ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 DIE BUCHKRITIK Annette Pehnt: Das "Lexikon der Angst" Piper Verlag 175 Seiten 19,99.- Euro Rezension von Ursula März Montag, 20. Januar 2014 (14:55 15.00 Uhr)
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR SWR 2 Die Buchkritik können Sie auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/die buchkritik.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
Von Ursula März Lauter kleine Seltsamkeiten: Eine Frau besichtigt im Geschäft die hochklassige Kaffeemaschine, die ihr Mann sich so sehr wünscht und merkt, wie unangenehm ihr die Anwesenheit der Kaffeemaschine samt beständigem Kaffegeruch in der Wohnung wäre. Ein Mann richtet sein Leben danach aus, niemals im Schatten zu stehen oder durch Schattenflächen zu laufen. Eine Angestellte strebt danach, so unsichtbar zu sein, dass niemand sich je an sie erinnert. Eine Kaninchenbesitzerin erdrückt ihr geliebtes Kaninchen, um es vor den tausend Gefahren in Schutz zu nehmen, die einem Kaninchenleben drohen. Ein Schluck Milch entwickelt sich in der Phantasie der Milchtrinkerin zum Milchtsunami, der sie von Kopf bis Fuß zu überfluten droht. Lauter kleine Geschichten aus dem großen Gebiet der Ängste, Zwänge und Idiosynkrasien, die Annette Pehnt hier versammelt und auf witzige Weise in die Ordnung des Alphabets bringt: Von A wie Aal bis Z wie Zirpen. Unter T wie Tarnung findet sich die unsichtbare Angestellte, unter F wie Freigang die daueralarmierte Kaninchenbesitzerin, unter M wie Morgenlicht der Schattenvermeider. Und mittendrin, wie
eingeschmuggelt ins Kuriositätenkabinett der Neurosen und Marotten, taucht bei K wie Kooperation eine der frühesten und schlimmsten unserer Ängste auf: Die des Kindes vor dem Tod. Nacht für Nacht liegt es im Dunklen, erwartet den Eintritt des Sensenmanns, den es sich als schmale Gestalt ganz konkret ausmalt. Statt Schutz bietet die Mutter einen Termin beim Schulpsychologen an, bei dem das Kind aber nicht kooperiert wie es soll, weil sich unter den Holzfigürchen, die der Psychologe auf den Tisch stellt, keines findet, das dem Tod gliche. Annette Pehnt, die sich mit einer Reihe von Romanen wie Mobbing und zuletzt Chronik der Nähe aus dem Jahr 2012, als luzide Beobachterin der deutschen Gegenwartsgesellschaft und empfindliche Phänomenologin des alltagsnahen Geschehens erwies - darin dem Schriftsteller Wilhelm Genazino von fern verwandt - begibt sich in ihrem neuen Buch auf die Spuren jener schönen, im frühen 19. Jahrhundert kultivierten, minimalistischen Prosaformen, die vom Romanehrgeiz der derzeitigen Belletristik fast verdrängt wurden: Die Kurznovelle und die Kalendergeschichte. Der Gefahr, die diese Formen mit sich bringen können, die Ausdünnung im allzu putzig Skurrilen, erliegt Annette Pehnt nur an wenigen Stellen.
Keiner der Texte, die sie in diesem Lexikon der Angst zu einem losen Reigen fügt, ist länger als zwei, drei Seiten. Gerade darin aber, im Reduzierten und Beiläufigen liegt die Pointe des Buches. Es unterläuft den wuchtigen Begriff von der Angstepoche, in der wir angeblich leben, es lässt die aktuellen und globalen Riesenängste konsequent aus. Und es überbietet den Begriff zugleich. Es zeigt, wie Ängste in die unauffälligsten Nischen des Alltagslebens einwandern, wie sie zu selbstverständlichen Begleitern werden. Annette Pehnt unterscheidet dabei nicht zwischen vermeintlich irrationaler und rationaler Angst. Der Mann, der sich höchst konkret ausmalt, was bei einer Fahrt auf der Autobahn alles passieren kann und der deshalb, obwohl ihn die Kollegin reizt, ihre Einladung ausschlägt und lieber mit dem Zug fährt, scheint ein weltfremder Sonderling zu sein. Genau betrachtet ist er vernunftbegabter Realist. Die Unfallstatistik belegt, dass eine
Karambolage bei 180 Stundenkilometern kaum zu überleben ist. Im ICE sitzt es sich sicherer.