Dr. J. Olaf Kleist, Oxford* Warum weit weniger Asylbewerber in Europa sind, als angenommen wird: Probleme mit Eurostats Asylzahlen

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Transkript:

ABHANDLUNGEN Kleist, Warum weit weniger Asylbewerber in Europa sind, als angenommen wird Dr. J. Olaf Kleist, Oxford* Warum weit weniger Asylbewerber in Europa sind, als angenommen wird: Probleme mit Eurostats Asylzahlen Angesichts steigender Zahlen an schutzsuchenden Migranten in Europa und der flüchtlingspolitischen Diskussion um Verantwortungsverteilung und Quoten zur Aufnahme von Asylbewerbern sind Statistiken zu Asyl in Europa ein wichtiger Gegenstand öffentlicher Diskussionen und Instrument politischer Gestaltung. Doch die Zahlen, die vom europäischen Statistikamt Eurostat hierzu bereitgestellt werden, sind problematisch. Zum einen gibt es wenig Transparenz und damit wenig öffentliches Verständnis bezüglich der Ungenauigkeiten, die sich in der Erhebung durch uneinheitliche Definitionen und bei der Interpretation der Daten ergeben. Zum anderen kommt es bei der Zusammenstellung der Daten zu Doppelzählungen von Asylanträgen, wodurch die Anzahl an Asylbewerbern viel höher scheint, als sie tatsächlich sind. Ich zeige auf, wie es zu diesen Doppelzählungen kommt und wie jene aus den Statistiken grob herausgerechnet werden können. Für diese Korrektur verwende ich in einem Ansatz Eurostats eigene Angaben und schlage dann eine alternative Annäherung mit Eurodacs Daten vor. Mit bereinigten Daten komme ich zu dem Schluss, dass die Asylbewerberzahlen in Europa 2014 rund ein Viertel und 2013 sogar ein Drittel niedriger waren, als von Eurostat offiziell berichtet wurde. Für ein gemeinsames europäisches Asylsystem, argumentiere ich abschließend, ist eine zentrale und transparente Erhebung der Asylzahlen notwendig. 1. Asylbewerber in welchem Europa? Will man über Asylbewerberzahlen in Europa sprechen, so stellt sich zunächst die Frage, um welches Europa es sich dabei handelt. Die UN Statistics Division führt 53 Staaten für Europa auf. 1 UNHCR spricht hingegen von 38 europäischen Staaten. 2 Solche geographischen Festlegungen sind in Bezug auf Asylpolitik jedoch wenig aussagekräftig. Für Asylstatistiken mag es naheliegend sein, sich auf die Europäische Union (EU) zu konzentrieren, die seit rund 15 Jahren ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) entwickelt. Die inzwischen 28 Mitgliedsstaaten haben insofern ähnliche Verfahren und Kriterien, nach denen Asyl beantragt und gewährt wird. Doch angesichts einer gemeinsamen Außengrenze, die nicht nur die EU-Staaten umfasst, müssen wir in Bezug auf Migrationsdaten den Blick gegebenenfalls weiten. Tatsächlich gehören Norwegen, Island, Schweiz und Liechtenstein nicht der EU an, sind aber Teil des Schengenabkommens, dem wiederum sechs EU-Staaten nicht angehören. Gehen wir jedoch von der EU-Dublin-Verordnung aus, die die Verantwortung für Asylbewerber zwischen den Staaten regelt, umfasst diese sowohl alle EU- als auch Schengen-Länder. 3 Das heißt, will man über Asylbewerber in Europa sprechen, so können sich Zahlen daher auf aktuell 26 (Schengen), 28 (EU) oder auch auf 32 (Dublin) Länder beziehen. Hier soll vorwiegend der Dublin- aber auch der EU-Raum berücksichtigt werden. In der Diskussion um Asylbewerberzahlen in Europa wird der jeweilige Bezugsrahmen jedoch häufig nicht explizit thematisiert. 2. Wer zählt Asylbewerber? Daten über Asylbewerber werden in der EU von Nationalstaaten erhoben. Seit 2008 sind die Mitgliedstaaten der EU sowie die übrigen Dublin-Länder verpflichtet, Angaben über Asylbewerber, deren Anträge und Verfahrensentscheidungen an Eurostat, das Statistikamt der Europäischen Kommission, zu übermitteln. 4 Eurostat aggregiert die Daten und stellt vierteljährlich Statistiken und Publikationen zu Asyl bereit. 5 Basierend auf Eurostat-Zahlen veröffentlichen weitere Organisationen Statistiken zu Asylbewerbern in Europa. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) gibt quartalsmäßig einen Asylbericht heraus, der weitgehend von Eurostat-Daten ausgeht, aber in der Interpretation über die Angaben des europäischen Statistikamts hinausgeht. 6 Auch der statistische Teil des Jahresberichts von AIDA (Asylum Information Database), einem Projekt des Zusammenschlusses europäischer NGOs European Council on Refugees and Exiles (ECRE), verlässt sich auf die Angaben von Eurostat. 7 Die offiziell genutzten Zahlen in der Debatte um Asylbewerber in Europa sind somit weitgehend die gleichen, da sie alle auf die Datensammlung und Bereitstellung von Eurostat zurückgehen. Eine weitere EU-Institution sammelt weitgehend unbeachtet Daten über Asylanträge, nämlich Eurodac, die Fingerabdrücke von Asylbewerbern im Schengenraum registrieren. 8 Diese Datensammlung ist unabhängig von Eurostat und weit weniger differenziert, da die statistische Auswertung hier nur ein Nebenprodukt der Kontrolle von Mehrfachanträgen ist. Die Eurodac-Daten sind jedoch ein gutes Korrektiv zu Eurostat, worauf ich weiter unten genauer eingehe. Einzig das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) gibt von EU-Institutionen unabhängige Zahlen zu Asylbewerbern heraus. UNHCR sammelt Daten durch seine nationalen und regionalen Büros, wobei auf eigene Quellen und auf staatliche Angaben zurückgegriffen wird. 9 So * Der Verfasser ist DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) Research Fellow am Refugee Studies Centre der University of Oxford. 1 http://millenniumindicators.un.org/unsd/methods/m49/m49regin. htm#europe, 2 http://www.unhcr.org/pages/4a02d9346.html, 3 Verordnung (EU) Nr. 604/2013. 4 Verordnung (EG) 862/2007. 5 http://ec.europa.eu/eurostat/, 6 https://easo.europa.eu/asylum-trends-analysis/quarterly-report/, 7 http://www.asylumineurope.org/annual-reports, 11.7.205. 8 Verordnung (EG) 2725/2000. 9 UNHCR, Statistical Online Population Database: Sources, Methods and Data Considerations, 1.1.2015, http://www.unhcr.org/45c06c662.html, 294 ZAR 9/2015

Kleist, Warum weit weniger Asylbewerber in Europa sind, als angenommen wird ABHANDLUNGEN entsprechen die Zahlen an Asylbewerbern, die UNHCR im Global Trends 2014 Bericht für Deutschland angibt, in etwa den Erstantragszahlen, wie sie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) berichtet werden. 10 Im selben Bericht weichen die Gesamtzahlen an Asylbewerbern für die 28 EU-Staaten jedoch merklich von den Eurostat-Angaben ab. In ihren jeweiligen Berichten, die beide im März erschienen, spricht UNHCR von 570.800 neuen Asylanträgen in 2014, während Eurostat die Zahl an Neuanträgen mit 536.980 angibt. Die Abweichung um über fünf Prozent macht bereits deutlich, dass die gesammelten Zahlen weit weniger präzise sind als weithin angenommen. Es gibt Unterschiede in der Erhebung aber auch Probleme bei der Zusammenstellung der Daten, die beide Statistiken betreffen. 3. Erhebung und Definitionen Bei der Erhebung von Migrationszahlen in Europa ist es zunächst schwierig, in einer für alle Länder einheitlichen Definition festzulegen, wer erfasst werden soll. 11 Auch in Deutschland ist die differenzierte statistische Unterscheidung von Migranten und deren Nachfahren noch mangelhaft. 12 Trotz des GEAS kommt es in der EU auch in Bezug auf Asylbewerber zwischen den Mitgliedstaaten zu Variationen in der Erfassung. So gibt es unterschiedliche Praktiken, wie das Alter von Asylsuchenden determiniert oder in unklaren Fällen die Staatszugehörigkeit festgelegt wird. Antragszahlen hängen davon ab, ob Familien, die zusammen einen Antrag stellen, als ein Fall berichtet werden, oder ob jede Person eines Antrags einzeln gezählt wird. Richtlinien zur Datenerhebung von 2013, die ab der Erfassung 2014 in Kraft traten, sollen durch Präzisierung solchen Abweichungen entgegenwirken. 13 Allerdings bestehen nach wie vor Unklarheiten. In der Erfassung des Alters wurden die unterschiedlichen nationalen Praktiken durch die Verordnung geradezu festgeschrieben. 14 Dies kann für unbegleitete Minderjährige schwerwiegende Konsequenzen haben, wenn sie aufgrund der Abweichungen in einem Land besonderen Schutz genießen und in einem anderen nicht. 15 Aber auch für die Erhebung der Asylbewerberzahlen kann die Altersbestimmung relevant sein, wie wir sehen werden. Auch in anderen Bereichen ist eine einheitliche Erhebung fraglich, gerade wenn es zu den Kategorien der Anerkennung kommt. Nicht nur gibt es große Abweichungen zwischen europäischen Staaten in der Anerkennungsquote für bestimmte Herkunftsländer, auch die legalen Status, die Staaten Schutzsuchenden bieten können, sind länderspezifisch. 16 So sind das Asyl nach dem Grundgesetz und die Duldung spezielle deutsche Titel, die es so in anderen europäischen Staaten nicht gibt. Somit führen unterschiedliche Definitionen und damit die Vergleichbarkeit der Daten, die von den Ländern bereitgestellt werden, zu problematischen Ergebnissen. Eurostat weist angesichts unterschiedlicher länderspezifischer Konzepte zumindest retrospektiv auf die Schwierigkeit der Vergleichbarkeit von Länderdaten hin, insbesondere über eine längere Zeit. 17 Doch anhaltende Unterschiede in Konzepten und Änderungen in den Richtlinien zur Datenerhebung machen eine Vergleichbarkeit, insbesondere Aussagen zu Entwicklungen und Trends, nach wie vor fragwürdig. 4. Anträge und Verfahren Einen besonderen Einfluss auf die Asylzahlen hat eine Unterscheidung, die laut EU-Verordnung und den Richtlinien zur Datenerhebung von allen beteiligten Ländern beachtet werden sollte aber nicht wird, nämlich die zwischen Erst- und Folgeanträgen. Wie ich anderswo in Bezug auf deutsche Asylstatistiken hervorgehoben habe, lassen nur die Erstanträge eine Aussage darüber zu, wie viele Asylbewerber einen Antrag gestellt haben, da sich Folgeanträge auf bereits gezählte Personen beziehen. 18 Österreich, Island und Luxemburg berichten indes, trotz der neuen Richtlinien zur Datenerhebung von 2013, Erst- und Folgeanträge nicht getrennt, sondern nur zusammen, während alle anderen Länder, seit 2013 auch Ungarn, die Differenzierung unternehmen. Dies bedeutet, dass die Eurostat-Daten zu Erstanträgen in Europa unvollständig sind. Angesichts fehlender Differenzierung zwischen Erst- und Folgeanträgen in Angaben einiger Länder addiert Eurostat die Daten für alle Asylanträge, um eine Gesamtzahl für die 28 EUund die 32 Dublin-Länder zu erhalten. Wirklich problematisch ist dies vor allem, weil Eurostat die so kalkulierten Zahlen als die Anzahl an Asylantragstellern ( asylum applicants ) und nicht an Asylanträgen angibt. 19 Dies ist eine eklatante Fehlbezeichnung. Entsprechend berichten Medien mit Bezug auf Eurostat-Daten inkorrekt von 625.000 Menschen, die 2014 in der EU Asyl suchten, obwohl Antragsteller für Folgeanträge bereits bei ihrem Erstantrag gezählt wurden. 20 Doch selbst wenn 10 UNHCR, Global Trends Forced Displacement in 2014, 28, http://www. unhcr.org/556725e69.html, 11.7.2015; BAMF, Das Bundesamt in Zahlen 2014 Modul Asyl, 2015, 8, http://www.bamf.de/shareddocs/anlagen/ DE/Publikationen/Broschueren/broschuere-bundesamt-in-zahlen- 2014-asyl.pdf? blob=publicationfile, 11.7.2015. 11 Walker, The numbers game: illusions of control, The Compas Blog, 10.2.2015, http://compasoxfordblog.co.uk/2015/03/the-numbersgame-illusions-of-control/, 12 Miller, Integration in Berlin: Research for a desolate landscape, Migration Systems Blog, 13.5.2014, https://www.migrationsystems.org/integration-berlin-research-desolate-landscape/, 13 Eurostat, Technichal Guidelines for the Data Collection under Art. 4 of Regulation 862/2007 Statistics on Asylum. Version Amended in December 2013, http://ec.europa.eu/eurostat/cache/metadata/ Annexes/migr_asyapp_esms_an3.pdf, 1.7.2015. 14 Eurostat, ebenda, 4. 15 European Commission, Mid-term report on the implementation of the Action Plan on Unaccompanied Minors, 28.9.2012, http://ec.europa.eu/ dgs/home-affairs/e-library/docs/uam/uam_report_20120928_en.pdf, 11.7.2015; France terre d asile, Right to asylum for unaccompanied minors in the European Union: Comparative study in the 27 EU countries, 2012, http://www.france-terre-asile.org/images/stories/mineurs-isoles-etrangers/final-report-mie-en-2012.pdf, 16 Thränhardt, Europäische Abschottung und deutscher Asylstau: Gibt es Wege aus dem Dilemma?, ZAR 2014, 177 ff. 17 Eurostat, Applications (migr_asyapp), Reference Metadata in Euro SDMX Metadata Structure (ESMS), 16.2, http://ec.europa.eu/eurostat/ cache/metadata/en/migr_asyapp_esms.htm, 18 Kleist, Zahlen, Daten Fakten? Teil 1: Was uns Statistiken über Asyl in Deutschland sagen, und was nicht, FlüchtlingsforschungsBlog, 23.2.2015, http://fluechtlingsforschung.net/zahlen-daten-fakten/, 19 Eurostat, Asylum applicants and first instance decisions on asylum applications: 2014, Data in focus 3/2015, http://ec.europa.eu/eurostat/ documents/4168041/6742650/ks-qa-15-003-en-n.pdf, 20 Z. B. Das Erste, Wer nimmt in der EU wie viele Asylbewerber auf?, 27.5.2015, http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/ mittagsmagazin/sendung/fluechtlinge-erstversorgung-eu-aufnahme- 100.html, 11.7.2015; NZZ, Deutlich mehr Asylbewerber in 2014, 20.3.2015, http://www.nzz.ch/newsticker/deutlich-mehr-asylbewerber-in-der-euin-2014-1.18506571, ZAR 9/2015 295

ABHANDLUNGEN Kleist, Warum weit weniger Asylbewerber in Europa sind, als angenommen wird man die österreichischen Angaben aus der Gesamtzahl der Anträge herausrechnet, liegen Erstanträge in der EU (536.980) insgesamt über zehn Prozent niedriger als die offiziellen Angaben. 5. Offizielle Doppelzählungen: Dublin und doppelte Asylbewerber Die Definitionen und Interpretationen der Eurostat-Daten führen zu einigen Verzerrungen in der Aussage über Asylbewerber und deren Anzahl in Europa. Zudem lassen die Antragszahlen, die im Laufe des Jahres addiert werden, keine Aussage darüber zu, ob sich die Angaben auf noch laufende oder schon abgeschlossene Verfahren beziehen. Hier können die Verfahrenszahlen ein besseres Bild davon abgeben, wie viele Asylbewerber sich in Europa zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhalten. 21 Für die Frage der Verantwortungsverteilung im Schengenraum macht es aber durchaus Sinn, die kumulativen Zahlen über ein ganzes Jahr zu kalkulieren, um eine relative Verteilung zwischen den Ländern zu erfassen. Doch ergibt der Fokus auf Asylverfahren, die im Laufe eines Jahres durchgeführt werden und in denen die Gesuche auch tatsächlich inhaltlich überprüft werden, einen radikal anderen Eindruck als die von Eurostat berichteten, medial diskutierten und politisch genutzten Asylanträge. Denn ein Asylsuchender mag mehrere Erstanträge stellen, die auch mehrfach gezählt werden, aber dies wird nur zu einem Verfahrensergebnis führen. Dennoch werden von Eurostat nur die Anträge, nicht aber die inhaltlich durchgeführten Verfahren statistisch erfasst. Die Asylantragszahlen basieren, wie gesagt, auf Berichten der Staaten. Eurostat addiert diese, als würde jeder Antrag von einer anderen Person gestellt, und als bestünde kein Asylbewerberverteilungssystem in Europa. Die Dublin-Verordnung soll verhindern, dass ein Asylbewerber Asylverfahren in mehreren europäischen Ländern durchläuft. 22 In der Zusammenstellung der Daten wird jedoch ignoriert, dass einige Asylbewerber dennoch in mehreren europäischen Ländern Anträge stellen, auch wenn nur in einem Land der Antrag inhaltlich geprüft wird. Die Richtlinien zur Datenerhebung von 2013 sehen sogar explizit vor, dass Asylbewerber, die vom Dublin-Verfahren betroffen sind, zweimal als Asylbewerber registriert werden sollen: sowohl in dem Mitgliedstaat, aus dem sie abgeschoben werden, als auch in dem Land, in das sie abgeschoben werden. 23 Demnach werden Dublin-Fälle doppelt als Asylbewerber in Eurostat-Statistiken aufgeführt, anstatt sie nur dort zu zählen, wo ihr Asylverfahren tatsächlich geprüft wird. Asylbewerber, die unter der Dublin-Verordnung abgeschoben werden, müssten eigentlich aus den Angaben des abschiebenden Landes herausgerechnet werden. Leider sind die Zahlen zu den Dublin-Verfahren von 2014 noch sehr unvollständig, insofern Eurostat bisher (Stand 11.7.2015) nur für zwölf der Dublin-Länder Transferzahlen ausweist. 24 Doch 2013 kam es laut Eurostat zu über 16.000 Dublin-Abschiebungen im Schengenraum, wobei für vier von den 32 Mitgliedstaaten hierzu keine Daten berichtet werden. 25 Beachtet man also, dass von den 2013 für den Dublin-Raum berichteten 467.575 Asylanträgen nur 373.395 Erstanträge waren, 26 so müssen von jenen die doppelt gezählten Dublin-Abschiebungen abgezogen werden. Damit kommen wir auf etwa 357.000 Asylanträge, rund 23,6 Prozent weniger als die offiziellen Gesamtzahlen und 4,4 Prozent niedriger als die offiziellen Erstantragszahlen. 6. Inoffizielle Doppelzählungen: Eurodac und mehr doppelte Asylbewerber Doch es ist noch vertrackter. Dublin-Abschiebungen können aus zwei Gründen erfolgen: aufgrund eines Übernahmegesuchs (4.548 Abschiebungen) oder aufgrund eines Rücknahmegesuchs (11.466 Abschiebungen). 27 Im ersten Fall handelt es sich um humanitäre oder familiäre Gründe oder weil Umstände auf eine Ankunft im Schengenraum in einem anderen Land hinweisen. Im zweiten Fall, den Rücknahmegesuchen, wurde bereits ein Asylantrag in dem Land gestellt, in das der Asylbewerber transferiert werden soll. Das bedeutet, dass in den Fällen, in denen ein Rücknahmegesuch gestellt wird, bereits vor einer Abschiebung eine Doppelregistrierung vorliegt: in dem Land, das ein Rücknahmegesuch stellt, da beim Stellen eines Asylantrags ein bereits bestehender Antrag bemerkt wurde, und in dem Land, in das der Asylbewerber abgeschoben wurde, weil dort bereits ein Antrag vorliegt. Nun sind die Abschiebungen aufgrund von Rücknahmegesuchen nur ein Bruchteil der registrierten Rücknahmegesuche. Tatsächlich wurden 2013 laut Eurostat 59.495 Rücknahmegesuche gestellt (wobei von vier Ländern keine Angaben vorliegen). 28 In all diesen Fällen kam es also zu Doppelregistrierungen, wenn nicht sogar zu Mehrfachregistrierungen, egal ob es zu einer Abschiebung kam oder nicht. Hinzu kommt, dass nicht in allen Fällen von bereits bestehenden Asylanträgen auch ein Rücknahmegesuch gestellt wird. So kam es zu 10.973 Treffern für bestehende Anträge in Griechenland, 29 aber nur zu 28 Rücknahmegesuchen, 30 da Abschiebungen nach Griechenland ausgesetzt sind. 31 Alle diese Treffer sind Doppelzählungen in der Eurostat-Statistik. 21 Kleist (o. Fn. 18). 22 Verordnung (EG) Nr. 343/2003. 23 Eurostat (o. Fn. 13), 12. 24 Eurostat, Outgoing Dublin transfers by receiving country, legal provision and duration of transfer, 2008-2014, migr_dubto, Eurostat, Stand 3.7.2015, http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=migr_dubto&lang=en, 25 Eurostat (o. Fn. 24). 26 Eurostat, Asylum applications and first instance decisions on asylum applications: 2013, Data in focus 3/2014, http://ec.europa.eu/eurostat/ documents/4168041/5948933/ks-qa-14-003-en.pdf. 27 Eurostat (o. Fn. 24), LEG_PROV: CHARGE, LEG_PROV: BACK. 28 Eurostat, Outgoing Dublin requests by submitting country, type of request and legal provisions, 2013 (keine Angaben für Tschechische Republik, Dänemark, Niederlande und Großbritannien), Taking back requests (Articles: 20.5, 18.1.b, 18.1.c, 18.1.d), migr_dubri, LEG_PROV: BACK, Eurostat, Last update 1. 7.2015 29 EU-LISA, Annual report on the 2013 activities of the Central Unit of Eurodac pursuant to Article 24(1) of Regulation (EC) No 2725/2000, 23, http://www.eulisa.europa.eu/publications/reports/eulisa_report_ eurodac_en.pdf, 30 Eurostat, Incoming Dublin requests by submitting country, type of request and legal provisions, 2013, Taking back requests (Articles: 20.5, 18.1.b, 18.1.c, 18.1.d), migr_dubri, LEG_PROV: Back, Eurostat, Last update 1.7.2015 31 EuGH C-411/10 und C-493/10. 296 ZAR 9/2015

Kleist, Warum weit weniger Asylbewerber in Europa sind, als angenommen wird ABHANDLUNGEN Zählen wir also die Abschiebungen aufgrund von Übernahmegesuchen, sowie alle Rücknahmegesuche und die Doppelanträge im Fall von Griechenland zusammen so kommen wir auf rund 75.000 Fälle, die in den Eurostat-Statistiken doppelt gezählt wurden. Ziehen wir diese von den von Eurostat kalkulierten Erstantragstellern von 373.395 ab, so kommen wir für 2013 auf eine Zahl von unter 300.000 Asylbewerbern im gesamten Dublin-Rraum. Somit war 2013 die Anzahl an Asylbewerbern etwa 16,1 Prozent geringer als Eurostats Erstantragszahlen vermuten lassen. Beziehen wir die Zahlen auf die Gesamtantragszahlen, ist das Ergebnis noch eklatanter. Damit befanden sich rund 169.000 oder 36 Prozent weniger neue Asylbewerber im Dublin-Raum, als in Statistiken behauptet wurde. Stellen wir die gleiche Berechnung für die 28 Staaten der EU an, die normalerweise von Eurostat als Bezugsrahmen herangezogen wird, so kommen wir zu ganz ähnlichen Verhältnissen. Wir gehen von 434.160 Gesamtantragszahlen aus, die offiziell von Eurostat und folglich von Medien als knapp 435.000 Asylbewerber berichtet wurden. 32 Darunter waren 342.650 Erstanträge und somit neue Asylbewerber. 33 Addieren wir für den EU-Raum, also ohne Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz, die Doppelzählungen aufgrund von Übernahmetransfers (2.957), Rücknahmegesuchen (51.257) und Eurodac-Treffer für Griechenland (10.237), so kommen wir auf 64.451. Damit liegt die bereinigte Quote von Asylanträgen für den EU-Raum bei 278.199 und somit 18,8 Prozent niedriger als die offiziellen Angaben für Erstanträge und 36 Prozent unter den weit verbreiteten Asylbewerberzahlen. In anderen Worten: Jeder dritte statistische Asylbewerber in Europa existiert nicht. All diese Korrekturen gehen weitgehend aus den Eurostat-Daten selbst hervor, die eben auch Dublin-Fälle erfassen. Doch es muss ganz klar darauf hingewiesen werden, dass auch die bereinigten Zahlen nicht präzise sind. Da diverse Länder keine oder nur selektive Angaben machen, sind die Antragszahlen von vornherein ungenau. Auch die hier durchgeführten Berechnungen basieren auf ganz unterschiedlichem Quellenumfang, da beispielsweise einige Länder die Dublin-Gesuche aber nicht die tatsächlich stattfindenden Abschiebungen angeben. So erreichen wir selbst mit den um die Doppelzählungen korrigierten Zahlen nur ein ungefähres Bild der Anzahl an neuen Asylbewerbern in Europa. 7. Eurodac: Alternative Annäherung an Asylbewerberzahlen Eine genaue statistische Erfassung der Asylbewerberzahlen ist mit Eurostats Instrumenten nicht möglich. Jedoch ergibt sich aus Eurodacs zentraler Erfassung von irregulären Migranten und Asylbewerbern im Dublin-Raum ein alternatives statistisches Instrument. Die Datenbank von Eurodac wird von Mitgliedstaaten unter anderem dazu genutzt, anhand von Fingerabdrücken festzustellen, ob Asylbewerber bereits anderswo einen Asylantrag gestellt haben. Dies ist ein Standardverfahren bei der Registrierung von Asylanträgen. Somit werden in der Eurodac-Datenbank nicht nur alle Asylanträge registriert, sondern es wird auch erfasst, in welchen Fällen Doppel- oder Mehrfachanträge vorliegen. Diese Daten werden im techni- schen Eurodac-Jahresbericht der European Agency for the operational management of large-scale IT systems in the area of freedom, security and justice (eu-lisa) aufgeführt. Eurodac erfasst verschiedene Anfragen, wobei solche zu Asylanträgen als category 1 (CAT1) Anfragen bezeichnet werden. Wird bei einer Anfrage für die entsprechende Person ein bereits vorliegender Asylantrag festgestellt, oder auch mehrere, so wird von CAT1 against CAT1 hit gesprochen. Aus den CAT1-Anfragen ergibt sich somit die Anzahl an Asylanträgen im Dublin-Raum und aus den CAT1 against CAT1 hits können Mehrfachanträge errechnet werden. So heißt es im Jahresbericht für 2013: From a total of 354.276 asylum applications recorded in Eurodac in 2013, 29,2% were recorded as multiple asylum applications (i.e. second or more applications). Thus in 103.274 cases, the fingerprints of the same person had already been recorded as a category 1 data in the same or another Member State. 34 So scheint die Anzahl an Asylbewerbern sich aus diesen Daten leicht berechnen zu lassen. Ziehen wir von den 354.276 festgestellten Asylanträgen die Mehrfachanträge (103.274) ab, so kommen wir auf insgesamt 251.002 individuelle Asylanträge die von Eurodac für 2013 erfasst wurden. Doch Eurodac nimmt keine Fingerabdrücke von Kindern unter 14 Jahren, die somit auch in den Eurodac-Zahlen nicht berücksichtigt sind. Unter-14-Jährige machen laut Eurostat jedoch mit 19,6 Prozent einen wesentlichen Anteil an Asylbewerbern in der EU aus. 35 Insgesamt zählte Eurostat für 2013 84.850 Erstanträge von unter 14-Jährigen. 36 Gehen wir davon aus, dass diese Eurostat- Angaben wie die Erstantragsgesamtzahlen für den Dublin-Raum um 16,1 Prozent zu hoch angegeben werden, so müssen wir 71.189 Kinder zu den Eurodac-Zahlen addieren. Damit kommen wir auf Grundlage von Eurodac auf insgesamt 322.191 Asylanträge. Dies ist zwar signifikant, nämlich über 20.000 höher als die unter 300.000, die wir auf Grundlage der Eurostat-Angaben geschätzt hatten. Doch im Vergleich zu den offiziellen Eurostat-Angaben ist auch nach dieser Berechnung die Anzahl von Asylbewerbern für 2013 um 13,7 Prozent im Vergleich zu den Erstantragszahlen und 31,1 Prozent geringer als die Gesamtantragszahlen. Es lässt sich also auch so zeigen, dass 2013 knapp ein Drittel weniger Asylbewerber nach Europa kamen, als offiziell berichtet wurde. Da der Bericht zu 2014 von Eurodac bereits vorliegt, während die Eurostat-Zahlen zu Dublin-Verfahren erst von wenigen Ländern für 2014 berichtet wurden, können wir auch bereits eine Aussage über die bereinigten Asylbewerberzahlen für das letzte Jahr machen. Von 505.221 registrierten Anträgen waren 121.358 mehrfache, was auf 383.863 Asylbewerber über 13 Jahre schlie- 32 Eurostat (o. Fn. 26), 4 und 1. 33 Eurostat (o. Fn. 26), 10. 34 EU-LISA (o. Fn. 29), 16. 35 Eurostat (o. Fn. 26), 6. 36 Eurostat, Asylum and first time asylum applicants by citizenship, age and sex Annual aggregate data (rounded), 2013, ASYL_APP: NASY_APP, AGE: Y_LT14, http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=migr_asyappctza&lang=en, ZAR 9/2015 297

ABHANDLUNGEN Kleist, Warum weit weniger Asylbewerber in Europa sind, als angenommen wird ßen lässt. 37 Ziehen wir die für 2013 berechneten 16,1 Prozent von den 124.900 von Eurostat 2014 erfassten Unter-14-Jährigen ab so kommen wir auf 104.916 Kinder, die zu den Eurodac-Zahlen addiert werden müssen. 38 Die so berechneten rund 489.000 Asylbewerber im Dublin-Raum 2014 sind deutlich weniger als die 626.065, die Eurostat für die EU berichtete, und 26,2 Prozent weniger als Eurostat für den Dublin-Raum angibt (14,3 Prozent weniger als offizielle Erstantragszahlen). So können wir auf Grundlage der Eurodac-Angaben davon ausgehen, dass die tatsächlichen Asylbewerberzahlen 2014 immerhin über ein Viertel geringer lagen als die Zahlen, die öffentlich diskutiert werden. 8. Zahlen und Verantwortungsteilung Wir haben gesehen, dass 2014 rund jeder vierte und 2013 sogar etwa jeder dritte statistische Asylbewerber in Europa gar nicht existierte. Die starke Abweichung der Zahlen ist bemerkenswert, zumal sie von anderen Institutionen, NGOs aber auch den Medien übernommen wird. Organisationen arbeiten also auf der Grundlage von inkorrekten Daten, und die Öffentlichkeit und Politik diskutieren Asylpolitik mit Bezug auf Zahlen, die viel zu hoch sind, aber auch die Verteilung von Asylbewerbern falsch darstellen. Dies wird insbesondere dann relevant, wenn sich politische Vorschläge auf diese Statistiken stützen, zum Beispiel in der Debatte um quotenbasierte Verteilungssysteme für Asylbewerber in Europa. 39 Denn die Asylbewerberzahlen sind nicht nur insgesamt geringer. Aufgrund der Doppelzählungen und Abschiebungen innerhalb des Dublin-Gebiets kommt es auch zu einer Verzerrung des Verhältnisses von Asylbewerbern zwischen den europäischen Ländern. Quotenmodelle, die eine modellhafte Verteilung mit der tatsächlichen Verteilung von Asylbewerbern in Europa vergleichen, ziehen also falsche Länderdaten heran. Die Asylbewerberzahlen für Europa sind eben deshalb zu hoch, da in den Ländern Asylanträge mitgezählt werden, deren Antragsteller gar nicht mehr im Land sind, da sie entweder weitermigriert sind oder aufgrund der Dublin-Verordnung in ein anderes Land zurückgeschoben wurden. Da die Rücknahmegesuche fast viermal höher liegen als die durchgeführten Rücknahmeabschiebungen, also die Verzerrung stärker durch die Weitermigration als durch Abschiebungen beeinflusst wird, heißt das, dass der Anteil an Asylbewerbern in den Hauptzielländern also sogar noch höher ist, als weithin angenommen wird. Sollte ein Verteilungsschlüssel zur Anwendung kommen, so wäre eine genaue und vergleichbare Kenntnis über die bestehende Anzahl insgesamt und in den einzelnen Ländern eine Voraussetzung, um bestimmen zu können, wie viele Asylbewerber ein Land zusätzlich aufzunehmen hätte, beziehungsweise wie viele über den Quotenanteil hinaus in dem Land tatsächlich ein Asylverfahren durchlaufen. Selbst im Sinne einer humanitären Flüchtlingspolitik in Europa, wie sie unter anderem von NGOs vertreten wird, bei der, auch in Hinblick auf eine bessere Integration, die Interessen und Bedürfnisse von Flüchtlingen über das Asylland entscheiden, wäre für einen finanziellen Ausgleich zwischen den Staaten eine genaue Erfassung der Asylbewerber und -verfahren zentral. 40 Die momentanen Eurostat-Zahlen lassen jedoch weder eine genaue Aussage darüber zu, wie viele Migranten im Laufe eines Jahres in Europa Asyl beantragen, noch darüber, wie viele Asylverfahren in den einzelnen Ländern durchgeführt werden. 9. Vorschläge zur Verbesserung der Datenerhebung Der Erfassung von Asylbewerberzahlen liegt eine Reihe von Problemen zugrunde. Variierende Definitionen, wer und was erfasst werden soll, sowie die Interpretation der Daten stellen die Aussagekraft von Statistiken in Frage. Das zentrale Problem auf europäischer Ebene besteht jedoch in der Aggregation der Zahlen. Neben der Frage, ob man sich auf die EU, Schengen oder den Dublin-Bereich bezieht und ob tatsächlich alle Länder die gleichen Daten berichten (und ob das transparent gemacht wird, wenn nicht), ergibt sich das zentrale Problem aus der Doppelung von Antragszahlen in der Addition nationaler Daten. Um Abweichungen von weit über 30 Prozent offizieller Angaben zu vermeiden, sind nicht nur Neuinterpretationen der Daten, sondern neue Erhebungsmethoden notwendig. Ungenauigkeiten in der Quantifizierung komplexer sozialer Verhältnisse sind in der methodischen Abstraktion nahezu unvermeidbar. So ist es bei den Eurostat-Daten mit der Zeit immer wieder zu Anpassungen und Verbesserungen gekommen. Angesichts der hier aufgezeigten Ungenauigkeiten muss eine Präzisierung insbesondere in Bezug auf die Transparenz, Interpretation und die Kalkulation der Asylstatistik stattfinden. Wenn Angaben und Daten von einigen Staaten fehlen oder unpräzise sind, muss dies auch bei den Endresultaten und in der öffentlichen Kommunikation kenntlich gemacht werden. Die Unterscheidung zwischen Erstund Folgeantrag muss beachtet, und insbesondere darf die Anzahl von Asylanträgen nicht als die Zahl der Asylbewerber ausgegeben werden. Schließlich und als wichtigster Punkt: Die Doppelzählung von Asylanträgen muss korrigiert werden. Da ein Herausrechnen der Doppelungen äußerst ungenau ist und nur ungefähre Angaben zulässt, sollten Staaten in Zukunft neben den Asylanträgen auch die tatsächlich durchgeführten Asylverfahren berichten, die ein genaueres Bild über die Anzahl an Asylbewerbern zulassen. Um die Probleme der Aggregation der Eurostat-Daten zu vermeiden, sollte alternativ eine zentrale europäische Erfassung von Asylzahlen erwogen werden. Mit Eurodac liegen bereits die technischen Möglichkeiten vor, um Asylbewerber europaweit zu registrieren und so sollte es auch als statistisches Instrument genutzt und dafür entsprechend modifiziert werden. Hierfür 37 EU-LISA, Annual report on the 2014 activities of the Central System of Eurodac pursuant to Article 24(1) of Regulation (EC) No 2725/2000, 15, http://www.eulisa.europa.eu/publications/reports/eurodac%20 2014%20Annual%20Report.pdf, 38 Eurostat (o. Fn. 36), 2014, ASYL_APP: NASY_APP, AGE: Y_LT14. 39 Z. B. European Parliament, What system of burden-sharing between Member States for the reception of asylum seekers?, 2010, http://www. europarl.europa.eu/regdata/etudes/etudes/join/2010/419620/ipol- LIBE_ET(2010)419620_EN.pdf, 11.7.2015; Angenendt/Engler/Schneider, Europäische Flüchtlingspolitik: Wege zu einer fairen Lastenteilung, SWP- Aktuell 2013/A 65, 2013, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/ products/aktuell/2013a65_adt_engler_schneider.pdf, 40 Deutscher Anwaltverein/Arbeiterwohlfahrt/Diakonie Deutschland/ PRO ASYL/Der Paritätische Wohlfahrtsverband/Neue Richtervereinigung/ Jesuiten-Flüchtlingsdienst, Memorandum: Flüchtlingsaufnahme in der Europäischen Union: Für ein gerechtes und solidarisches System der Verantwortlichkeit, 2013, http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_ redakteure/startseite/memorandum_dublin_deutsch.pdf, 298 ZAR 9/2015

Tometten, Resettlement-Flüchtlinge ABHANDLUNGEN müssten insbesondere einige Mängel in der Erfassung und Auswertung beseitigt werden und Eurodac letztlich anders in das gemeinsame europäische Flüchtlingssystem integriert werden. Zunächst gibt es noch technische Fehler bei der Übertragung von Daten im Eurodac-System. Wie sich das auf die Zahlen auswirkt ist schwer abzuschätzen. An einer Verbesserung der Datenübertragung wird jedoch gearbeitet. 41 Zudem wäre eine genauere Aufbereitung und Auswertung der Daten wünschenswert, die zuverlässigere Angaben über die Anzahl von Asylbewerbern in Europa zulassen würden. Die aus Schutzgründen berechtigte Nichterfassung von Unter-14-Jährigen bedeutet, dass es eine große Lücke in den Daten gibt. Unter Berücksichtigung von Daten- und Persönlichkeitsrechten sollten Angaben zu begleitenden Kindern anonymisiert in den Daten der Eltern oder der verantwortlichen Erwachsenen erfasst werden. Zudem müsste kenntlich gemacht werden, wo das Verfahren durchgeführt wird, was schließlich durch Verfahrensergebnisse ergänzt werden könnte. Die Datenauswertung sollte dann EASO übertragen werden, um damit Eurodac von einem Instrument des überholten Dublin-Systems und der Ermittlungs- und Verfolgungsbehörden in die technische Voraussetzung eines gemeinsamen europäischen Asyls zu überführen. Eine genaue statistische Erfassung von Asylbewerbern und Verfahren ist mithin nicht nur eine Voraussetzung für Verantwortungsteilung sondern auch für ein solidarisches europäisches Asylsystem. 41 Eurodac (o. Fn. 26), 18 f. Christoph Tometten, LL.M. (Köln/Paris 1), Berlin* Resettlement-Flüchtlinge: Die teilweise Gleichstellung nach der Reform des Aufenthaltsgesetzes und ihre Konformität mit dem internationalen Flüchtlingsrecht Am 1.8.2015 sind zahlreiche Neuerungen des Aufenthaltsgesetzes in Kraft getreten. 1 Unter anderem wurde in 23 IV AufenthG eine eigenständige Rechtsgrundlage für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an Flüchtlinge, die im Rahmen des Resettlement-Programms des Bundes aufgenommen worden sind, geschaffen. 2 Resettlement-Flüchtlinge werden Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen teilweise gleichgestellt. Dabei bleibt der Gesetzgeber auf halber Strecke stehen, obwohl die vollständige Gleichstellung völkerrechtlich geboten ist. 1. Gesetzliche Neuregelung als Stärkung des internationalen Flüchtlingsschutzes Mit der Neuregelung wird ausdrücklich anerkannt, dass Deutschland die Bemühungen des UNHCR für den internationalen Schutz von Flüchtlingen auch bei der Neuansiedlung in Drittstaaten unterstützt. Die Neuansiedlung ist ein für die die Gewährleistung eines effektiven Flüchtlingsschutzes auf internationaler Ebene unerlässliches Instrument, 3 da in vielen Erstaufnahmestaaten ein effektiver Schutz nicht gewährleistet wird weil bestimmte Schutzsuchende auch in den Erstaufnahmestaaten verfolgt werden oder weil bestimmte Erstaufnahmestaaten mit der Aufnahme einer großen Anzahl von Flüchtlingen generell überfordert sind. 4 Allerdings ist kein Staat völkerrechtlich verpflichtet, Flüchtlinge aus Drittstaaten aufzunehmen. 5 Weltweit ist daher die Anzahl derjenigen, die tatsächlich in einem anderen Staat neu angesiedelt werden, im Verhältnis zu der Anzahl derjenigen, deren Neuansiedlung nach Einschätzung des UNHCR erforderlich wäre, äußerst gering. 6 Es ist deshalb zu begrüßen, dass die Neuansiedlung nun ausdrücklich als fester Bestandteil der deutschen Flüchtlingspolitik verankert wird, wenn auch die Zahl der Aufgenommenen gering bleibt und das Gesetz den zuständigen Ministerien völlige Freiheit bei ihrer Festlegung lässt. 2. Teilweise Gleichstellung mit Asylberechtigten und Flüchtlingen i. S. d. 3 AsylVfG Die Schaffung einer eigenständigen Aufenthaltserlaubnis ist nicht bloß ein Symbol. Mit dem Gesetz werden Resettlement-Flüchtlinge anerkannten Flüchtlingen teilweise gleichgestellt, so etwa beim Familiennachzug (vgl. 29 II 1 und 2, 30 I 3 Nr. 1, 32 II 2 Nr. 1, 36 I AufenthG) und bei der * Der Verfasser ist Referent für Innen- und Migrationspolitik im Büro von Volker Beck MdB, Sprecher für Innen- und Religionspolitik der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. 1 Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27.7.2015 (BGBl. I 2015, 1386). 2 Bei der begünstigten Personengruppe handelt es sich wohlgemerkt nicht um die syrischen Flüchtlinge, die im Rahmen der Humanitären Aufnahmeprogramme des Bundes und der Länder aufgenommen worden sind und weiterhin eine Aufenthaltserlaubnis nach 23 I oder II AufenthG erhalten. 3 UNHCR Global Report 2013, S. 59 ff., www.unhcr.org/539809d8e.html (Stand 7.8.2015); Goodwin-Gill/McAdam, The Refugee in International Law, S. 489 ff. 4 Beispielhaft zur Situation von Menschen, die sowohl in ihrem Herkunftsstaat, als auch im Erstaufnahmestaat wegen ihrer sexuellen Orientierung bzw. Geschlechtsidentität verfolgt werden: human rights first (Hrsg.), The Road to Safety Strengthening Protection for LGBTI Refugees in Uganda and Kenya, 2012, www.humanrightsfirst.org/wp-content/uploads/pdf/rpp-the_road_to_safety.pdf (Stand 7.8.2015); Millo, Invisible in the City: Protection Gaps Facing Sexual Minority Refugees and Asylum Seekers in Urban Ecuador, Ghana, Israel, and Kenya, 2013, www.hias.org/sites/default/files/invisible-in-the-city_0.pdf (Stand 7.8.2015); Organization for Refuge, Asylum and Migration, Blind Alleys The Unseen Struggles of Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Intersex Urban Refugees in Mexico, Uganda and South Africa, 2013. Siehe auch: Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, Lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, intersexuelle Flüchtlinge und Resettlement, BT-Drs. 18/4094. 5 Goodwin-Gill/McAdam (o. Fn. 3), S. 489. 6 Einen Überblick über durchgeführte Neuansiedlungen und den voraussichtlichen Bedarf geben die Berichte des UNHCR, die auf folgender Website abrufbar sind: www.unhcr.org/pages/4a16b1676.html (Stand 7.8.2015). ZAR 9/2015 299