Hinterpommern - das gelobte Land der Kartoffelzüchtung

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Transkript:

Hinterpommern - das gelobte Land der Kartoffelzüchtung "KARTZ VON KAMEKE Streckenthin, der als genialer Pflanzenzüchter den traditionellen Rahmen seines Berufsstandes als Landwirt weit überschritt" ** Volker Janke Inhalt 1. Kurze Kulturgeschichte der Kartoffelzüchtung...21 1.1 Die Kartoffelzucht...23 2. Streckenthin der Wallfahrtsort für Kartoffelexperten im 20. Jahrhundert...23 2.1 Das Gut Streckenthin...24 2.2 Pflanzenzucht und Saatgutschutz...25 2.3 Vertreibung, Flucht und Neubeginn...25 3. Zusammenfassung...26 4. Literatur- und Quellenverzeichnis...26 Schloß Streckenthin (aus DADE 1913) 1. Kurze Kulturgeschichte der Kartoffelzüchtung Die Kartoffel (Solanum tuberosum L.) hat von der Nutzpflanze südamerikanischer Hochebenen bis zur europäischen Kulturpflanze ersten Ranges einen weiten Weg zurückgelegt1. Hier- **Deutsches Familienarchiv, 49/1972, Neustadt a.d. Aisch, S. 248f. 1 Vgl.: GRIES, W.: Geschichte der Kartoffelzüchtung, unveröffentl. Hausarbeit zum Diplomexamen, Halle 1955, S. 7 u. 8.; vgl. auch KOLBE, W.: Kulturgeschichte der Kartoffel und anderer Knollenfrüchte, Burscheid 1994. und Samensurium 12/2001 bei spielt die Pflanzenzüchtung eine besondere Rolle. Ohne die züchterischen Leistungen hätte sie nicht den heutigen Stellenwert in der menschlichen Ernährung, nicht die Ertragsleistung, nicht den Geschmack und nicht die Kochfähigkeit. Über 3000 verschiedene Kartoffelsorten machen die Kartoffel zu einem der wichtigsten Nahrungsmittel des Menschen. Als Heimat der wilden Kartoffel werden die peruanisch - bolivianischen Hochebenen mit bis ZIESSOW, K.-H.: Kolumbus spätes Erbe, in: Rund um die Knolle, Beiträge zur Geschichte und Zukunft der Kartoffel 1, Stuttgart 1994. - 21 -

zu 4000 Metern angenommen. Von hier verbreiteten sich die ersten Kulturformen bis nach Chile, von wo aus sie um 1560 über Spanien und gegen 1600 über England nach Europa gelangten. Obwohl die Kartoffel bereits 1587 im Deutschen Reich zu finden gewesen ist, bedurfte es doch Jahrhunderte, bis sie sich allgemein durchgesetzt hatte. Zu einer Zeit, da sie in anderen Ländern bereits feldmäßig angebaut wurde, blieb die Kartoffel in Deutschland als Sehenswürdigkeit in Botanischen oder als Gemüsepflanze in Küchengärten reicher Leute beschränkt" 2. In Folge des dreißigjährigen Krieges ist eine zögernde Ausbreitung der Kartoffel von Süddeutschland ausgehend in die nördlichen und östlichen Provinzen des Deutschen Reiches zu erkennen. Der Schwerpunkt des Kartoffelbaues war dann im 18. Jahrhundert in Preußen zu finden. Infolge der Kriege, Teuerungen und Not sowie mittels Gratisverteilungen von Saatkartoffeln und Kabinettsorder der preußischen Könige Friedrich Wilhelm I. und besonders Friedrich II., gelang um etwa 1770 der Durchbruch zum allgemeinen Nahrungsmittel" 3. In der Mitte des 18. Jahrhunderts war für die Kartoffel lediglich in den Gärten der Höfe und Bauernhäuser etwas Platz. Sie diente zur Ergänzung der einseitigen Ernährung mit Hülsenfrüchten oder Kohl. Die bauernfeindliche Politik der Zeit sorgte auch für einen allgemeinen Verfall der bäuerlichen Gartenkultur. Der Garten des leibeigenen Bauern oder der anderen unterbäuerlichen Schichten verwahrloste zum Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend. Warum sollte man Obstbäume pflanzen oder einen Garten pflegen, wenn die Zukunft in der unberechenbaren Hand der Herrschaft lag? Die zunehmende Last der Hand- und Spanndienste tat ihr übriges, um für die Gartenpflege keine Zeit zu lassen. Die Kartoffel hinterließ außerdem auf Grund der hohen Solanin-Gehalte noch einen kratzigen Geschmack und ein Brennen im Hals, was sie für die Ernährung nicht sehr beliebt machte. Der eigentliche Grund für die letztendliche Verbreitung der Kartoffelkultur und deren feldmäßigen Anbau ist allerdings woanders zu suchen. Die Aufhebung der Feldgemeinschaft und des Flurzwanges sowie die Aufgabe der 2 GRIES, W., S. 9. 3 KÖRBER-GROHNE, U.: Nutzpflanzen in Deutschland, Stuttgart 1994, S. 143. damit verbundenen Dreifelderwirtschaft ermöglichten erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Anbau der Kartoffel in größerem Maße. Bisher waren zwei Schläge dem Winter- bzw. Sommergetreide vorbehalten und auf dem dritten, also dem Bracheschlag, wurde oft Viehhaltung betrieben. Erst als man die Brache auch ackerbaulich für Hackfrüchte zu benutzen begann, wurde diese frei für Kartoffeln, Kohl oder Rüben. Insbesondere die Hungersnöte in Folge des siebenjährigen Krieges, die anhaltende schlechte Witterung der Jahre 1770/1771 und der daraus resultierende Getreidemangel trugen zur Ausweitung des Kartoffelanbaues bei. Ein allgemeiner Getreidemangel wurde auch durch die Revolution in Frankreich bewirkt. Das teuer gewordene Getreide wurde exportiert. Der Gewinn brachte insbesondere dem mecklenburgischen Landadel Reichtum und der ländlichen Bevölkerung Hunger. Neben der Verwendung als Tierfutter war die Kartoffel nun vor allem zum Brot des armen Mannes geworden. Die Dienstbauer- und Wirtschaftsordnung des Gutes Rövershagen vom 10. März 1767 gibt uns einen ersten Hinweis auf die herrschaftliche Förderung des Kartoffelbaues und dessen Verbreitung. Nach ihr sollte jeder Untertan... seinen Garten fleißig mit Kartoffeln, Kohl, Rüben, Wurzeln u. dgl. Bestellen... 4. Jedenfalls dort, wo die Bauern noch nicht gelegt, die Häuser der gelegten Bauern noch nicht abgebrochen und die Gärten zur Vergrößerung der Schläge und des Ackerlandes vereinnahmt wurden. In den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts erlangte die Kartoffel zunehmend wirtschaftliche Bedeutung. Es entwickelte sich allmählich ein Absatzmarkt für Kartoffeln, so dass WREDOW in seiner Oeconomisch technischen Flora Mecklenburgs im Jahre 1811 schrieb: Es ist fast unglaublich, welche ungeheure große Menge Kartoffeln in Mecklenburg angepflanzt wird, man sieht fast ebenso große Kartoffel- als Getreidefelder. Aber die meisten Menschen leben auch fast einzig und allein von Kartoffeln. Morgens, mittags und Abends. Selbst auf den Tischen der Vornehmen machen sie die Hauptspeise aus. 4 MAGER, F.: Geschichte des Bauerntums und der Bodenkultur im Lande Mecklenburg, Berlin 1955, S. 293. - 22 - Samensurium 12/2001

1.1 Die Kartoffelzucht Die ständige Reproduktion der Kartoffel aus sich selbst heraus - also mittels vegetativer Vermehrung durch das Teilen von Knollen - führte zu einer gewissen Degeneration der Sorten. Dieser Umstand ließ nicht nur die Erträge sinken, die Kartoffel wurde auch krankheitsanfälliger. Neue Sorten mußten her und dies durch gezielte Züchtung auf Grund generativer Vermehrung. Die Blütennarbe einer auf dem Felde ausgewählten besonders guten Staude wird mit dem Pollen einer ebenfalls besonders viel versprechenden Staude einer anderen Sorte bestäubt, nachdem vorher der Sortencharakter der zu kreuzenden Sorten aus den Zuchtbüchern festgestellt worden ist. Die im Herbst geernteten Kreuzungsbeeren werden in warmen Räumen so lange gelagert, bis das Fruchtfleisch weich wird und einen aromatischen Geruch bekommt. In diesem Zustand werden die Beeren zerdrückt, die Körper ausgewaschen und getrocknet, um über Winter in Papierbeuteln aufbewahrt zu werden. In der ersten Märzhälfte erfolgt sodann die Aussaat der Samen in Blumentöpfen, die im Warmhaus oder Mistbeet aufgestellt werden. Nach ca. 10 Tagen läuft der Same auf. Die jungen, dichtbehaarten Pflänzchen werden sodann nach weiteren 8-10 Tagen mit dem vierten Blatt zum ersten Mal in Kästen pikiert, um ca. vier Wochen später, sobald sie das siebente Blatt gebildet haben, in Frühbeete verpflanzt zu werden, die allmählich immer mehr gelüftet werden, um die Pflänzchen abzuhärten. Nach drei bis vier Wochen haben die Pflänzchen eine Höhe von 15-20 cm erreicht, weisen zuweilen beim Auspflanzen auf das Feld auch schon kleine Knöllchen an den Stollonen auf. In der Regel geschieht dieses Auspflanzen anschließend an das Pflanzen der übrigen Kartoffeln, selten jedoch vor dem 1. Juni und erfolgt in einem Reihenabstand von 60x60 cm. Im Herbst werden von vornherein alle Stauden mit nicht befriedigendem Ansatz ausgemerzt, und auch von den verbleibenden guten wird nur eine beschränkte Zahl mit besonders vielversprechendem Aussehen ausgewählt und staudenweise in Säckchen gefüllt, um über Winter im Keller aufbewahrt zu werden. Im nächsten Frühjahr wird jede Staude für sich getrennt ausgelegt und durch Staudenauslese mehrere Jahre weiter bearbeitet und geprüft" 5. Bis um 1840 war die Kartoffel, abgesehen von den degenerativen Erscheinungen, eine relativ sichere Kultur. 1842 trat in Amerika plötzlich die Phytophthora (Kraut- und Knollenfäule) epidemisch auf und verbreitete sich rasend, so dass es zwei Jahre später kein kartoffelbauendes Land gab, dass von der Krankheit verschont blieb. Extreme Hungersnöte in ganz Europa waren die Folge. In Deutschland verursachte die Kartoffelseuche den sogenannten Kohlrüben- bzw. Steckrübenwinter. Die Kartoffelernte des Jahres 1916 betrug auf Grund fehlender Düngemittel und Arbeitskräfte sowie durch die Kartoffelseuche lediglich 50% des Vorjahres. In der Mitte des 19. Jahrhunderts begann man nun mit der systematischen Züchtung von Kartoffeln und erfuhr bald erste Erfolge im Kampf gegen die Kartoffelkrankheit. Im Gegensatz zu anderen Gebieten Deutschlands fasste die Kartoffelzüchtung erst verhältnismäßig spät in den für die Erzeugung hochwertigen Pflanzgutes idealen Lagen Mecklenburgs und Pommerns Fuß. Eng verbunden mit den züchterischen Leistungen in der Ostsee- Region sind die Namen HERMANN LIENAU und KARTZ VON KAMEKE auf Streckenthin. 2. Streckenthin - der Wallfahrtsort für Kartoffelexperten im 20. Jahrhundert Die in Norddeutschland allgemein angebaute DABER'sche Kartoffel verschlechterte sich von Jahr zu Jahr. Sie war sehr krankheitsanfällig und brachte immer weniger Ertrag. Noch immer war es nicht gelungen, gegen die verheerende Kartoffelkrankheit ein Mittel zu finden oder eine resistente Sorte zu züchten. Zur Hebung des Kartoffelbaus wurde 1897 in Streckenthin durch den Rittmeister der Reserve KARTZ VON KAMEKE auf Streckenthin (1866-1942) eine Sortenprüfungsstation eingerichtet. In Streckenthin gab es für den Kartoffelbau besonders günstige Bedingungen wie durchlässi- 5 UEBERSCHÄR, K., Geschichte der Kartoffelzüchtung in Deutschland zugleich ein geschichtlicher Beitrag zur Sortenkunde, Berlin 1929, S. 55-56. Samensurium 12/2001-23 -

gen humosen Sand und maritimes Klima mit gleichmäßig feuchten Sommermonaten. Streckenthin im damaligen hinterpommerschen Regierungsbezirk von Stettin, gehörte bereits 1926 zu den größten Saatzuchtwirtschaften der Welt 6. Schon bald erkannte man den Wert der Region nicht nur für die Sortenprüfung sondern auch für die ganz gezielte Züchtung neuer Kartoffelsorten. Um 1900 wurde mit verschiedenen neueren Kartoffelkultursorten Vergleichsanbau betrieben. Bereits 1906 wurde die Prüfungsstation in eine Zuchtstation umgewandelt und es begann der eigentliche Zuchtbetrieb in Streckenthin. In diesem Jahr übernahm HERMANN LIENAU die Leitung der Kartoffelzucht auf Streckenthin. LIENAU, auch als Altmeister der Kartoffelzucht bezeichnet 7, wurde 1872 als Sohn eines Bauern in Nettlau geboren. Er erlernte den Beruf des Gärtners und unternahm bereits 1898 erste kartoffelzüchterische Versuche bei Graf ARNIM-SCHLAGENTHIN aus Nassenheide 8. LIENAU galt unter den damaligen Kartoffelzüchtern als As. Unter seiner Leitung wurden bis 1912 108 verschiedene Kreuzungen mit insgesamt 27.000 Kartoffelsämlingen vorgenommen. Das Zuchtziel beinhaltete, besonders bodenständige, dem Küstenklima und den rauhen nördlichen Lagen angepaßte Sorten zu schaffen. 1913 konnten die ersten eigenen Züchtungen mit den Namen 'Parnassia'und 'Deodora' der Kundschaft präsentiert werden. Für die Züchtung einer neuen Qualitätssorte werden in der Regel 10 Jahre veranschlagt. Hier gelang der Erfolg gleich beim ersten Wurf. 1917 verließ LIENAU Streckenthin und gründete mit SCHRÖDER-LISCHOW-VOGELSANG die Zuchtstätte Tilliberg in Mecklenburg. 2.1 Das Gut Streckenthin Die Stammgüter der Familie V. KAMEKE erstreckten sich damals über die Orte Thunow, Streckenthin und Geritz und umfassten ca. 1450 ha. Bis 1913 hat sich der Besitz nahezu auf 2150 ha verdoppelt. Davon waren 954 ha 6 BINSWANGER, E.: Biographie der v. Kameke schen Kartoffel-Sorten, o. O. 1926, S. 5. 7 Landwirtschaftliche Pflanzenzüchtung in Deutschland, Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter (Hg.), Bonn 1987, S. 256 f. 8 UEBERSCHÄR, K.: Geschichte der Kartoffelzüchtung in Deutschland zugleich ein geschichtlicher Beitrag zur Sortenkunde, Berlin 1929, S. 54. Acker, 765 ha Wald, 228 ha Wiesen, 173 ha Weiden und Moor, 18 ha Garten, 3 ha Wasser und 9 ha Wege. Die Fruchtfolge der 8 Schläge lautete 1. Roggen, 2. Roggen, 3. Kartoffeln, 4. Hafer, 5. Kartoffeln, 6. Hafer, 7. ½ Klee, ½ Blattfrucht, 8. ½ Brache, ½ Gründüngung. 1911 gehörten zum Gut ca. 200 Pferde, 600 Kühe, 850 Schweine, 1600 Schafe. Weiterhin gehörten der Familie seit 1901 die Redliner Mühlenwerke mit Kornmühle, Sägewerk, Bautischlerei, Zementwarenfabrikation und Spiritusbrennerei. Mühlenwerke Redlin, 1901 (aus DADE 1913) Von gleich hoher Bedeutung für die rentable Bewirtschaftung einer intensiven Begüterung ist ihre Ausrüstung mit tüchtigen Menschenkräften in leiblicher, geistiger und moralischer Tauglichkeit. Diese lebendigen Kräfte sind letzten Endes doch die Seele des ganzen Betriebes. Was nützen noch so gute maschinelle Einrichtungen, wenn sie nicht mit dem gehörigen Verständnis, nicht mit vollem Arbeitsernste bedient werden! Heutzutage freilich kann der Betriebsinhaber nicht mehr so nachhaltig auf seine mit ihm zum Ganzen zusammenwirkenden Arbeiter Einfluß nehmen, wie dies frühere Zeiten noch gestatteten. Die ländlichen Arbeiter haben größere Freiheiten erhalten, sie kehren leider häufig dem gesunden ländlichen Heimatsboden den Rücken, um schließlich im Ruße großstädtischer Fabrikschlote Einbuße an der Lebensfreudigkeit zu erleiden, die ihre Seele bei Arbeiten auf freiem Felde und in Waldesfrische erfüllte" 9. 1902 engagierte sich KARTZ V. KAMEKE bei der Elektrifizierung der Provinz Pommern. Das von ihm 1905 errichtete, durch Wasserkraft betriebene Redliner Elektrizitätswerk war das erste 9 DADE, H. G.: Die Landwirtschaft unter Kaiser Wilhelm II. 1. Bd., Halle 1913, S. 129. - 24 - Samensurium 12/2001

östlich der Oder und produziert noch heute Energie mit den alten Turbinen von AEG und Siemens. 1912 errichtete von Kameke eine Talsperre zur Stromerzeugung. Brennerei Thunow (aus DADE 1913) Die größte Bekanntheit hat KARTZ VON KAMEKE allerdings durch sein züchterische Tätigkeit und seine Mitarbeit in den unterschiedlichsten landwirtschaftlichen Gremien zur Kartoffelzucht erlangt. So heißt es in einem Artikel zum 60. Geburtstag des Sohnes DOBIMAR V. KAMEKE, Nobles oblige! Getreu dem edelsten Wahlspruch seines Standes als fürsorglicher Gutsherr zahlreicher Mitarbeiter hatte der Vater des heutigen Jubilars, Herr Kartz von Kameke, zum Ende des vorherigen Jahrhunderts mit der züchterischen Verbesserung mehrerer Ackerfrüchte begonnen, um seiner Verpflichtung zu höheren Leistungen auch im landwirtschaftlichen Bereich gerecht zu werden" 10. 2.2 Pflanzenzucht und Saatgutschutz KARTZ VON KAMEKE kämpfte entschieden für die Saatanerkennung von Kartoffeln durch die Originalsaatgutkommission. So gehörte er 1915 zu den Gründungsmitgliedern der Pommerschen Saatzucht GmbH (PSG) und war in den 1920er Jahren Gründungsmitglied und Vorsitzender des Verband der Originalkartoffelzüchter (VOK) 11. Ein Grundgedanke des 10 FRIEBE, P.: Bedeutung der Pflanzenzucht für die Ernährung., in: Der Kartoffelbau, 21. Jg., Nr. 4, 1970, S. 106. 11 Deutsches Familienarchiv, 49/ 1972, Neustadt a.d. Aisch, S. 200. Verbandes war der sogenannte Erfinderschutz für Kartoffelsorten, ähnlich der Patentierung einer Entdeckung. Die Grundgedanken, die zur Gründung des Verbandes führten, waren Hauptbestandteil des 1953 erlassenen, ersten Saatgutgesetzes der Welt. Weiterhin war KAMEKE Mitarbeiter im Ausschuß der Saatzuchtabteilung der D.L.G., im Vorstand der Gesellschaft zur Förderung Deutscher Pflanzenzucht (G.F.P.) und Vorsitzender der Originalkartoffelzuchtabteilung der G.F.P. Die größte Leistung KARTZ VON KAMEKEs jedoch war die Zucht der Kartoffelsorte 'Parnassia'. Mit einer besonders hohen Krautfäuleresistenz und einer extremen Stärkehaltigkeit ausgestattet nahm diese Sorte später 30% der Kartoffelanbaufläche in Deutschland ein. Die Zuchterfolge V. KAMEKEs verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in der Fachwelt. Bis 1930 hatten sich alle großen deutschen Kartoffelzuchtbetriebe mit Zuchtstationen in Hinterpommern mit Streckenthin als Mittelpunkt angesiedelt. Auf Grund der zahlreichen Existenzgründungen wurde Hinterpommern somit zum Zentrum der Pflanzkartoffelzucht für das 3. Reich. 2.3 Vertreibung, Flucht und Neubeginn Von 1936 bis 1945 war DOBIMAR V. KAMEKE der Leiter der Saatzucht in Streckenthin. Am 20. Juli 1944 wurde DOBIMAR VON KAMEKE von Russischen Truppen in Gefangenschaft genommen. Er und seine Mitarbeiter hatten keine Möglichkeit, die wertvolle Kartoffelsammlung oder das Saatgut zur weiteren Zucht in Sicherheit zu bringen. Ein eilig gepackter Rucksack mit Samen, der den Neuanfang sichern sollte ist auf der Flucht verloren gegangen. Samensurium 12/2001-25 -

Durch den Zusammenbruch (1945 d.a.) war der Anteil seiner Züchtungen in Westdeutschland auf 0,5% der Vermehrungsfläche zusammengeschrumpft. Der gesamte Zuchtaufbau aller im Handel befindlichen Sorten, die Zuchtakten, 98,5 % des neuen Zuchtmaterials und der gesamte Samenbestand waren verloren" 12. So mußte DOBIMAR V. KAMEKE als Hofpächter in Schleswig-Holstein vollständig von vorne anfangen. Einziger KAMEKE'scher Grundbesitz blieb das Moorgut Kartzfehn bei Oldenburg, welches 1929 noch von K. V. KAMEKE erworben und kultiviert wurde. Mit seinem Wissen um die Kartoffelzucht fand D.V. KAMEKE in Windeby bei Eckernförde ein Gut mit einer ähnlichen Gesundlage wie in Streckenthin. Die in Hinterpommern zerschlagene Pflanzkartoffelzucht und Produktion mußte für Deutschland neu aufgebaut werden. Viele der ebenfalls vertriebenen Mitarbeiter haben sich nach der Flucht bei den V. KAMEKEs wieder eingefunden. Anfang der 50er Jahre waren die ersten Erfolge zu verzeichnen, und 1957 konnten die ersten zwei Sorten am Markt plaziert werden. DOBIMAR V. KAMEKE arbeitete entschieden an der Idee seines Vaters, ein Saatgutgesetz zum Schutz von Pflanzenzüchtungen zu erlassen, weiter. Am 27. Juni 1953 wurde das Gesetz über Sortenschutz und Saatgut von Kulturpflanzen erlassen 13 und hat noch heute Gültigkeit. Schließlich beschloß DOBIMAR VON KAMEKE für seinen Sohn KARTZ VON KAMEKE: Wir werden Landwirtschaft studieren. Dies lag den Ambitionen des jüngsten Sprosses allerdings fern. Der Familientradition nicht besonders verpflichtet, wollte er lieber Architektur studieren. Allerdings einigte man sich schnell auf ein Biologiestudium. Mit einem anschließenden Agrarbiologiestudium erlangte Kartz v. Kameke die Fähigkeiten eines Züchters und übernahm die Leitung des Unternehmens. Heute exportiert die Firma Sara in Windeby in ca. 40 Länder. Gemeinsam mit der SaKa-Ragis 12 FRIEBE, P.: Bedeutung der Pflanzenzucht für die Ernährung., in: Der Kartoffelbau, 21. Jg., Nr. 4, 1970, S. 106. 13 Das Saatgutgesetz, Gesetz über Sortenschutz und Saatgut von Kulturpflanzen vom 27. Juni 1953, Hannover 1953. Pflanzenzucht GbR halten sie ca. 20% des deutschen Marktes. Seit drei Jahren ist KARTZ V. KAMEKE Vorsitzender des Bundesverbandes deutscher Pflanzenzüchter mit Sitz in Bonn. Die Fortführung von Ideen, die vor nahezu 100 Jahren geboren wurden, liegt in seinen Händen. 3. Zusammenfassung KARTZ VON KAMEKE ist es gelungen, Anfang des 20. Jahrhunderts in der relativ strukturschwachen Region Hinterpommern einen Weg aus einer allgemeinen Krise der Landwirtschaft aufzuzeigen. Neben dem traditionellen Getreidebau und der Viehzucht war es V. KAMEKE möglich, mit dem Kartoffelbau und der Kartoffelzucht eine neue Spezialisierungsrichtung für die Agrarproduktion der Zeit zu etablieren. Unter Hinzuziehung von hochqualifiziertem Fachpersonal und unter Berücksichtigung der neuesten Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung gelang somit auf Streckenthin ein Modernisierungsprozeß mit Modellcharakter für das gesamte Deutsche Reich. Die KAMEKE-Sorten 'Parnassia' (1913), 'Deodora' (1913), 'Hindenburg' (1916) und 'Carnea'(1938) werden seit dem Frühjahr 2001 im Mecklenburgischen Volkskundemuseum- Freilichtmuseum-Mueß mit Erfolg angebaut. Entsprechendes Vermehrungsmaterial von 10 weiteren 10 KAMEKE-Sorten steht in der Genbank Außenstelle Nord in Groß Lüsewitz zur Verfügung. 4. Literatur- und Quellenverzeichnis BINSWANGER, E.: Biographie der v. Kameke schen Kartoffel-Sorten, o. O. 1926 Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter (Hg.): Landwirtschaftliche Pflanzenzüchtung in Deutschland, Bonn 1987 DADE, H. G.: Die Landwirtschaft unter Kaiser Wilhelm II., 1. Bd., Halle 1913 Das Saatgutgesetz, Gesetz über Sortenschutz und Saatgut von Kulturpflanzen vom 27. Juni 1953, Hannover 1953 Deutsches Familienarchiv, 49/ 1972, Neustadt a.d. Aisch FRIEBE, P.: Bedeutung der Pflanzenzucht für die Ernährung., in: Der Kartoffelbau, 21. Jg., Nr. 4, 1970, S. 105-108 GRIES, W.: Geschichte der Kartoffelzüchtung, unveröffentl. Hausarbeit zum Diplomexamen, Halle 1955-26 - Samensurium 12/2001

KOLBE, W.: Kulturgeschichte der Kartoffel und anderer Knollenfrüchte, Burscheid 1994 KÖRBER-GROHNE, U.: Nutzpflanzen in Deutschland, Stuttgart 1994, S. 143 MAGER, F.: Geschichte des Bauerntums und der Bodenkultur im Lande Mecklenburg, Berlin 1955 OBERSTEIN, OTTO: Beitrag zur Phylogenie unserer Kartoffelsorten, Breslau o.j. UEBERSCHÄR, K.: Geschichte der Kartoffelzüchtung in Deutschland zugleich ein geschichtlicher Beitrag zur Sortenkunde, Berlin 1929 ZIESSOW, K.-H.: Kolumbus spätes Erbe. - In: Rund um die Knolle, Beiträge zur Geschichte und Zukunft der Kartoffel 1, Stuttgart 1994 Volker Janke Obotritenring 55 19053 Schwerin Samensurium 12/2001-27 -