Forschung und Entwicklung für vernachlässigte Krankheiten Wege aus der Krise

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Transkript:

Forschung und Entwicklung für vernachlässigte Krankheiten Wege aus der Krise Heute werden wie jeden Tag 35.000 Menschen an Malaria, Tuberkulose, HIV/Aids, der Schlafkrankheit, Chagas und Kala-Azar sterben. Jährlich sterben fast 15 Millionen Menschen an übertragbaren Krankheiten. 1 Vernachlässigte Krankheiten Vernachlässigte Krankheiten betreffen hauptsächlich die Menschen in den ärmeren Ländern. Da die Betroffenen dort nicht genügend Kaufkraft haben, um sich Behandlungen leisten zu können, stellen diese Krankheiten keinen profitablen Markt für pharmazeutische Unternehmen dar. Aus diesem Grund investieren Pharmafirmen fast überhaupt nicht in möglicherweise risikoreiche und teure Forschung und Entwicklung (F&E) für vernachlässigte Krankheiten. Die am meisten vernachlässigten Krankheiten sind solche, von den die meisten Menschen in Industrieländern noch nie etwas gehört haben zu ihnen zählen die afrikanische Trypanosomiasis (oder Schlafkrankheit), südamerikanische Trypanosomiasis (auch bekannt als Chagas-Krankheit), das Buruli Ulkus, Dengue Fieber, Viszerale Leishmaniose, Schistosomiasis und Lymphatische Filariasis. Diese Krankheiten, die so weit von unserer Welt entfernt sind, werden nicht von den F&E-Bemühungen der Pharmaindustrie berücksichtigt. Andere vernachlässigte Krankheiten sind bekannter, da sie auch Menschen in reicheren Ländern betreffen. Doch auch hier hat die überwältigende Mehrheit der betroffenen Menschen weltweit keinen Zugang zu sicheren und erschwinglichen Diagnostika, Medikamenten oder Impfstoffen. Dies trifft für die Großen Drei zu HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria. Für diese Krankheiten existiert ein recht profitabler Markt Malaria beispielsweise ist ein Gesundheitsrisiko für Touristen. Aber (und dies ist der entscheidende Punkt): Die Industrie sieht keinen Markt für Behandlungsmethoden, die geeignet für ressourcenschwache Gebiete sind. Dort lebt jedoch die Mehrzahl der Patienten mit diesen Krankheiten. Der Mangel an geeigneten und erschwinglichen Diagnostika, Medikamenten und Impfstoffen für vernachlässigte Krankheiten ist schockierend: 60 Million Menschen sind der Gefahr ausgesetzt, sich mit der Schlafkrankheit zu infizieren. Um diese tödliche Krankheit zu diagnostizieren, ist es notwendig, eine Lumbalpunktion durchzuführen. Dabei wird Nervenflüssigkeit aus dem Rückenmarkskanal im Lendenwirbelbereich entnommen. Diese Diagnosemethode Januar 2006 1

übersteigt die Kapazitäten der meisten Gesundheitszentren in den betroffenen Regionen. Die Behandlung basiert auf einem hochgiftigen arsenhaltigen Derivat, welches seit den 1940er Jahren benutzt wird, sowie einem Krebsmedikament der 1980er Jahre. Jährlich sterben 60.000 Menschen an Kala-Azar. Die Behandlung stützt sich auf ein in den 1930er Jahren entwickeltes giftiges Antimonpräparat, welches über vier Wochen durch Injektionen verabreicht werden muss. 1.400 Kinder sterben täglich an Komplikationen in Zusammenhang mit HIV/Aids. Die vorhandenen Methoden zur Diagnose der Immunschwächekrankheit bei Kleinkindern sind jedoch zu teuer und ungeeignet für den Einsatz in ressourcenschwachen Gebieten. Darüber hinaus existieren keine löslichen und einfach einzunehmenden antiretroviralen Tabletten für Kinder, obwohl diese relativ einfach zu entwickeln wären. Tuberkulose zeichnet für fast zwei Millionen Todesfälle jährlich verantwortlich, aber die Behandlung ist kompliziert und dauert sechs Monate. Darüber hinaus stammen die verwendeten Medikamente aus den 1950er und 60er Jahren. Der einzige einfach anzuwendende Test ist die Untersuchung des Sputums unter dem Mikroskop. Diese Methode stammt aus dem Jahre 1882 und erkennt die Krankheit in nur 45 bis 60 Prozent der Fälle. 340 Millionen Krankheitsfälle durch sexuell übertragbare Infektionen treten jedes Jahr auf. Einfache und effektive Behandlungen stehen zur Verfügung, aber nur wenige Patienten erhalten diese, da verlässliche Tests fehlen. Die Chagas-Krankheit kommt nahezu ausschließlich auf dem amerikanischen Kontinent vor und fordert jährlich bis zu 50.000 Menschenleben. Da angemessene Tests nicht verfügbar sind, wird diese chronische Krankheit oftmals zu spät diagnostiziert. Vorhandene Medikamente können so nicht mehr effektiv eingesetzt werden. Die beiden einzigen verfügbaren Medikamente, Nifurtimox und Benznidazol, wurden in den 1960-70er Jahren entwickelt. Dass diese Krankheiten noch immer vernachlässigt sind, ist eine direkte Folge der Unzulänglichkeiten des bestehenden F&E-Systems für Medikamente: Es orientiert sich an Profitinteressen und nicht an tatsächlichen Bedürfnissen. Die Unzulänglichkeiten des bestehenden Systems für Forschung und Entwicklung im Gesundheitsbereich Weltweit sind die Ausgaben für die Forschung im Gesundheitsbereich dramatisch angestiegen: von 30 Milliarden US-Dollar im Jahr 1996 auf derzeit 105,9 Milliarden US- Dollar. Dies könnte als eine gute Nachricht aufgefasst werden. Allerdings verrät eine genauere Analyse, dass 90 Prozent dieses Geldes für die Gesundheitsbedürfnisse von weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung verwendet wird. 2 Dies wird allgemein als die 10/90 Lücke beschrieben. Der weltweite pharmazeutische Markt hat derzeit einen Wert von 518 Milliarden US-Dollar. 87 Prozent des Umsatzes wird in Nordamerika, der Europäischen Union und Japan erwirtschaftet. 3 Dieses enorme Ungleichgewicht hat dramatische Konsequenzen auf die Produktion neuer Medikamente durch die pharmazeutische Industrie. Von den 1.556 zwischen 1975 und 2004 weltweit vermarkteten neuen chemischen Substanzen waren nur 20 Medikamente gerade einmal 1,3 Prozent zur Behandlung tropischer Krankheiten und Tuberkulose. Diese Krankheiten zeichnen jedoch verantwortlich für zwölf Prozent des gesamten Krankheitsaufkommens weltweit. 4 Januar 2006 2

Eine Analyse der 1.035 Medikamente, die zwischen 1989 und 2000 von der zuständigen US-amerikanischen Behörde zugelassen wurden, ergab, dass mehr als Dreiviertel von ihnen keinen über existierende Produkte hinausgehenden therapeutischen Nutzen hatten. Sie sind somit als so genannte Scheininnovationen einzuordnen. 5 Gleichzeitig wurde festgestellt, dass weniger als ein Prozent der Medikamente für die Behandlung von Krankheiten sind, von denen überwiegend Menschen in ärmeren Ländern betroffen sind. Gerade in diesem Bereich hätten neuere Therapien jedoch den größten positiven Effekt für die weltweite Gesundheit. 6 Das Recht am geistigen Eigentum und der Welthandel Das derzeitige System für Forschung und Entwicklung wird von Profitinteressen und Patentrechten geleitet. Bestrebungen, den Patentschutz auch auf Entwicklungsländer auszudehnen, wurden damit begründet, dass die so geförderten Innovationen auch diesen Ländern zu Gute kommen würden. Allerdings besteht nunmehr Einigkeit darüber, dass ein verschärfter und weitreichenderer Schutz des geistigen Eigentums nicht zu vermehrter F&E für Medikamente für weltweite Gesundheitsbedürfnisse geführt hat. Dies wurde auch durch die von der britischen Regierung einberufene Commission for Intellectual Property Rights festgestellt. 7 Ganz im Gegenteil: In einigen Fällen wird F&E eben gerade durch geistige Eigentumsrechte behindert. Dies geschieht entweder durch die Komplexität, die der Umgang mit einer Vielzahl von Patenten mit sich bringt (einige der menschlichen Gene beispielsweise sind bis zu 20 Mal patentiert) oder schlicht dadurch, dass Weiterentwicklungen durch Patentschutz massiv erschwert werden. Verhandlungen mit Universitäten und Firmen für einen Zugang zu Informationen, chemischen Verbindungen und Forschungsinstrumenten sind außerordentlich kompliziert und zeitaufwändig. 8 Die Doha-Erklärung der Welthandelsorganisation zu TRIPS und öffentlicher Gesundheit erkennt die Problematik von Patenten auf pharmazeutische Produkte und die daraus resultierenden hohen Preise in den Entwicklungsländern an. Die Erklärung zeigt Möglichkeiten für Staaten auf, wie Patente zu Gunsten der öffentlichen Gesundheit außer Kraft gesetzt werden können. Neue Modelle werden entwickelt, aber es bleibt noch viel zu tun Die Entstehung von öffentlich-privaten Modellen Mittlerweile wird der Mangel an Medikamenten für vernachlässigte Krankheiten vermehrt wahrgenommenen. In den vergangenen Jahren sind diverse vielversprechende Initiativen ins Leben gerufen worden. Einige nicht an Profit interessierte Produktentwicklungspartnerschaften (Product Development Partnerships, oftmals auch Public Private Partnerships genannt) sind zur Entwicklung von neuen Medikamenten, Diagnostika und Impfstoffen für vernachlässigte Krankheiten geschaffen worden. Beispiele hierfür sind die International AIDS Vaccine Initiative (IAVI), Medicines for Malaria Venture (MMV), Global Alliance for TB Drug Development (GATB) und die Drugs for Neglected Diseases Initiative (DNDi). Letztere wurde mitbegründet von Ärzte ohne Grenzen. Jüngst stellte ein Bericht der London School of Economics den aktuellen Stand der F&E für vernachlässigte Krankheiten dar. Basierend auf den sich augenblicklich in der Entwicklung befindenden Medikamenten und den Standardschwundquoten, geht dieser Bericht davon aus, dass Product Development Partnerships (PDPs) in den nächsten fünf Jahren acht bis neun neue Medikamente auf den Markt bringen könnten. 9 Januar 2006 3

Das Aufkommen von PDPs stellt ein interessantes neues Modell dar: Die Kosten für F&E werden direkt bezahlt und nicht länger durch hohe Medikamentenpreise und strenge Patentregeln nachträglich gedeckt, wie dies im derzeitigen System der F&E durch Pharmafirmen der Fall ist. Dieses neue Modell wird es ermöglichen, die so entwickelten Produkte zu Preisen zu verkaufen, die in der Nähe den Produktionskosten liegen. Aber der Erfolg dieser PDPs hängt davon ab, ob sie in der Lage sind, genügend Finanzmittel aufzubringen, um diese neuen Projekte komplett durchzuführen. Derzeit haben die bestehenden PDPs noch nicht einmal ausreichende Finanzmittel akquiriert, um ihre bereits bestehenden Projekte zu finanzieren: Während diese Partnerschaften ihre F&E-Vorhaben erweitern und vermehrt vielversprechende Substanzen in die Phase der klinischen Studien eintreten, erhöht sich ihr Finanzbedarf erheblich. Schätzungen zu Folge sind zusätzliche Investitionen von 200 Millionen US-Dollar notwendig, um bestehende PDPs, die sich in der Forschung und Entwicklung von neuen Medikamenten engagieren, zu finanzieren. 10 Ohne diese zusätzlichen Investitionen werden die zukünftigen Medikamente für vernachlässigte Patienten dort bleiben, wo sie momentan sind: in der Phase der Forschung und Entwicklung. Zur Zeit wird die Arbeit von PDPs fast ausschließlich von philanthropischen Organisationen wie der Bill & Melinda Gates Foundation und der Rockefeller Foundation gefördert. Regierungen steuern dürftige 16 Prozent zur Finanzierung der PDPs im Bereich Arzneimittelentwicklung für vernachlässigte Krankheiten bei. Ärzte ohne Grenzen als private medizinische Hilfsorganisation stellt derzeit mehr Geldmittel für PDPs zur Entwicklung neuer Medikamente bereit als alle EU-Staaten zusammen. Es bleibt völlig ungewiss, woher die Ressourcen zur Finanzierung der kostenintensiveren Stadien der Entwicklung und der klinischen Studien kommen werden. Grafik und Tabelle 1: Absolute kumulierte Finanzierung von PDPs (Stand April 2005, eingeschlossen der bis zu diesem Datum abgegebenen Finanzierungsverpflichtungen): 11 Der öffentliche Sektor steuert nur 16% zur Finanzierung von PDPs bei 79% 3% 2% 16% UN Organisationen Privatsektor Öffentlicher Sektor Philantropische Organisationen Geber Gesamtbetrag in Millionen US$ % des Gesamtbetrags Philanthropisch Bill & Melinda Gates Foundation Ärzte ohne Grenzen Rockefeller Foundation Wellcome Trust 158.7 29.7 20.3 2.8 58.9 11 7.5 1.1 Summe 211.6 78.5 Regierungen USA UK Niederlande Schweiz Europäische Kommission 16 10.9 10.5 4.4 1.5 5.9 4.1 3.9 1.6 0.6 Summe 43.6 16.2 Obwohl die Arbeit solcher PDPs ein erster wichtiger Schritt zu einer an den Bedürfnissen der Armen orientierten Forschungsaktivität ist, reichen die Ergebnisse noch lange nicht aus. Oft existiert nur eine einzige Forschungsinitiative für eine vernachlässigte Krankheit oder für das gesamte vernachlässigte Feld der Diagnostika: Würden wir eine einzige Forschungsinitiative als ausreichende Antwort auf Krebs ansehen, wie wir es anscheinend für Tuberkulose tun? Januar 2006 4

no-profit no-loss -Investitionen der Pharmafirmen In den vergangenen Jahren haben einige Pharmaunternehmen, neben den entstehenden PDPs, spezielle Einrichtungen oder Initiativen für Forschung und Entwicklung gegründet. Damit reagierten sie auf den wachsenden öffentlichen Druck, neue Instrumente zur Bekämpfung von Krankheiten zu entwickeln, die hauptsächlich Menschen in den ärmeren Ländern betreffen. So sind beispielsweise GlaxoSmithKline, Novartis, AstraZeneca und Sanofi-Aventis in F&E für vernachlässigte Krankheiten auf einer no-profit no-loss -Basis involviert. Wichtig ist vor allem, dass diese Firmen angekündigt haben, ihre so entwickelten Produkte für Menschen in den ärmeren Ländern erschwinglich und zugänglich zu machen. Diese Bemühungen sind nicht motiviert durch Profitstreben, aber sie stellen den Versuch dar, ein positives öffentliches Bild der Firma zu erzeugen oder sich in entstehenden Märkten zu platzieren. Die bisherigen Erfahrungen zeigen: Der bestehende Mangel an F&E für vernachlässigte Krankheiten kann nicht durch kommerzielle Anreize für multinationale Pharmafirmen behoben werden (es sei denn diese Anreize sind außerordentlich groß). In der Tat haben Firmen, die sich derzeit nicht im Bereich der vernachlässigten Krankheiten engagieren, angedeutet, dass nicht einmal Anreize sie dazu ermuntern würden. 12 Hindernisse für die F&E bleiben bestehen - der Staat muss eine Führungsrolle übernehmen Der Staat kommt seiner Verantwortung nicht nach! Kein öffentlicher Akteur hat bisher Bedürfnisse definiert und Prioritäten gesetzt zur F&E für vernachlässigte Krankheiten. Dieser Forschungssektor wird fast ausschließlich philanthropischen Einrichtungen überlassen. Mehr denn je braucht die Welt ein effizienteres, innovativeres und an Bedürfnissen orientiertes System zur Prioritätensetzung und zur Finanzierung von F&E. Dieses muss klar und ohne Vorbehalte durch die Regierungen unterstützt werden und an neuen Leitlinien ausgerichtet sein. Finanzierung Empfehlungen der World Health Organisation s 2001 Commission on Macroeconomics and Health zu Folge, sind Forschungsinvestitionen von mindestens drei Milliarden US- Dollar jährlich für die Gesundheitsbedürfnisse der ärmeren Menschen der Welt notwendig. 13 Die großen Firmen behaupten, dass die F&E-Kosten für ein neues Medikament bei 802 Millionen US-Dollar liegen. Falls dies zutrifft, kann man nur sehr wenig Innovation für den Bereich der vernachlässigten Krankheiten erwarten. Hingegen schätzt die gemeinnützige Global Alliance for Tuberculosis Drug Development, dass die gesamten F&E-Kosten für ein neues Tuberkulosemedikament, einschließlich der Kosten, die für Fehlschläge eingerechnet werden müssen, zwischen 115 Millionen und 240 Millionen US-Dollar liegen. 14 Darüber hinaus liegen Kostenschätzungen für zahlreiche durch PDPs entwickelte Medikamente sogar unter 100 Millionen US Dollar. 15 Die Schätzungen der pharmazeutischen Industrie sind vor allem so hoch, weil sie Opportunitätskosten enthalten. Regulierungsprozesse Arzneimittelzulassungsbehörden in ärmeren Ländern haben meist unzureichende Kapazitäten, um neue Medikamente zur Behandlung vernachlässigter Krankheiten zu Januar 2006 5

bewerten, die sonst noch nirgends zugelassen wurden. Allerdings sind allein diese Behörden im Stande, die Risiken und Vorzüge von neuen Medikamenten gegen Krankheiten, die in ihren Ländern regelmäßig auftreten, abzuwägen. Die European Agency for the Evaluation of Medicinal Products (EMEA) hat kürzlich eine Regelung verabschiedet, die es ihr ermöglicht, auf Antrag der Weltgesundheitsorganisation medizinische Produkte zu beurteilen, die außerhalb der EU vermarktet werden. Diese neue Regelung muss nun in der Praxis angewandt werden. Staatliche Verantwortung Aufruf an Regierungen Ärzte ohne Grenzen ruft die deutsche Bundesregierung dazu auf, den weltweiten F&E- Bedürfnissen mit mehr Nachdruck nachzukommen. In den Millenium Development Goals und auf dem G8-Gipfel 2005 in Gleneagles haben die reichsten Staaten der Welt sich klar dazu verpflichtet, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung für Malaria, Tuberkulose, HIV/Aids und die am meisten vernachlässigten Krankheiten zu erhöhen. Zahllose Leben hängen von der Erfüllung dieser Versprechen ab. Beispiele aus jüngster Vergangenheit haben gezeigt, wie politischer Wille internationale Kooperation und die Bereitstellung von immensen Finanzmitteln für F&E sicherstellen kann. Die schnellen und effektiven Reaktionen auf den Ausbruch der gefährlichen Lungenkrankheit Sars, auf die Angst vor einem Anschlag mit Anthraxerregern in den USA oder die Reaktionen auf die Vogelgrippe haben gezeigt, was möglich ist. Bedauerlicherweise fehlt dieses Engagement, wenn es darum geht, F&E für Krankheiten voranzutreiben, an denen hauptsächlich Menschen in den ärmeren Ländern leiden. Obwohl das Bewusstsein für die Problematik im Allgemeinen gestiegen ist, haben Regierungen noch keine praktikablen Strategien ausgearbeitet, die eine Bedürfnisorientierte F&E für neue Medikamente, Diagnostika und Impfstoffe sicherstellen würden. Es bedarf politischer Initiative aller Staaten, um der Forschung und Entwicklung für die globale Gesundheit eine größere Priorität zu geben und deren langfristige Finanzierung zu sichern. Regierungen aller Staaten sollten gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation sicherstellen, dass medizinische und wissenschaftliche Fortschritte dazu beitragen, das Leiden von Millionen von Menschen in den ärmeren Ländern zu lindern. Ärzte ohne Grenzen fordert die deutsche Bundesregierung dazu auf, die folgenden Punkte zu unterstützen: Ein neues globales System zur Unterstützung Bedarfs-orientierter Forschung: F&E-Prioritäten sollten entlang der tatsächlichen Bedürfnisse von Patienten definiert werden, so dass Staaten entsprechende Forschungsaktivitäten in die Wege leiten können. Wir rufen die Bundesregierung dazu auf, die Weltgesundheitsorganisation darin zu unterstützen, ein globales System für unentbehrliche Forschung und Entwicklung im Gesundheitsbereich zu entwickeln und umzusetzen. Dieses sollte sicherstellen, dass F&E-Prioritäten den Bedürfnissen von Patienten und dem öffentlichen Interesse entsprechen. Darüber hinaus muss gewährleistet sein, dass die Kosten von Forschung und Entwicklung gerecht verteilt werden. Erhöhung der staatlichen Finanzierung: Es ist dringend notwendig, dass die staatliche Finanzierung erhöht wird. Nur so kann gewährleistet werden, dass der Fortschritt in Grundlagenforschung und Biomedizin zu neuen, erschwinglichen Medikamenten, Impfstoffen und Diagnostika für vernachlässigte Krankheiten führt. Eine höhere staatliche Finanzierung ist auch notwendig, um alle verschiedenen Januar 2006 6

Entwicklungsphasen von F&E zu unterstützen, und um zu gewährleisten, dass neue Produkte den wirklich Bedürftigen zu Gute kommen. Zugang zu patentgeschütztem Wissen und Instrumenten: Industrie und Wissenschaft können ohne größere Verluste zur F&E für vernachlässigte Krankheiten beitragen, indem sie den Zugang zu ihrer reichhaltigen Expertise und ihren Archiven für chemische Substanzen erleichtern. Wir rufen politische Entscheidungsträger und die Industrie dazu auf, dies zu ermöglichen. Unterstützung von Arzneimittelzulassungsbehörden: Die Weltgesundheitsorganisation muss mit Arzneimittelzulassungsbehörden zusammenarbeiten, um Medikamente schnellstmöglich auf ihre Qualität hin zu überprüfen, zuzulassen und den bedürftigen Patienten verfügbar zu machen. Unterstützung von Arzneimittelzulassungsbehörden in ärmeren Ländern durch Behörden wie die US-amerikanische FDA oder die europäische EMEA ist notwendig, um die Zulassungsprozesse für neue Medikamente für vernachlässigte Krankheiten zu beschleunigen. Die Risiken und der Nutzen jedes Medikaments müssen im Verhältnis zu den Bedürfnissen der Patienten, der Schwere der jeweiligen Krankheit und dem Vorhandensein von alternativen Behandlungsoptionen und Impfstoffen abgeschätzt werden. Wir rufen die Bundesregierung dazu auf, mit der Weltgesundheitsorganisation bei der behördlichen Zulassung von Medikamenten für vernachlässigte Krankheiten zusammenzuarbeiten, damit unentbehrliche, lebensrettende Gesundheitstechnologien schnellstmöglich den Menschen zur Verfügung stehen, die sie benötigen. Strategien zur Stärkung der Forschungskapazitäten in den Ländern, in denen vernachlässigte Krankheiten endemisch sind: Technologietransfer und eine Stärkung der Forschungskapazitäten in den Ländern, in denen vernachlässigte Krankheiten endemisch sind, sollten Kernbestandteil jedes Ansatzes zur Verstärkung der F&E für diese Krankheiten sein. Beispielsweise sollte massive Unterstützung zur Durchführung von Studien in diesen Ländern gewährleistet werden. Januar 2006 7

Referenzen / Quellen 1 World Health Report 2004 Weltgesundheitsorganisation, WHO, 2003, mit Zahlen für 2003. 2 Monitoring Financial Flows for Health Research 2004 Global Forum for Health. 3 IMS Health, Zahlen für 2004. 4 Drug Development for Neglected Diseases: a Deficient Market and a Public-Health Policy Failure Patrice Trouillier et al. 359 Lancet, 2188 (2002). [aktualisierte Zahlen von Chirac P, Torreele E, 2005, zur Veröffentlichung eingereicht]. 5 NIHCM 2002. 6 WHO 2003. 7 http://www.iprcommission.org/graphic/documents/final_report.htm. 8 [CIPRGPRI, 2005; und Jensen und Murray 2005]. 9 The New Landscape of Neglected Disease Drug Development LSE/Wellcome Trust, September 2005. 10 Fatal Imbalance: the Crisis in Research and Development for Drugs for Neglected Diseases. Médecins Sans Frontières/Drugs for Neglected Diseases Working Group, 2001 11 The New Landscape of Neglected Disease Drug Development LSE/Wellcome Trust, September 2005 12 The New Landscape of Neglected Disease Drug Development LSE/Wellcome Trust, September 2005 13 Recommendation of the WHO Commission on Macroeconomics and Health, 2001 14 The economics of TB drug development. Global Alliance for TB drug development 2001. http://www.tballiance.org/pdf/economics%20report%20full%20(final).pdf 15 The New Landscape of Neglected Disease Drug Development LSE/Wellcome Trust, September 2005 Medikamentenkampagne Campaign for Access to Essential Medicines Ärzte ohne Grenzen Januar 2006 Januar 2006 8