Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Routinedaten über Zwangsmaßnahmen in der stationären Psychiatrie Hans Joachim Salize Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim
Rechtsgrundlagen Unterbringung nach UGL (Psych-KG, UBG) 70 Abs.1 Satz 2 Nr.3 FGG, bedarf einer richterlichen Anhörung Unterbringung nach Betreuungsgesetz 70 Abs.1 Satz 2 Nr.1b,2 FGG ( 1906 Abs. 1-2,3,5 BGB) Vorläufige Unterbringungen durch Gericht 70h Abs. 3 FGG ( 1846 BGB) (zivilrechtl./öff.-rechtl.) werden z.t umgewandelt in Verfahren nach 1906, evtl. Doppelzählungen unbekannter Höhe Unterbringungsähnliche Maßnahmen 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FGG ( 1906 Abs. 4 BGB)
Datenquellen Geschäftsübersichten der Amtsgerichte: dokumentieren Zahl der Verfahren, aber: Genehmigungen nur z.t. spezifiziert (auf Bundesebene, nicht auf Länderebene) Unterbringungsähnliche Maßn. nur z.t. spezifiziert (auf Bundesebene, nicht auf Länderebene) Verlängerungen nur z.t. spezifiziert (auf Bundesebene, nicht auf Länderebene) fürsorgliche Zurückhaltung/Zwangseinweisung nicht spezifiziert Ort der Maßnahme nicht spezifiziert (Heime, psychiatrische Krankenhäuser)
Statistische Hauptprobleme: Abgrenzung bzw. Herausrechnung von Maßnahmen im Altenhilfe und Pflegeheimsektor Quantifizierung von unterbringungsähnlichen Maßnahmen (Zwangsmaßnhmen während der Behandlung vs. Zwangsunterbringung) Identifikation und Vermeidung von Doppelzählungen (vorläufige Maßnahmen, die zu regulären umgewandelt werden) Differenzierung von gerichtlichen Verfahrensausgängen (Unterscheidung von positiven und negativen Entscheidungen)
Nachfolgende Schätz-/Berechnungsszenarien gehen von folgenden Voraussetzungen aus Unterbringung nach UGL (Psych-KG, UBG) unverändert aus Geschäftsberichten der Amtsgerichte übernommen Vorläufige Unterbringungen durch Gericht übernommen, da meist gering, obwohl Doppelzählungen möglich Unterbringung nach Betreuungsrecht - differenziert nach Unterbringungen und unterbringungsähnliche Maßnahmen - gewichtet nach Unterbringung im Pflegeheimsektor oder in der Psychiatrie Unterbringung nach Betreuungsrecht - Verfahrenszahl übernommen, ca. 90% werden positiv beschieden
(incl. unterbringungsähnliche Maßnahmen und vorläufige nach 1846 BGB, nur Verfahren, nicht getrennt nach Genehmigungen und Ablehnungen, nicht getrennt nach Heim o.psychiatrie) Zwangsmaßnahmen Bund 1992 2003 (UBG-Länder / 1906 I-V / 1846 ) Anzahl 200.000 Betreuungsrecht 1906, I-IV Verfahren vorläufige Unterbringungen 1846 150.000 UBG-Länder (Verfahren) 100.000 50.000 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Schlussfolgerung: Unterbringungen nach PsychKG (UBG Länder) offenbar konstant Absoluter Zuwachs wahrscheinlich durch zivilrechtliche Maßnahmen nach Betreuungsgesetz verursacht
Zwangsmaßnahmen Bund 1992 2003 Anzahl (UBG-Länder / 1906 I-II / 1906 IV / 1846 ) 200.000 Unterbringungsähnliche Maßnahmen 1906, IV Betreuungsrecht 1906, I-II vorläufige Unterbringungen 1846 150.000 UBG-Länder (Verfahren) 100.000 50.000 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Bei Differenzierung unterbringungsähnlicher Maßnahmen: Schlussfolgerung: Maßnahmen nach UBG-Länder bleiben weitgehend konstant Unterbringungen nach Betreuungsrecht ( 1906 I-II) steigen an stärkster Zuwachs geht offenbar von unterbringungsähnlichen Maßnahmen ( 1906 IV) aus
Bereinigung Alten- und Pflegeheimsektor Zwangsmaßnahmen im Bereich Altenhilfe / Pflegeheim: Stichprobe genehmigt genehmigt Studien Bewohner (n) 1906 IV 1906 I Freiburg (1994/95) 3.084 2,7 % Caritas Köln (2001/03) 1.719 2,7 % München (2001/02) 5.880 3,8 % 2,3 % Mannheim (2002/03) ca. 3.300 ca. 3,1 %
Schlussfolgerung: Anteil gerichtlich genehmigter Unterbringungen und unterbringungsähnlicher Maßnahmen sind im Alten- und Pflegeheimsektor offenbar gering, oder aber schlecht dokumentiert (wenige Studien, im Mittel zwischen ca. 2,3-3,8 % der Bewohner, die richterlich genehmigten Zwangsmaßnahmen unterliegen) bei der hohen und rapide steigenden Zahl an Pflegeheimplätzen (270.000 im Jahre 1991, 713.195 im Jahre 2003) und entsprechend hoher Bewohnerzahl ist jedoch auch bei Annahme der o.g. niedrigen Quoten der Anteil der gerichtlich genehmigten Maßnahmen im Alten- und Pflegeheimbereich an der Gesamtzahl aller Unterbringungsmaßnahmen relativ hoch (bei Annahme einer konstanten Zwangsmaßnahmenquote im Heimbereich im zeitlichen Verlauf)
Schätzung: Alten- u. Pflegeheimanteile an allen Zwangsmaßnahmen (bei konstantem Anteil von je 3% der Bewohner jährlich mit gerichtlich genehmigten Zwangsmaßnahmen) % 100 80 84,2 Heimanteil 1906, IV in % Heimanteil 1906, I-II in % 68,8 60 51,7 47,1 47,8 49,3 40 42,5 42,7 40,4 38,9 39,2 38,4 37,9 38,1 34,7 33,4 31,1 28,6 20 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Zwangsmaßnahmen Bund 1992 2003 (UBG-Länder / 1906 I-II / 1906 IV / 1846 Pflegeheime Psychiatrie) Anzahl 200.000 Unterbringungsähnliche Maßnahmen 1906, IV, Heime Unterbringungsähnliche Maßnahmen 1906, IV, Psychiatrie Betreuungsrecht 1906, I-II, Heime Betreuungsrecht 1906, I-II, Psychiatrie vorläufige Unterbringungen 1846 UBG-Länder (Verfahren) 150.000 100.000 50.000 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Schlussfolgerung: Gemäß gezeigtem Berechnungsszenario bleibt der Anteil von zivilrechtlichen Unterbringungen im Pflegeheimsektor an allen zivilrechtlichen Unterbringungen relativ konstant (bei ca. 42-47%) Der Anteil unterbringungsähnlicher Maßnahmen im Alten- und Pflegeheimsektor an allen unterbringungsähnlichen Maßnahmen sinkt über die Zeit und beträgt im Jahre 2003 ca. 28% => Der Anstieg der absoluten Zahl von Zwangsmaßnahmen geht nach diesem Szenario mit einer gewisser Wahrscheinlichkeit nicht vom Alten- und Pflegeheimsektor aus => Der Anstieg der absoluten Zahl von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie beruht offenbar zu wesentlichen Teilen auf der Zunahme gerichtlich genehmigter unterbringungsähnlicher Maßnahmen
Schlussfolgerung: Gemäß gezeigtem Berechnungsszenario bleibt der Anteil von zivilrechtlichen Unterbringungen im Pflegeheimsektor an allen zivilrechtlichen Unterbringungen relativ konstant (bei ca. 42-47%) Der Anteil unterbringungsähnlicher Maßnahmen im Alten- und Pflegeheimsektor an allen unterbringungsähnlichen Maßnahmen sinkt über die Zeit und beträgt im Jahre 2003 ca. 28% => Der Anstieg der absoluten Zahl von Zwangsmaßnahmen geht nach diesem Szenario mit einer gewisser Wahrscheinlichkeit nicht vom Alten- und Pflegeheimsektor aus => Der Anstieg der absoluten Zahl von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie beruht offenbar zu wesentlichen Teilen auf der Zunahme gerichtlich genehmigter unterbringungsähnlicher Maßnahmen evtl. Effekt der zunehmenden Legalisierung von hidden coercion?
Welcher Bewertungsmaßstab ist angemessen? Absolute Zahlen Bevölkerungsbezogene Maßzahlen - Rate (Anteil Zwangsaufnahmen pro 100.000 Einwohner) Aufnahmenbezogene Maßzahlen - Quote (Anteil Zwangsaufnahmen an allen Aufnahmen in die allgemeinpsychiatrische Krankenhausversorgung)!!!!!
Zwangsunterbringungen Raten Bund 1992 2003 (UBG-Länder / 1906 I-II / 1906 IV / 1846 nur Psychiatrie) Anzahl 250 Bund Rate (pro 100.000 Einw.) mit unterbringungsähnlichen Maßnahmen Bund Rate (pro 100.000 Einw.) ohne unterbringungsähnliche Maßnahmen 200 150 100 50 83,3 81,3 134 122,8 116,2 105,8 90 109 98,8 102,1 95,3 85 163,1 156,4 140 145,2 118,2 109,2 106,2 111 168,7 120,1 182,8 118,1 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Gesamtpsychiatrische Fälle Rate Bund 1991 2003 (Jährliche Krankenhausfälle in psych. Krankenhäusern/Fachabteilungen incl. Sucht, ohne psychosomatische Medizin, Neurologie, KJP) Anzahl 1.000 800 600 400 Bund Rate (pro 100.000 Einw.) mit unterbringungsähnlichen Maßnahmen Bund Rate (pro 100.000 Einw.) ohne unterbringungsähnlichen Maßnahmen Bund Rate gesamtpsychiatrische Fälle (pro 100.000 Einw.) 493,5 514,5 538,1 568,3 634,4 600,7 708,2 670,3 776,2 749,6 799,4 838,4 846,7 200 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Zwangsunterbringungen Quoten Bund 1992 2003 (Anteil Zwangsunterbringungen an jährlichen Fallzahlen in psych. Krankenhäusern/Fachabteilungen UBG-Länder / 1906 I-II / 1906 IV / 1846 nur Psychiatrie) % 250 200 Bund Rate (pro 100.000 Einw.) mit unterbringungsähnlichen Maßnahmen Bund Rate (pro 100.000 Einw.) ohne unterbringungsähnlichen Maßnahmen Bund Quote (Verfahren/Fallzahlen Psych incl. Sucht) 150 100 50 15,8 15,8 16,8 16,4 16,1 16,3 15,4 14,2 14,3 14,8 14,3 14 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Schlußfolgerung Zwangseinweisungen in die stationärpsychiatrische Versorgung verhalten sich im zeitlichen Verlauf so wie die Gesamtaufnahmen in die allgemeine stationäre Psychiatrie d.h. sie folgen dem Muster sinkender Verweildauern in der stationärpsychiatrischen Behandlung Dies ist politisch und fachlich gewollt und entspricht dem fundamentalen gemeindepsychiatrischen Versorgungsprinzip ambulant vor stationär, welcher die absolute Zahl von (kürzeren) stationären Episoden erhöht freiwillige und unfreiwillige
Welche Entwicklung ist in den Bundesländern zu beobachten? Methodische Schwierigkeit: unterbringungsähnliche Maßnahmen lassen sich bei den Länderzahlen nicht herausrechnen
Bundesländer 1991 2003 Baden-Württemberg (Verfahren, nicht Bewilligungen, incl. Verlängerungen Landes-UBG, Betreuungsrecht, vorläufige und unterbringungsähnliche Maßnahmen Anzahl 10.000 BaWü 1906,1-3,4,5 (- 50%) BaWü Landesgesetz BaWü 1846 5.000 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 powpoint/compulsory/compulsory-germany-federal-30-11-2004
Bundesländer 1991 2003 Bayern (Verfahren, nicht Bewilligungen, incl. Verlängerungen Landes-UBG, Betreuungsrecht, vorläufige und unterbringungsähnliche Maßnahmen Anzahl 40.000 Bayern 1906,1-3,4,5 (- 50%) Bayern Landesgesetz 30.000 Bayern 1846 20.000 10.000 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 powpoint/compulsory/compulsory-germany-federal-30-11-2004
Veränderung Quote 1992-2003 in Prozentpunkten Baden-Württemberg 6,1 Bayern 7,8 Berlin 0,6 Brandenburg -2,0 Bremen 8,8 Hamburg 4,7 Hessen 2,6 Mecklenburg-Vorpommern 9,6 Niedersachsen 5,4 Nordrhein-Westfalen 2,6 Rheinland-Pfalz 3,4 Saarland 4,1 Sachsen 6,6 Sachsen-Anhalt 0,5 Schleswig-Holstein 5,2 Thüringen 4,1
Handlungsbedarf regelmäßige Sammlung und Analyse von flächendeckenden Daten zu Zwangsmaßnahmen in der psychiatrischen Versorgung (aus eigener Kraft) hilfsweise: Modifikation der Strukturen der Amtsgerichtsstatistiken hinsichtlich einer Differenzierung nach den Versorgungssektoren, in denen Zwangsmaßnahmen erfolgen (Psychiatrie Pflegeheim etc.)