Sozialpolitik I (Soziale Sicherung) Wintersemester 2005/06 5. Vorlesung: Alterssicherung (Rentenreform) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Strengmann@wiwi.uni-frankfurt.de www.wiwi.uni-frankfurt.de/~strengma
Gliederung 4.4 Reformbedarf 4.4.1 Demographische Entwicklung 4.4.2 Arbeitsmarkt 4.4.3 Rentenhöhe/ Armut 4.4.4 eigenständige Sicherung von Frauen 4.4.5 Vereinheitlichung der Systeme 4.5 Reformvorschläge 4.5.1 Umstellung auf Kapitaldeckung 4.5.2 weitere Vorschläge zum Problemkreis demographische Entwicklung 4.5.3 verbesserte Grundsicherung 4.5.4 Rentensplitting 4.5.5 Bürgerversicherung Literatur: Bäcker et al. (2000): Kap. VIII 8.-10. Strengmann-Kuhn (2005): Bürgerversicherung. Die Zukunft im Sozialstaat. Wiesbaden: VS-Verlag.
double aging: Reformbedarf Demographische Entwicklung Erhöhung der Lebenserwartung Verringerung der Geburtenrate Verhältnis von Alten zu Personen im erwerbsfähigen Alter (Altersquotient) steigt
Reformbedarf Demographische Entwicklung double aging: 1. Erhöhung der Lebenserwartung
Reformbedarf Demographische Entwicklung double aging: 1. Erhöhung der Lebenserwartung
Reformbedarf Demographische Entwicklung 2. Verringerung der Geburtenrate
Reformbedarf Demographische Entwicklung
Reformbedarf Demographische Entwicklung
Reformbedarf Demographische Entwicklung Altersquotient und Alten/Beschäftigtenquotient 1995 2010 2020 2030 2040 Oberes Szenario Unteres Szenario Oberes Szenario Unteres Szenario Oberes Szenario Unteres Szenario Altersquotient 24,7 24,7 40,8 40,8 Beschäftigungsquote 60,6 60,6 32,5 32,5 Alten-/ Beschäftigtenquotient 52,0 55,9 62,5 58,1 Altersquotient = 65-Jährige und älter/ 20-64-jährige Bevölkerung 36,2 36,2 56,3 62,7 64,3 57,8 Alten-/ Beschäftigtenquotient = 65-Jährige und älter/ abhängig Beschäftigte Beschäftigungsquote = abhängig Beschäftigte/ 20-64-jährige Bevölkerung Quelle: Prognos-Gutachten 1998: DRV-Schriften Band 9, Sonderausgabe der Deutschen Renten-versicherung, S. 75 47,7 47,7 70,0 78,4 68,1 60,9 53,9 53,9 77,2 88,2 69,8 61,1
Reformbedarf Demographische Entwicklung prognostizierte Höhe des Beitragssatzes 1995 1998 2005 2010 2020 2030 2040 Oberes Szenario 18,6 20,3 21,2 21,4 22,9 25,9 26,7 Unteres Szenario 18,6 20,3 21,2 21,6 23,5 26,6 27,4 Quelle: Prognos-Gutachten 1998: DRV-Schriften Band 9, Sonderausgabe der Deutschen Rentenversicherung, S. 73f. Prognose des Rentenbeitragssatzes vor der Rentenreform 1992: auf über 30% nach der Rentenreform 1992: 26-28% nach der Rentenreform 2001: max. 22%
entlastend: Reformbedarf Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt 1. höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen 2. Verringerung der Arbeitslosigkeit belastend: 1. Erosion des Normalarbeitsverhätnisses Normalarbeitsverhältnis: dauerhafte, sozialversicherungspflichtige Vollzeiterwerbstätigkeit Erosion ist übertrieben, aber Anteil sinkt Anteil Geringfügiger Beschäftigungen, Selbstständigkeit und befristeter Arbeitsverträge steigt
Reformbedarf Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt 2. vermutete Zunahme von Erwerbsunterbrechungen Arbeitslosigkeit Kindererziehung Weiterbildungsphasen Wechsel zwischen versicherungspflichtigen und nichtversicherungspflichtigen Tätigkeiten Zunahme sogenannter Patch-Work -Biographien statt kontinuierlicher Versicherungsverläufe
Reformbedarf durchschnittliche Höhe der Rente nach Rentenart
alte Bundesländer: Reformbedarf Höhe der Rente
neue Bundesländer: Reformbedarf Höhe der Rente
neue Bundesländer: Reformbedarf Höhe der Rente
Reformbedarf Einkommen im Alter Rentenhöhe alleine sagt noch nicht viel über die Einkommenshöhe aus, da zusätzliche Einkommen bezogen werden können: - Nebenerwerbseinkommen - private Transfers - staatliche Transfers (Wohngeld, Sozialhilfe) - Einkommen aus Vermögen: Vermietung, Verpachtung, Lebensversicherung, Zinsen und Dividenden - Kumulation mit Einnahmen aus anderen Alterssicherungsystemen: - Hinterbliebenenversorgung - betriebliche Alterssicherung - Kriegsopferfürsorge - Beamtenversorgung - Mietwert eigenen Wohnraums durchschnittliches Einkommensniveau im Alter ist relativ gut
Reformbedarf Armut und Sozialhilfebezug im Alter Die Einkommensverteilung im Alter spiegelt die Einkommensverteilung im Erwerbsleben wider. Aufgrund dessen gibt es auch im Alter große Einkommensunterschiede. Die Sozialhilfequoten von Personen über 60 sind von 4,3% 1977 auf 1,3% 2003 gesunken Sozialhilfequoten sagen aber alleine noch nichts über Armut aus Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen (Dunkelziffer) im Alter besonders hoch
Reformbedarf Armut und Sozialhilfebezug im Alter - Entwicklung der Armutsquoten 1973-1998 1973 1978 1983 1988 1993 1998 über 65 13,3% 10,7% 11,9% 9,2% 8,5% 10,9% Alle 6,5% 6,5% 7,7% 8,8% 10,1% 10,9% Materialband zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, S. 49. Quelle: Hauser, R./ Becker, I.: Einkommensverteilung im Querschnitt und im Zeitverlauf 1973 bis 1998 Datengrundlage: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS)
Reformbedarf eigenständige Alterssicherung Grundlagen der GRV in Deutschland: Modell des männlichen Alleinverdieners dauerhafte Ehe Reformbedarf durch: - Verändertes Erwerbsverhalten von Frauen - Verändertes Familienmodell - höhere Scheidungsraten - nicht eheliche Lebensgemeinschaften - steigende Anzahl von Alleinstehenden - Wunsch nach stärkerer Individualität und wirtschaftlicher Unabhängigkeit, auch innerhalb von Familien
Reformbedarf Vereinheitlichung der Systeme 1) Abhängig Beschäftigte GRV 2) Beamte Beamtenversorgung Versorgungsprinzip finanziert durch Steuern abhängig vom letzten Einkommen und von der Länge der Beschäftigung volle Höhe ab 40 Jahren, maximal 75% des letzten Einkommens 3) Selbstständige teilweise GRV (Landwirte, Handwerker, Künstler, arbeitnehmerähnliche Berufe u.a.) teilweise berufsständige Sicherung (z.b. Ärzte, Apotheker, Architekten) sonst private Absicherung oder freiwillige Versicherung in der GRV
pro: Reformvorschläge Umstellung auf Kapitaldeckung (möglicherweise) höhere individuelle Rendite des Kapitaldeckungsverfahrens höheres Wachstum durch Erhöhung des Kapitalstocks aufgrund gestiegener gesamtwirtschaftlicher Ersparnis
contra: Reformvorschläge Umstellung auf Kapitaldeckung höhere Unsicherheit beim Kapitaldeckungsverfahren höhere Rendite nicht gesichert: - Rendite des UV Entwicklung der Lohnsummenwachstumsrate: Entwicklung der Löhne sowie des Anteils der Beschäftigten unklar - Rendite des KV Zinssatz: ebenfalls unklar - Erhöhung des Kapitalstocks führt zu einer Verringerung des Zinssatzes - Zinssatz ist nicht unabhängig von der demographischen Entwicklung
contra: Reformvorschläge Umstellung auf Kapitaldeckung Wer verwaltet den Kapitalstock? Steigende Macht der Banken und Lebensversicherungen (bei privater Kapitaldeckung) oder der Rentenversicherungsträger (bei staatlicher Kapitaldeckung) Problem des Übergangs vom UV zum KV nicht lösbar Doppelbelastung der jungen Generation oder Belastung der älteren Generation
Reformvorschläge weitere Vorschläge zu dem Problemkreis demographische Entwicklung Veränderung der Rentenanpassung/ des Rentenniveaus Umstellung von benefit defined auf contribution defined Beschränkung auf staatliche Grundsicherung Verbesserungen des Alten-/ Beschäftigtenquotienten: Erhöhung der Altersgrenze Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen Erhöhung der Anzahl der Erwerbstätigen durch Einwanderungspolitik Maßnahmen zur Erhöhung der Geburtenquote Verbreiterung der Finanzierungsbasis: stärkere Steuerfinanzierung, dadurch vor allem auch Mitheranziehung von Besserverdienenden Einbeziehung von Kapitaleinkommen, dadurch Entlastung von Arbeitskosten
Reformvorschläge verbesserte Grundsicherung Ziel: eigenständige Grundsicherung im Rentensystem Grund-, Mindest- oder Garantierente ohne Zusatzabsicherung (Einheitsrente): steuerfinanziert beitragsfinanziert Kopfbeiträge Übergangsproblematik wg. aufzubauender privater Kapitalgedeckter Altersicherung (s.o.) keine Lebensstandardsicherung mehr keine Umverteilung innerhalb des Rentensystems in der Realität: nur Grundrentenmodelle mit staatlicher oder obligatorischer betrieblicher Zusatzabsicherung
Reformvorschläge verbesserte Grundsicherung Modelle mit Zusatzabsicherung: - steuerfinanzierte Grundrente plus beitragsfinanzierte Zusatzrente - steuerfinanzierte Garantierente ( Schwedisches Modell ) - Schweizer Modell (beitragsfinanzierte Mindestrente) - voll eigenständige Sicherung
Reformvorschläge steuerfinanzierte Grundrente Leistungen beitragsfinanzierte Zusatzrente Steuerfinanzierte Grundrente Beiträge
Reformvorschläge steuerfinanzierte Grundrente Übergansproblematik: - jetzige Renten sind verfassungsrechtlich geschützt, d.h. bei Einführung einer Grundrente würden die jetzigen Rentnerinnen und Rentner eine zusätzliche Leistung beziehen Gerechtigkeitsproblem (Generationengerechtigkeit), Finanzierungsproblem Einführung einer Grundrente könnte nur schrittweise bei gleichzeitiger Verringerung der jetzigen Alterssicherung erfolgen prinzipiell möglich, aber komplexes Problem und lange Übergangszeiten
Reformvorschläge Garantierente Aufstockung niedriger Renten Ziel: Garantie einer Mindestrentenhöhe Beispiel Schweden: Ersetzung der Volksrente durch eine Garantierente steuerfinanziert eigene Renten werden teilweise auf die Garantierente angerechnet prinzipiell auch denkbar als Umverteilung innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung, dann wäre die Garantierente beitragsfinanziert
Reformvorschläge Garantierente ( Schwedisches Modell ) Leistungen steuerfinanzierte Garantierente beitragsfinanziert Beiträge
Reformvorschläge Schweizer Modell Versicherungspflicht für alle Erwachsenen einheitlicher Beitragssatz Mindestbeitrag für Personen ohne eigenes Einkommen es existiert eine Mindestrente und eine doppelt so hohe Höchstrente dazwischen steigt die Rente mit zunehmenden Beiträgen an für hohe und niedrige Einkommen kein Äquivalenzprinzip!
Reformvorschläge Schweizer Modell Leistungen beitragsfinanzierte Rente ("Schweizer Modell") Beiträge
Reformvorschläge Voll eigenständige Sicherung Ziel: Erreichung mindestens eines Grundsicherungsniveaus für jede Person im Alter (oder auch bei Arbeitslosigkeit) durch vorherige Beitragszahlung Mindestbeitragspflicht für alle Personen über 18 Beitrag ist so konstruiert, dass eine Zahlung mindestens in Höhe des Grundsicherungsniveaus daraus resultiert Abschaffung der Witwen- und Witwerrente
Reformvorschläge Voll eigenständige Sicherung für Nichterwerbstätige wird der Mindestbeitrag von der Person oder der Institution gezahlt, die auch sonst für den Lebensunterhalt aufkommt (Ausnahme im Fall von Kindererziehung bis zu einem bestimmten Alter der Kinder), z.b.: Arbeitslose Arbeitsamt Studierende BAföG oder Eltern Nicht erziehende Hausfrauen Ehemann, dadurch: Anreiz zu höherer Erwerbstätigkeit von Frauen Im Fall von Kindererziehung wird der Mindestbeitrag vom Staat bezahlt, und zwar auch im Falle von Erwerbstätigkeit, dann gibt es also einen zusätzlichen Beitrag Anreiz zur Erwerbstätigkeit
Reformvorschläge Voll eigenständige Sicherung Vorteile: Vermeidung von Armut im Alter, und zwar auch für Selbständige, Personen mit kurzen Erwerbstätigkeitsphasen systemkonforme Reform Beibehaltung des Äquivalenzprinzips verbesserte eigenständige Absicherung von Frauen Anreize zur Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen Probleme: lange Übergangszeiten bis die eigenständige Sicherung wirkt Was ist mit Geringverdienern, Teilzeiterwerbstätigen?
Ziel: Reformvorschläge Rentensplitting Aufbau von eigenständigen Renten von Frauen mit der Folge, dass die Hinterbliebenenrenten langfristig wegfällt Idee: In einer Ehe erworbene Rentenanwartschaften werden geteilt gleicher abgeleiteter Rentenanspruch für Männer und Frauen hinzu kommen die außerhalb der Ehe erworbenen Rentenansprüche Die in einer Ehe erworbenen Rentenanwartschaften bleiben auch nach einer Scheidung erhalten.
Reformvorschläge Bürgerversicherung Beitragspflicht für Alle (wie bei Voll eigenständiger Sicherung oder Schweizer Modell) Ausdehnung der Beitragsbemessung auf alle Einkommen Effekte auf Beitragssatz und Rentenniveau kurzfristig: Einnahmen steigen, Ausgaben bleiben konstant Senkung der Beiträge oder Erhöhung des Rentenniveaus möglich Anlage eines Kapitalstocks denkbar langfristig: Ausgaben steigen auch kein nachhaltiger Effekt auf die Beiträge/ das Rentenniveau Letzteres gilt aber nur bei Beibehaltung des Äquivalenzprinzips. Bei Einführung einer Höchstrente wie im Schweizer Modell oder Abschwächung des Äquivalenzprinzips für hohe Renten gibt es auch langfristig entlastende Effekte
Reformvorschläge Bürgerversicherung weitere Argumente für eine Bürgerversicherung: horizontale Gerechtigkeit bessere Absicherung von Selbstständigen bessere Absicherung bei unterbrochenen Erwerbskarrieren teilweise Entkopplung der Kosten der Rentenversicherung vom Faktor Arbeit Geringere Abhängigkeit von konjunkturellen Schwanken und von der demographischen Entwicklung