Vortrag von Volker Rühe über die neuen Aufgaben der NATO (Washington, 30. April 1996)

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Transkript:

Vortrag von Volker Rühe über die neuen Aufgaben der NATO (Washington, 30. April 1996) Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. 02.05.1996, Nr. 34. Bonn: Deutscher Bundesverlag. Urheberrecht: (c) Presse- und Informationsamt der Bundesregierung URL: http://www.cvce.eu/obj/vortrag_von_volker_ruhe_uber_die_neuen_aufgaben_der_nato_washington_30_april_1996-de- 75083369-972f-44d1-ad67-841905c6eee2.html Publication date: 04/09/2012 1 / 7 04/09/2012

Vortrag von Bundesminister Rühe in Washington über die neue NATO (Washington, 30. April 1996) Ich freue mich sehr, heute zu Ihnen über die Zukunft des Atlantischen Bündnisses zu sprechen. Die Johns Hopkins School for Advanced International Studies ist ein Institut von hohen Graden. Wenn ich seine Ursprünge und seine Geschichte betrachte, gibt es vieles, was mich beeindruckt, so die Reihe der hier lehrenden Dozenten, aber auch alte Freunde wie Paul Nitze, einer der Gründer des Instituts, Ihr Dekan, Paul Wolfowitz, und natürlich Professor Zbig Brzezinski. Je weiter die stürmischen Tage zurückliegen, als die Berliner Mauer fiel, desto mehr wird uns bewußt, daß wir wirklich in einer neuen Ära leben. Die Nordatlantische Allianz hat in den vergangenen fünf Jahren Großes geleistet. Sie hat Frieden und Sicherheit für Europa neu definiert, und sie hat neue strategische Aufgaben übernommen. Das Bündnis hat sich als anpassungs- und reformfähig erwiesen, voller Vitalität und Flexibilität. Es ist ein Magnet für unsere Nachbarn im Osten, die an alledem teilhaben wollen. Der Geist der NATO entspricht der neuen Ära. Aber ihre Struktur ist immer noch mehr auf die überholten Erfordernisse des Kalten Krieges ausgerichtet als auf die vor uns liegenden Herausforderungen und neuen Aufgaben, nämlich - vielfältige und komplexe Sicherheitsrisiken, Krisen und Konflikte unterhalb der Schwelle kollektiver Verteidigung primär an der Peripherie, sicherlich nicht im Zentrum Europas; - die Integration neuer Mitglieder, bei der wir deren Erwartungen und Bedürfnisse ins richtige Verhältnis zur Kooperation mit anderen Ländern, insbesondere mit Rußland, bringen müssen. Die grundlegenden Veränderungen der Sicherheitslandschaft erfordern, die politischen und militärischen Strukturen der Nordatlantischen Allianz zu reformieren. Wir brauchen eine gemeinsame Vorstellung über den neuen strategischen Gehalt und die neuen Aufgaben der Allianz als Grundlage für einen zielgerichteten Anpassungsprozeß. Kurz, wir brauchen eine neue Vision, von der wir uns leiten lassen. I. Wir sollten definieren, was wir gemeinsam erreichen wollen. Amerikaner benutzen dazu gern den Begriff "vision thing" - Zukunftsprojekt. Meine Vorstellung vom transatlantischen Zukunftsprojekt ist ein freies und geeintes Europa in einem dauerhaften Bündnis mit den Vereinigten Staaten, eine Partnerschaft von gleich zu gleich, die der Sicherheit in Europa, aber auch gemeinsamen Interessen über Europa hinaus dient. Die Philosophie, die diesem Projekt zugrunde liegt, ist so wichtig wie das Projekt selbst. Die Zeit der `Balance of Power in Europa ist vorbei. Der Feind von gestern ist verschwunden. An seiner Stelle steht heute eine Fülle neuer Risiken. Der Feind von heute heißt Instabilität und unsere Antwort kann nicht in der Balance militärischer Potentiale liegen, sondern muß auf politische Integration ausgerichtet sein. Stabilität erfordert eine gesunde Gesellschaft, in der die Menschenrechte respektiert werden, demokratische Strukturen funktionieren und freie Marktwirtschaft gedeiht. Die Lage auf dem Balkan, im Kaukasus, im Nahen Osten oder in Nordafrika zeigt: Die Geschichte ist eben nicht zu Ende. Tief wurzelnde ethnische, religiöse und nationalistische Kräfte können in zerstörerische Konflikte münden. Tritt die Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen hinzu, können solche Entwicklungen uns alle bedrohen. Die Allianz braucht dagegen eine umfassende politische Strategie; darin haben militärische Fähigkeiten ihre spezifische Bedeutung zur Förderung von Stabilität wie zur Eindämmung von Instabilität. Dies gilt nicht nur für Mittel- und Osteuropa, sondern auch für den Mittelmeerraum. Stabilität im Süden ist ebenso eine wichtige europäische Aufgabe wie Stabilität in Mitteleuropa. Wir können nur dann auf die Unterstützung aller NATO-Partner für die Integration der mitteleuropäischen Staaten in die westlichen Strukturen bauen, wenn wir unsere südeuropäischen Verbündeten überzeugen, daß ihre strategischen Interessen gleichermaßen Berücksichtigung finden. Der Antiterrorismus-Gipfel in Sharm El-Sheikh im 2 / 7 04/09/2012

letzten Monat hat eindrucksvoll unter Beweis gestellt, daß Stabilität im Nahen Osten nicht nur für die Staaten in der Region selbst lebenswichtig ist. Sie hat auch eine strategische Dimension für uns alle. Dieser politische Ansatz enthält eine ganz andere strategische Sichtweise und Logik als die, von der sich die Allianz während des Kalten Krieges leiten ließ. Unsere Philosophie gründet auf der Prämisse, daß die Vereinigten Staaten und Europa vitale gemeinsame Interessen haben, die eine neue transatlantische Bindung erfordern und möglich machen. Zbig Brzezinski und andere haben die Essenz dieser Philosophie in das Konzept der "doppelten Erweiterung" gefaßt: Die Allianz muß sich zum einen den neuen Demokratien im Osten öffnen. Sie muß aber auch ihre funktionale Zielbestimmung und ihr Auftragsspektrum erweitern. Und beides muß gleichzeitig geschehen. Mein Freund Jim Thomson von der RAND-Corporation hat einmal folgende Frage gestellt: Wenn es die NATO nicht gäbe, würden wir sie dann neu erfinden? Meine Antwort lautet: Natürlich! Alles andere wäre unvernünftig. Es wäre töricht, auf den Nutzen, auf die Chancen und auf die Vorteile zu verzichten, da wir ja schon ein funktionstüchtiges, bewährtes und tragfähiges Bündnis mit enormen Möglichkeiten haben. Wir brauchen nicht von vorn zu beginnen. Vielmehr können wir vom Bewährten ausgehen und es weiterentwickeln, modernisieren und umgestalten, um den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Vier Aufgaben liegen vor uns, wenn es um die Neue NATO geht: - Wir müssen das freie und geeinte Europa schaffen durch Öffnung der NATO und der Europäischen Union nach Osten und dabei gleichzeitig eine neue kooperative Partnerschaft mit Rußland entwickeln. - Wir müssen die Strukturreform des Bündnisses vorantreiben, die mit der strategischen Öffnung nach Osten und Süden einhergeht. - Wir müssen Europa zu einer wirklichen Politischen Union entwickeln, die diesen Namen auch verdient, eine Union, die ein glaubwürdiger und kompetenter Partner der Vereinigten Staaten sein kann in politischer, ökonomischer und strategischer Hinsicht. - Schließlich müssen wir Europas Handlungsfähigkeit verbessern und diese Fähigkeit konkret und sichtbar machen. Je besser uns dies gelingt, desto glaubwürdiger sind wir als Partner und desto eher werden wir das amerikanische Engagement in und für Europa erhalten. Jede dieser Aufgaben ist schon für sich genommen schwierig genug. Alle vier gleichzeitig und im Kontext anzugehen, das ist keine einfache Aufgabe für die Sicherheitspolitik. II. Viele von Ihnen wissen, daß ich ein entschiedener Befürworter der NATO-Erweiterung bin oder, wie ich es lieber bezeichne, der Öffnung des Bündnisses nach Osten. Wenn sich die Historiker mit den Ursprüngen der Erweiterungsdebatte befassen, wird sich erweisen: Fast allen frühen Befürwortern ging es vor allem darum, die jungen Demokratien Zentraleuropas durch Integration zu stabilisieren und ihnen auf ihrem Weg in ein geeintes und freies Europa zu helfen. Unser Ziel ist es, nach Osten die Werte und Institutionen zu bringen, die uns in Westeuropa befähigt haben, das eigene Erbe von Konflikten und Teilung zu überwinden. Dieser Ansatz ist nicht gegen irgend jemand gerichtet. Er stellt auch keine Expansionsstrategie dar. Die Allianz reagiert vielmehr auf das legitime Recht aller europäischen Länder, die Sicherheitsstrukturen, die ihren Bedürfnissen entsprechen, selbst zu wählen. Das Bündnis wird dem berechtigten Verlangen der Völker gerecht, die lange unterdrückt waren und denen die natürlichen Rechte von Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft jahrzehntelang verwehrt wurden. Die Schlüsselfrage ist doch: Bleibt der Westen eine geschlossene Gesellschaft oder sind wir offen für die Länder, die in der Vergangenheit künstlich ausgeschlossen wurden? Die NATO heute geschlossen zu halten, wäre unpolitisch, unhistorisch und unmoralisch. 3 / 7 04/09/2012

Von Beginn an habe ich wiederholt deutlich gemacht, daß Stabilität in Europa im Interesse aller liegt. Keiner sollte vergessen, wie fatal sich Instabilität in dieser Region allein in diesem Jahrhundert ausgewirkt hat. Am Ende dieses Jahrhunderts gilt es, auf diese Herausforderung eine dauerhafte Antwort zu finden und zwar dadurch, daß wir den mittelosteuropäischen Ländern ermöglichen, was sie so dringend brauchen und anstreben: die Heimkehr nach Europa. Die Öffnung des Bündnisses nach Osten entspricht dem vitalen Interesse Deutschlands. Man muß kein strategisches Genie sein, um dies zu verstehen; es reicht ein Blick auf die Landkarte. Auf Dauer ist es nicht haltbar, wenn Deutschlands Ostgrenze die Grenze zwischen Stabilität und Instabilität in Europa ist. Deutschlands Ostgrenze kann nicht die Ostgrenze von Europäischer Union und NATO bleiben. Entweder wir exportieren Stabilität oder die Instabilität kommt zu uns. Die Allianz hat richtig gehandelt; sie hat die Entscheidung getroffen, sich neuen Mitgliedern zu öffnen. Der Erweiterungsprozeß hat begonnen. Er verläuft schrittweise, stetig, transparent, und er ist unumkehrbar. Seit dem NATO-Gipfel 1994 haben wir mehrere Meilensteine gesetzt. Im Dezember 1996 wird der Nordatlantikrat über die nächsten Schritte entscheiden. 1997 wird dann sicher ein spannendes Jahr. Unsere Freunde und Partner in den jungen Demokratien im östlichen Europa können sich dabei auf uns verlassen. Der amerikanische Außenminister Warren Christopher hat es in seiner bemerkenswerten Rede am 20. März 1996 in Prag glasklar formuliert: "Wir gehen entschlossen voran. Die NATO hat sich verpflichtet, neue Mitglieder aufzunehmen; sie darf und will die neuen Demokratien nicht auf Dauer im Wartesaal sitzen lassen. Die NATO-Erweiterung ist voll auf Kurs, und sie wird stattfinden." Wenn die Zeit reif ist, über das Wer und Wann zu entscheiden, wird uns vor allem das politische Profil der Beitrittskandidaten leiten. Unsere Entscheidung darf allerdings nicht bei den ersten Kandidaten haltmachen. Wir brauchen ein umfassendes Konzept, das neben der Integration erster neuer Mitglieder auch verstärkte Kooperation mit den anderen umfaßt. Das Programm,Partnerschaft für den Frieden' enthält dafür noch beträchtliches Wachstumspotential. Wir müssen aber auch die Tatsache in Rechnung stellen und nutzen, daß es einen konzeptionellen Zusammenhang, eine inhärente Wechselbeziehung zwischen der Erweiterung der Europäischen Union und der NATO gibt, einschließlich der synergetischen Effekte und Implikationen, die ganz Zentraleuropa eine euro-atlantische Perspektive geben. Auch wenn einige Länder früher als andere der NATO beitreten, muß von Anfang an klar sein, daß die anderen weiter Teil des Prozesses bleiben. Die NATO der Zukunft, wie ich sie mir vorstelle, sichert also Stabilität in Europa - eine Stabilität, die ebenso im Interesse Rußlands wie in unserem eigenen Interesse liegt. Rußlands Platz ist klar: Wir wollen ein Rußland, das mit seinen Reformen Erfolg hat, ein Rußland, das zu einem privilegierten, strategischen Partner der Allianz wird. Als Mitglied kann ich mir Rußland nicht vorstellen. Dafür ist dieses Land, das sich fast über den halben Erdball erstreckt, einfach zu groß und zu andersartig. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß das Bündnis bereit wäre, die Garantie der kollektiven Verteidigung nach Artikel 5 des NATO-Vertrags bis an Rußlands östliche oder südliche Grenzen auszudehnen. Zudem ist fraglich, ob Moskau selbst wirklich daran interessiert ist, die mit der NATO-Mitgliedschaft verbundenen Verpflichtungen zu übernehmen, ob es beispielsweise bereit wäre, sich dem Konsensprinzip zu unterwerfen. Aber ich kann mir Rußland sehr wohl als engen, aktiven und geschätzten Partner der Allianz vorstellen, als ein Land, mit dem wir eine strategische Partnerschaft eingehen wollen. Rußland kann einen bedeutenden Beitrag zur kooperativen Sicherheitsstruktur leisten, die wir für die Sicherheit in Europa und in seinem Umfeld brauchen. Aber es liegt natürlich an der russischen Führung und den Menschen des Landes selbst, die richtige Wahl zu treffen. Das Bündnis hat Rußland eine privilegierte Partnerschaft auf der Grundlage eines Vertrags oder einer Charta zwischen der NATO und Rußland angeboten, um dieses Land aktiv in die neue europäische Sicherheitsarchitektur einzubeziehen. Das ist alles andere als ein Ausschluß aus den europäischen Angelegenheiten. In Bosnien wirken NATO und Rußland bereits eng zusammen. Ich hoffe, dies ist keine einmalige Angelegenheit, sondern der Beginn einer dauerhaften und stabilen Beziehung. Die Zusammenarbeit von NATO- und Nicht-NATO-Staaten im früheren Jugoslawien zeigt bereits im Kleinen, 4 / 7 04/09/2012

was Europas Sicherheit im Großen künftig ausmacht. III. Seit den Londoner Beschlüssen von 1990 hat das Bündnis einen weiten Weg zurückgelegt. Aber der Erneuerungsprozeß muß weitergehen. Die gegenwärtigen Strukturen sind noch zu statisch und zu sehr auf die früheren Erfordernisse integrierter Verteidigung in Mitteleuropa ausgerichtet. Den vielfältigen neuen Aufgaben tragen sie noch nicht genügend Rechnung. Die Neue NATO muß mehr sein als ein rhetorisches Konstrukt. Es gilt, ihr Inhalt und Profil zu geben. Die jetzt notwendige Strukturreform der Atlantischen Allianz hat eine strategische, eine atlantische und eine europäische Dimension, und sie muß zugleich offen sein für den Beitritt neuer Mitglieder. Die strategische Dimension der Reform zielt darauf ab, die Konsequenzen aus der grundlegenden Veränderung der politisch-strategischen Lage nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation zu ziehen. Wir müssen unser Augenmerk vor allem auf die wahrscheinlichsten Aufgaben richten. Kooperation, Stabilitätstransfer und Krisenbewältigung werden zu wesentlichen Aufgaben der Allianz, auch wenn sie weiterhin zur kollektiven Verteidigung fähig bleiben muß. Vor allem brauchen wir einen veränderten Planungs- und Entscheidungsmechanismus. Krisen, die nach ihrem Entstehungsort, nach Intensität und Dauer nur schwer vorhersagbar sind, verlangen andere Planungsund Entscheidungsverfahren als früher. Die künftigen Strukturen müssen so flexibel angelegt sein, daß sie dem breiten Spektrum neuer Aufgaben gerecht und alle Aufgaben der NATO geplant, geführt und überwacht werden können. Die atlantische Dimension der Strukturreform zielt darauf, das künftige transatlantische Verhältnis mit der Herausbildung strategischer Handlungsfähigkeit Europas in Einklang zu bringen. Im amerikanischen Kongreß und im ganzen Land ist unübersehbar, daß die traditionelle Bereitschaft Amerikas, sich für die Sicherheit in und für Europa zu engagieren, zunehmend hinterfragt wird. Ich habe großen Respekt vor der mutigen Entscheidung Präsident Clintons, 20000 Soldaten zur Implementierung der Dayton-Vereinbarung im früheren Jugoslawien zur Verfügung zu stellen. Ich bin mir dabei sehr wohl bewußt, daß dies keine einfache Entscheidung war und daß eine solche Entscheidung künftig noch schwerer fallen könnte. Von diesem Sachverhalt gehen zwei wesentliche Botschaften aus. Die eine richtet sich an die Menschen im früheren Jugoslawien. Sie besagt unzweideutig: Die NATO gibt ihnen ein Jahr Zeit, Frieden von innen heraus zu gestalten. Die andere ist mehr grundsätzlicher Art und ist an die europäischen Verbündeten gerichtet; sie betrifft deren künftige Rolle in der Atlantischen Allianz: Nur wenn Europa bereit und fähig ist, einen größeren Anteil an der Last und Verantwortung für gemeinsame Sicherheitsinteressen zu übernehmen, kann es mit einer erneuerten transatlantischen Partnerschaft rechnen, die in die Zukunft trägt. Wir können an dieser Stelle einige wichtige Schlußfolgerungen ziehen. Die Neue NATO muß flexibel sein. Wir müssen ihre Strukturen und Mittel für unterschiedliche Zwecke nutzen können. Künftig muß die Allianz eine transatlantische Partnerschaft widerspiegeln, die darauf gründet, daß sich die Vereinigten Staaten weiter für die Sicherheit Europas engagieren, aber selbst auch in den Genuß organisierter europäischer Solidarität kommen. Die Neue NATO muß ein breites Einsatzspektrum abdecken und zugleich die Basis für europäisch geführte Operationen bilden. Die europäische Dimension der Strukturreform der Allianz zielt daher darauf ab, die sich herausbildende europäische strategische Handlungsfähigkeit als wesentliches Element dieser Reform zu begreifen und zu unterstützen. Die NATO-Strukturen müssen so fortentwickelt werden, daß mit Zustimmung des Nordatlantikrates Stäbe, europäische Streitkräfte wie auch Kräfte und Mittel aus der Bündnisstruktur für europäische Zwecke eingesetzt werden können. Europäisch geführte Operationen innerhalb der NATO-Kommandostruktur sind eine logische Konsequenz der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität, die wir alle wollen. Die NATO muß deshalb künftig bereits im Frieden solche Operationen vorbereiten in Planung, Stabsarbeit, Ausbildung und Übungen. 5 / 7 04/09/2012

In der nächsten Zeit geht es darum, diesen Ansatz so weiterzuentwickeln, daß der NATO-Rat auf seiner Frühjahrstagung im Juni 1996 in Berlin politische Leitlinien für die Strukturreform der Allianz verabschieden kann. Damit wird die Grundlage geschaffen, daß die 16 Verteidigungsminister der Allianz bei ihrem diesjährigen Herbsttreffen die Grundlinien und Eckpunkte der neuen militärischen Kommandostruktur diskutieren können. Ein Blick auf den Kalender zeigt, daß wir jetzt eine unvergleichliche Gelegenheit haben: Frankreich will sich aktiv an der Entwicklung der Allianz zu einer Neuen NATO beteiligen. Gleichzeitig ist die Öffnung auf den Weg gebracht. Wir haben also nicht nur den Bedarf, sondern auch die Chance, unser Haus in Ordnung zu bringen, bevor neue Mitbewohner einziehen. IV. Deutschland unterstützt den Transformationsprozeß der Allianz weit mehr als nur rhetorisch. Unsere Beteiligung an der NATO-Friedenstruppe im früheren Jugoslawien ist das beste Beispiel für das praktische Engagement Deutschlands bei der Gestaltung der Neuen NATO. Für Deutschland bestehen heute keine gesetzlichen Beschränkungen mehr, sich solidarisch mit anderen an internationalen Einsätzen zu beteiligen. Deutsche Streitkräfte können nun grundsätzlich die gleichen Aufgaben übernehmen und sich Risiken stellen wie ihre Kameraden in NATO und WEU auch. Viele Jahre lang haben unsere Verbündeten unserem Land Sicherheit gegeben. Heute stellen wir uns darauf ein, die Bündnispartner bei der Eindämmung von Konflikten zu unterstützen, die sich sonst wie ein Steppenbrand ausbreiten. Die Bundeswehr wird zu einem Instrument unserer Sicherheitspolitik entwickelt, das den Erfordernissen unserer Zeit entspricht, fähig zur Landesverteidigung, fähig zur Krisenreaktion im Bündnisrahmen und fähig zur Unterstützung der Vereinten Nationen, wenn der Frieden in und um Europa unsere Hilfe erfordert. Die deutschen Streitkräfte werden einen Friedensumfang von 340000 Mann haben, von denen 50000 zu den Krisenreaktionskräften gehören. Wir werden die allgemeine Wehrpflicht beibehalten. Sie prägt den Charakter der Bundeswehr. Zur Zeit richten wir unser Augenmerk auf die wahrscheinlichsten Herausforderungen. Deshalb bauen wir unsere Krisenreaktionsfähigkeit Schritt für Schritt auf. Gegenwärtig schaffen wir mit Nachdruck eine erste begrenzte Zahl von Reaktionskräften, die sofort verfügbar sind. Im Laufe der nächsten drei bis vier Jahre wird die Bundeswehr nach und nach ihre neue Struktur einnehmen. Sie wird uns zur wirkungsvollen Teilnahme an praktisch allen Aufgaben der Allianz mit gut ausgebildeten und ausgerüsteten Truppen in auftragsgerechter Präsenz und Verfügbarkeit befähigen. Unsere neue Streitkräftestruktur sieht Krisenreaktionskräfte in der Größenordnung der britischen und französischen Krisenreaktionskräfte vor. Gleichzeitig wird Deutschland weiterhin Hauptverteidigungskräfte von beträchtlicher Stärke unterhalten - Kräfte, über die kein anderes Land in Europa in derartiger Qualität und Quantität verfügt. Im Licht der jüngsten Verteidigungsplanungen in Partnerstaaten - ich denke insbesondere an Frankreich und seine kürzlich getroffenen Entscheidungen zur künftigen Streitkräftestruktur - bleibt die Bundeswehr mit ihrer Fähigkeit, einen Verteidigungsumfang von 700000 Soldaten zu mobilisieren, der Eckpfeiler der kollektiven NATO-Verteidigung in Europa. Alles in allem wächst also Deutschlands Wert als strategischer Partner der Vereinigten Staaten. V. Welche Rolle haben die Vereinigten Staaten im neuen Europa? Natürlich bleibt es Ihnen und dem amerikanischen Volk überlassen, über Ihre Interessen und Ihre Rolle selbst zu befinden. Als Deutscher und Europäer, der zugleich überzeugter Atlantiker ist, erlaube ich mir aber zu sagen, wie wir die Rolle der USA im Rahmen der Neuen NATO sehen. 6 / 7 04/09/2012

Erstens: In Europa gibt es heute weder irgendwelche Anzeichen von Anti-Amerikanismus noch nennenswerte politische Kräfte, welche die Präsenz der USA in Frage stellen oder fordern, daß Europa eine von den Vereinigten Staaten losgelöste Sicherheitsidentität entwickeln sollte. Das Gegenteil trifft zu. Amerikas Engagement auf unserem Kontinent fand in Westeuropa niemals mehr Befürworter als heute. Und wenn Sie nach Osteuropa reisen, werden Sie schnell feststellen, daß Amerikas Präsenz und Engagement dort genauso befürwortet wird, vielleicht sogar noch stärker. Ganz Europa hat die Vereinigten Staaten nicht nur als temporäre Schutzmacht während des Kalten Krieges begriffen, sondern als dauerhafte europäische Macht akzeptiert. Zweitens: Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns gezeigt, daß das Schicksal Europas und Amerikas untrennbar miteinander verknüpft ist. Für beide Seiten sind die Entwicklungen in Europa heute noch ebenso von Bedeutung wie vor zehn oder zwanzig Jahren. In der Verteidigungsplanung der USA spielt Europa vielleicht nicht mehr die frühere zentrale Rolle, als es noch ein bedrohter Kontinent war. Dafür ist aber seine Bedeutung als Verbündeter und Partner gewachsen. Ich kenne keine wichtige strategische Frage, in der europäische und amerikanische Interessen divergieren. Und es gibt kaum ein Problem, bei dem wir nicht gut beraten wären, es gemeinsam anzugehen. Drittens: Das von mir skizzierte Zukunftsprojekt einer Neuen NATO zeigt nicht nur, wie die Sicherheit Europas künftig zu gestalten ist. Es zeigt auch, wie ein Europa geschaffen werden kann, das als Partner für die Vereinigten Staaten noch aktiver, noch leistungsfähiger und noch interessanter ist. Natürlich führen Sie Ihre eigene Debatte über die Zukunft des Atlantischen Bündnisses und der transatlantischen Beziehungen. Wir in Europa verfolgen diese Debatte mit großer Aufmerksamkeit. Und es dürfte auch kein Geheimnis sein, daß sich einige Europäer wundern über das, was sie zuweilen aus Amerika hören. Dennoch bin ich zuversichtlich, daß wir die Neue NATO zustande bringen, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die strategischen Vorteile für beide Seiten sind offensichtlich. Sie tragen unsere Allianz ins nächste Jahrhundert. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß es uns mit der Allianz sehr viel besser geht als ohne sie. Um es mit den Worten Präsident Clintons zu sagen: Gemeinsam haben die Vereinigten Staaten und Europa "wenig zu fürchten und viel zu gewinnen". 7 / 7 04/09/2012