Schlank und effizient: Neue Pflegedokumentation mit Strukturierter Informationssammlung (SIS) von Thomas Güttner Der Abschlussbericht zur Praktischen Anwendung des Strukturmodells - Effizienzsteigerung der Pflegedokumentation in der ambulanten und stationären Langzeitpflege gibt entscheidende Empfehlungen zur Vereinfachung der Pflegedokumentation. Das breit angelegte Projekt stellt endlich den erhofften Lichtschein am Ende des Dokumentationswahnsinns dar, auf den die Praxis gewartet hat. Aktuell wird die weitere Umsetzung der Ergebnisse in die Praxis vorbereitet, u. a. mit einer Entscheidung der Spitzenverbände zur Angemessenheit einer Dokumentation nach den Vorschlägen der Projektgruppe. Beruhigendes zu Beginn Im Ergebnis kann festgestellt werden, dass im stationären Bereich [ ] grundsätzlich auf Einzelleistungsnachweise hinsichtlich der grundpflegerischen Leistungen verzichtet werden kann. Für den ambulanten Bereich kann dieses Vorgehen bezogen auf die Einzelleistungsnachweise nicht gelten, da diese gleichzeitig als Abrechnungsbelege dienen. Gleichwohl gilt dort, wie natürlich auch im stationären Bereich, dass eine knappe und aussagekräftige Pflegedokumentation ausreichend ist und Aufzeichnungen im Pflegebericht sich auf die Abwei QM-Praxis in der Pflege Juli / August 2014 7
chung von der grundpflegerischen Routineversorgung beschränken und/oder selbstverständlich auf eventuelle akute Ereignisse. Projektrahmen Im Rahmen des Projekts haben 26 stationäre Pflegeeinrichtungen und 31 ambulante Pflegedienste Modellbögen für eine einfachere Dokumentation im praktischen Alltag getestet. Das Konzept einer veränderten Dokumentationspraxis war zuvor von der Ombudsfrau für Entbürokratisierung in der Pflege, Frau Elisabeth Beikirch, zusammen mit Fachleuten aus Praxis und Wissenschaft sowie juristischer Expertise entwickelt worden. Weitere Umsetzungsschritte sind momentan mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflege, Staatssekretär Karl-Josef Laumann, und in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Gesundheit in Vorbereitung. Dabei wird die Umsetzung einer umfassenden Implementierungsstrategie auf Bundesund Landesebene vorbereitet. Ausgangslage für das beim BMG ressortierende Projekt zur Effizienzsteigerung war es, eine substanzielle Grundlage zur Pflegedokumention zu erarbeiten, die auch die Anforderungen von Heimaufsicht und MDK harmonisiert. Mit der Entwicklung eines neuen Strukturkonzeptes für die Pflegedokumentation für den ambulanten und den stationären Versorgungssektor sollten diese Ziele verfolgt werden: bisherige fachliche und juristische Aussagen zur Dokumentation zu hinterfragen, Kritikpunkte aus der Fachpraxis und von den Verbrauchern aufzugreifen, die Bedeutung von fachlicher Kompetenz und beruflicher Erfahrung der Pflegenden stärker herauszustellen, den zeitlichen Aufwand für die Pflegedokumentation möglichst zu minimieren und eine gemeinsame Grundlage für die interne und externe Qualitätssicherung zu schaffen. Struktureller Kernaspekt sind dabei vier Elemente zur Grundstruktur der Pflegedokumentation: Element 1: Die neu entwickelte Strukturierte Informationssammlung (SIS) basierend auf fünf wissenschaftsbasierten Themen und einem rationalen Verfahren zur Risikoeinschätzung (Matrix) pflegesensitiver Phänomene in der Pflege. Element 2: Auf Grundlage der SIS kann eine entsprechende individuelle Pflege- und Maßnahmenplanung ausgearbeitet werden. Element 3: Die Bearbeitung der Elemente eins und zwei schafft die Voraussetzung für eine veränderte Vorgehensweise mit dem Pflegebericht (Fokus auf Abweichungen) und Element 4: Festlegen entsprechender Evaluationsdaten Ein entscheidender pflegefachlicher Aspekt ist dabei die Abkehr vom in der Praxis üblichen ATL- bzw. AEDL-Modell. Damit korrespondierte die Idee, sich grundsätzlich von dem schematischen Ankreuzverfahren bei der Maßnahmenund Pflegeplanung zu lösen sowie pflege- und betreuungsrelevante biografische Daten integrativ und regelhaft, jedoch nicht auf einem extra Bogen zu erfassen. Die wissenschaftlich entwickelten Grundlagen wurden dann in einem Praxistest von September 2013 bis Februar 2014 überprüft. Im Praxistest sollte erprobt werden: inwieweit Pflegefachkräfte die SIS-Felder aktiv nutzen und deren Ergebnisse in die Maßnahmenplanung einfließen, wie die Umstellung von einem singulären Ankreuzverfahren auf eine themenfeldbezogene Erfassung gelingt, ob über die fünf bzw. sechs pflegerelevanten Kontextkategorien (u. a. Kognition / Kommunikation, Mobilität / Bewegung etc.) alle für die Pflege relevanten Informationen abgebildet werden können und ob sie verständlich und nachvollziehbar für die Pflegefachkräfte sind, ob der schriftliche (und zeitliche) Aufwand minimiert wird sowie Übersichtlichkeit erreicht werden kann, } 8 Juli / August 2014 QM-Praxis in der Pflege
inwieweit für die Pflegefachkraft und das interne Qualitätsmanagement dieses Vorgehen verständlich und praktisch umsetzbar ist und ob es dazu beiträgt, die Fachlichkeit stärker zu betonen. Die bisherige Praxis eines eher schematischen Umgangs mit Assessments und Skalen sollte zudem kritisch überprüft werden zugunsten individuell angepasster begründeter Entscheidungen und zeitlich befristeter Beobachtungen. Die teilnehmenden Einrichtungen und Dienste bildeten eine praxistypische Querschnittsgruppe ab: unterschiedliche Dokumentationssysteme und Formulare, teils handschriftlich, teils per EDV, sowie solitäre und auch zentrale QM-Systeme. Auch die Größen der Teilnehmergruppen variierten. Die neue Strukturierte Informationssammlung (SIS) Element 1: Zielsetzung der SIS Stellen Sie sich für Ihre Praxis einmal vor, dass Sie bereits beim Erstgespräch mit einem Formular ausgerüstet sind, welches alle relevanten Informationen sammelt. In diesem Formblatt können Sie direkt auch den individuellen Wünschen und Vorstellungen der Pflegebedürftigen zu einem selbstbestimmten Leben (auch bei gesundheitlichen Einschränkungen) sowie ihren Wahrnehmungen zur individuellen Situation und den persönlichen Vorstellungen von Hilfe und Pflege bewusst Raum geben. Eine interessante Vorstellung, oder? Dabei geht es im ersten Schritt um eine unkommentierte Wiedergabe, also objektivierte Informationssammlung, die in einem zweiten Schritt fachwissenschaftlich sortiert und bewertet wird. Um den zweiten Schritt vorzunehmen, haben sich die Experten des Modellprojektes auf die Themenfelder des Neuen- Begutachtungs-Assessments (NBA) verständigt. Eine richtungsweisende Entscheidung, denn den im NBA formulierten Themengebieten zur Begutachtung der Pflegebedürftigkeit liegt die wissenschaftliche Analyse von (inter-) national bekannten Instrumenten zur Erfassung von Pflege- und Hilfebedarf zugrunde. Auf Basis des NBA wurden für die neue Strukturierte Informationssammlung (SIS) 5 pflegerelevante Kontextkategorien gebildet: 1. Kognition und Kommunikation 2. Mobilität und Bewegung 3. Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen 4. Selbstversorgung 5. Leben in sozialen Beziehungen. Für den ambulanten Sektor wurde die Thematik Haushaltsführung als sechste pflegerelevante Kategorie hinzugenommen. Die Expertengruppe hat für die zukünftige Vorgehensweise bei der Pflegedokumentation eine wichtige Entscheidung getroffen, die sich in der Praxis schnell und fast intuitiv einführen lassen sollte. Eingangsfragen werden zunächst an die pflegebedürftige Person bzw. aus ihrer Sicht formuliert und sollen explizit in einer narrativen Erzählweise dokumentiert werden. Erst danach erfolgt der Eindruck der Pflegefachperson als fachlicher Filter. Im Forschungsprojekt und bei der Erprobung ist deutlich geworden, dass es eines Aushandlungsprozesses zwischen diesen beiden ersten Elementen bedarf. In diesem muss vor allem zwischen geäußerten individuellen Wünschen und Gewohnheiten und der täglichen Sicherung der Pflege und Betreuung eine Grundlage gefunden werden. Um dieses Vorgehen zu schematisieren, entsteht eine Matrix im SIS, die der Dokumentation der jeweiligen pflegesensitiven Risiken und Phänomene entspricht und sie mit der fachlichen Beurteilung in Beziehung setzt. QM-Praxis in der Pflege Juli / August 2014 9
Element 2: Individuelle Pflegeund Maßnahmenplanung Bei der SIS entspricht die individuelle Maßnahmenplanung der erweiterten Pflegeplanung im sechsphasigen Pflegeprozessmodell. Hier fließen die individuellen Wünsche mit der grundpflegerischen Versorgung und Betreuung sowie Maßnahmen zu Risiken und ggf. Behandlungspflegen zusammen. In der Praxisphase des Projektes wurde aufgrund der kurzen Laufzeit noch kein endgültiges Muster gefunden. Allerdings zeigte sich, dass im stationären Bereich eine Orientierung an einer 24-stündigen Tagesstrukturierung sinnvoll scheint, wohingegen sich ambulant eine Orientierung an den Leistungskomplexen zeigte. Element 3: Fokussierung auf Abweichungen im Pflegebericht Gerade hier entwickelt sich die Möglichkeit, Zeit und Ressourcen einzusparen. Die bisherige Praxis der oft sehr künstlichen und umfangreichen Dokumentation aller routinemäßig wiederkehrenden Handlungen wird ersetzt durch den oben skizzierten neuen Maßnahmenplan. Dadurch kann der Fokus im Pflegebericht tatsächlich auf Abweichungen gerichtet werden und zeigte auch im Modellprojekt den positiven Nebeneffekt, dass die Pflegefachkräfte in ihrer Wahrnehmung zu beginnenden Veränderungen geschärft werden. Element 4: Evaluation Zum Aspekt der Evaluation konnten im Forschungsprojekt keine wesentlichen Erkenntnisse gewonnen werden. Diese werden erst in weiteren Anwendungsforschungen erwartet. Bekannt ist aus der Praxis ja eine eher schematische Routine im Umgang mit Assessments, Skalen und Protokollen. Es ist zu erwarten, dass durch die Fokussierung auf Abweichungen in Verbindung mit der SIS hier positive Effekte zu erzielen sind. Die neuen Formblätter Informationssammlung Das bisher beschriebene Vorgehen findet sich in den grafischen Darstellungen, also verwendeten Formblättern, wieder, die in vier Abschnitte eingeteilt werden und eine schnelle Orientierung und Überblick zur individuellen Pflegesituation ermöglichen. Dabei gehen die Experten davon aus, dass sich natürlich bei der künftigen Anwendung noch weitere Optimierungen ergeben können. Die verwendeten Vorgaben unterscheiden sich leicht in der ambulanten und stationären Pflege, sind allerdings beide in die Abschnitte A, B, C1 und C2 aufgeteilt. Die Eingangsfrage an die pflegebedürftige Person (ambulant) lautet: Was ist das Hauptproblem der Pflegesituation? Was würden Sie sofort verändern, wenn Sie es könnten? Welche Informationen würden helfen? Im stationären Bereich variiert die Frage etwas: Was ist das Hauptproblem der Pflegesituation? Welchen Unterstützungsbedarf haben Sie aus Ihrer Sicht? Wie können wir Ihnen helfen? Die Fragestellung soll ein Gespräch initiieren und ist nicht als geschlossene abzuarbeitende Fragestellung (auch in Folge) misszuverstehen. Die Experten raten zu einem aktiven Zuhören und empfehlen die Dokumentation im Sinne der Wiedergabe des Erzählenden (ohne Kommentierung!). Nach der Perspektive der zu-pflegenden-person in Feld B wird die aktuelle Situation analog den pflegerelevanten Kontextkategorien des NBA skizziert (Feld C1), wobei die Haushaltsführung nur im ambulanten Bereich enthalten ist. Risikomatrix Das Feld C2 dient dann der ersten fachlichen Einschätzung der für die Pflege und Betreuung relevanten Risiken und Phänomene; dabei werden folgende Risikofelder vorgegeben: Dekubitus Sturz Inkontinenz Schmerz } 10 Juli / August 2014 QM-Praxis in der Pflege
Ernährung Sonstiges In den Feldern kann zunächst mit Ja-Nein-Kreuzen das jeweilige Risiko bewertet und ergänzend die Notwendigkeit einer weitere Einschätzung / Beobachtung notiert werden. Diese Einordnung muss dann auch mit einer entsprechenden zeitlichen Einordnung erfolgen. Diese entstehende Matrix zur abschließenden Risikoeinschätzung bewertet die pflegerelevanten Phänomene und stellt eine Verbindung zu den Kontextkategorien her. Es ist damit ein neues und überaus schlankes Instrument, welches die Risiken der Expertenstandards mit den Kontextkategorien des NBA in Bezug setzt. Hiermit liegt ein neues Initial-Assessment vor, welches als Risikomatrix vor allem auch die Fachkompetenz der Pflegefachkraft hervorhebt. Diese initiale Risikomatrix ist eine echte praktische Vereinfachung, in der deutlich die Fachkompetenz der Pflegefachkraft gefordert und berücksichtigt wird. Die Kategorie Sonstiges wurde eingeführt, weil die anderen genannten Risiken nicht abschließend sind. Ergebnisse und Ausblick Der Abschlussbericht zum Praxisbericht macht bereits deutlich, dass es eine neue und effektivere Form der Pflegedokumentation geben wird. Auch wenn, bedingt durch die kurze Laufzeit, zunächst erst die SIS entwickelt wurde und Muster für eine tagesstrukturierende und individuelle Maßnahmenplanung fehlen, wird sich das Verfahren schnell in die Praxis etablieren lassen. Sowohl DBfK, der Deutsche Pflegerat, der MDS und die Bundesarbeitsgemeinschaften der freien Wohlfahrtspflege wie auch der privaten Anbieter sowie auch die direkt Projektbeteiligten bestätigen eine Aufbruchstimmung aller beteiligten Akteure, die für die Entbürokratisierung der Pflege sehr positiv stimmt. Der Praxistest sollte Erkenntnisse bringen zur Praktikabilität und Nachvollziehbarkeit, zur Umsetzung der Grundstruktur sowie zur Einordnung der rechtlichen Belastbarkeit und zur Zeitersparnis. Eine haftungsrechtliche und sozialrechtliche Einordnung und Bewertung dieser Dokumentationspraxis sollte damit vorgelegt, und das Vorgehen bestätigt werden, wobei die organisatorischen Strukturen durch ein entsprechendes internes Qualitätsmanagement sichergestellt sind und eine individuell strukturierte Informationssammlung und Pflegeund Maßnahmenplanung vorliegt. Die Person-Zentrierung mit narrativen Elementen in der SIS stellt einen Paradigmenwechsel für die Pflegepraxis dar und es stellt sich die Frage, ob die Pflege diese Herausforderung meistern wird. Die Experten kommen im Abschlussbericht zu dem Fazit, dass insgesamt festgestellt werden kann, dass die erprobte Grundstruktur eine sehr gute Grundlage zur Ausrichtung einer standardisierten Pflegedokumentation bietet und trotzdem vielfältige Varianten zulässt. Konzept und Verfahren bestätigen im Rahmen des Praxistests, dass die Pflegedokumentation in Art und Umfang zur heute weit verbreiteten Praxis erheblich reduziert werden kann, ohne fachliche Standards zu vernachlässigen oder dass die Sicherstellung der Kommunikation zwischen allen Beteiligten zur Situation der Pflegebedürftigen nicht mehr gewährleistet ist. Da vor allem auch die Kostenträger und der MDK in das Projekt eingebunden waren, ist zu erwarten, dass die Konzeption auch den Weg in die Praxis findet und nicht durch die MDK-Prüfung zerrissen wird. Thomas Güttner Pflegefachkraft mit langjähriger Leitungserfahrung in der stationären Altenpflege, Qualitätsmanager (CQa/DGQ), EFQM-Assessor (gem. EOQ), seit 2010 hauptamtlicher Vorstand des Caritasverbandes Duisburg e. V., Fachwirt im Sozial- und Gesundheitswesen, Akademiestudium in den Bereichen Arbeits- und Organisationspsychologie. HEIMBAS Softwarelösungen für das Sozialwesen www.heimbas.de post@heimbas.de Tel. 0201-59 22 90 Pflegedokumentation im WEB. Das Wesentliche im Fokus. QM-Praxis in der Pflege Juli / August 2014 11