. M. Nouwen: Du bist der geliebte Mensch...83 Teil III. Fazit: Worauf es ankommt...86 Ausblick...90 Literaturverzeichnis...91 Seite 4

Einleitung Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. (Joh 10,10) Was bringt`s? so lautet die Frage, an der sich gegenwärtig der Wert einer Sache oder Handlung messen lassen muss. Effizienz ist das große Stichwort, das alle Lebensbereiche durchdringt und an der sich letztendlich auch der Wert des Einzelnen misst. Wir alle haben diese Maxime mehr oder weniger internalisiert und ergeben uns der Illusion, eines Tages vollkommen den Ansprüchen zu genügen! Und Gott? Welche Rolle spielt Gott in diesem Kampf? Befreit er uns aus dem Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit? Haben unsere Schwächen und unser Scheitern wenigstens in unserer Beziehung zu ihm Berechtigung? Bei vielen so scheint es ist dem nicht so. Im Gegenteil: Viele Christen tragen ein Gottesbild in sich, das sie in ihrer Lebensfreude zusätzlich einschränkt. Sie befinden sich in der ausweglosen Situation, es nicht nur ihrem Umfeld, sondern auch ihrem Gott recht machen zu müssen und dabei zu erfahren, dass sie an ihren Idealen immer wieder scheitern. Die Bibel lesen sie als eine Ansammlung von Anforderungen, Geboten und Verboten. Insgeheim kann es sein, dass sie erkennen, dass dieser Weg nicht in die Weite und in das von Jesus verheißene Leben in Fülle führt. Die oft unbewusste Angst vor der Strafe Gottes und vor dem Misslingen ihres Lebens hält sie jedoch davor ab, den Kurs zu ändern und gegen die Stimme des inneren Anklägers zu handeln. Die Konsequenz ist, dass sie von diesem Gott loskommen wollen, es aber nicht schaffen, weil die Furcht vor seiner gerechten Strafe zu groß ist. Dadurch verstärken sich die Schuldgefühle, die einhergehen mit dem Bewusstsein, diesen Gott nicht zu lieben und deshalb zusätzlich versagt zu haben. 1 Der Psychoanalytiker C. G. Jung beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Leben in Fülle zu erreichen ist. Er kritisiert einen Glauben, der Gott versteht als forderndes Gegenüber, das dem Menschen sagt bspw. durch die Bibel, was objektiv zu tun oder zu lassen ist. Seiner Meinung nach ist gelingendes Leben nur dann möglich, wenn Gott als Teil der eigenen Seele erkannt wird, wenn Religion die Seele des Menschen berührt und zur Entfaltung bringt. Er propagiert daher einen Weg, der von 1 Vgl. JÖRG MÜLLER, Heilung durch Versöhnung, S. 55-58. Seite 5

äußeren Idealmaßstäben befreit, die Regungen der Seele sowie des Unbewussten aufwertet und ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Diesen Weg der ganzheitlichen Selbstwerdung mit möglichen Hindernissen auf demselben werden in vorliegender Arbeit untersucht und dargelegt. Das Anliegen dieser Arbeit ist dabei ein grundlegend theologisches: es geht um die Frage nach gelingendem Leben einem Leben in Fülle. Im ersten, psychoanalytischen Teil, wird C. G. Jungs Theorie der Individuation beleuchtet. Die Bewusstwerdung des eigenen Schattens sowie die Aussöhnung mit ihm ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Individuation, der zur Ganzheit und zur Selbst- oder Gottesbegegnung führt. 2 Mitentscheidend für eine gelungene Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten ist das Verständnis von Schuld und Moral sowie das Verständnis von Gut und Böse. Aus diesem Grund wird Jungs Theorie der Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten untersucht, sowie sein Verständnis von Schuld, moralischem Handeln und dem Bösen ausgeführt. Da Jung dem Symbol eine wichtige Bedeutung für die Individuation beimisst, fällt sein Verständnis des symbolischen Lebens und dessen Bedeutung für gelingendes Leben ebenfalls in den Blick. Im zweiten Teil erfolgt eine Konkretisierung der vorangegangenen Ausführungen. Aus Sicht der Entwicklungs- und Pastoralpsychologie wird die Frage der Entstehung (dämonsicher) Gottesbilder und deren unbewusster Auswirkung auf die Selbstwerdung beleuchtet. Dabei soll gezeigt werden, inwiefern eine Konfrontation mit dem überkommenen Gottesbild hilfreich für gelingende Gottes- oder Selbstbegegnung ist. Es werden einzelne dämonische Gottesbilder näher erläutert und mit dem Gleichnis vom Barmherzigen Vater konfrontiert. Abschließend soll Henri Nouwen als ein Beispiel für gelungene Individuation sowie die Relevanz heilsamer Gottesbilder auf seinem Weg kurz vorgestellt werden. 2 Im Rahmen dieser Arbeit werde ich vorwiegend auf die Auseinandersetzung mit dem individuellen Schatten auf dem Weg der Individuation eingehen. Die spezifische Auseinandersetzung mit der Anima/ dem Animus werde ich dabei nicht explizit erörtern. Seite 6

Teil I. C. G. Jungs Theorie der Individuation: Der Weg vom Ich zum Selbst 1. Die Individuation Individuation ist das Leben in Gott. 3 Das Ziel der psychologischen Entwicklung ist die Individuation, respektive die Selbstwerdung. Dies geschieht, indem der Einzelne die Erkenntnis und das Wissen um das eigene Wesen vermehrt und auf diesem Weg zum eigenen Selbst durchdringt. So kann er seine Individualität, Einzigartigkeit und Ganzheit zu entfalten. 4 Für Jung bedeutet Individuation zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst zu werden. 5 Dieses Selbst steht für Jung als Begriff für all die seelischen Regungen und Bestimmungen, die den Inbegriff der menschlichen Ganzheit erahnen lassen, ohne diese Ganzheit jedoch letzten Endes bestimmen zu können. Bei der Individuation wird das Bewusstsein durch die Analyse und Integration der Abwehrmechanismen (zum Beispiel die Projektion des Schattens, s. 3.2.2) erweitert. Dadurch wird der Mensch zu einem ganzen, unteilbaren und von anderen Menschen, zu denen er immer in Beziehung steht, unterschiedenen Individuum. Ziel des Individuationsprozesses ist das Streben nach psychischer Ganzheit. Diese Ganzheit ist keine Vollkommenheit, sondern eine Vollständigkeit 6, bei der nicht nur die guten Eigenschaften, zu denen das Bekenntnis nicht schwer fällt, sondern auch das Dunkle, Destruktive oder Verdrängte, das Abgelehnte sowie die verworfenen Qualitäten erhellt und integriert werden. Der Mensch wird sich bewusst, in welcher Hinsicht er ein einzigartiges menschliches Wesen ist und in welcher er andererseits zugleich auch nicht mehr ist als ein gewöhnlicher Mann oder eine gewöhnliche Frau. Individuation kann daher nur einen psychologischen Entwicklungsprozess bedeuten, 3 C. G. JUNG, Band 18/2, S. 773. 4 Der vereinigende Aspekt der Individuation wird durch die Etymologie des Begriffes unterstützt: Ich gebrauche den Ausdruck»Individuation«im Sinne jenes Prozesses, welcher ein psychologisches»individuum«, d.h. eine gesonderte, unteilbare Einheit, ein Ganzes erzeugt. Ders., Band 9/1, S. 293. 5 Ders., Band 7, S. 191. 6 Ders., Band 16/2, S. 254. [Zitat im Original kursiv]. Seite 7