Prompt Global Strike Eine neue US-Strategie nimmt Gestalt an

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Transkript:

Nr. 31/2006 August 2006 Prompt Global Strike Eine neue US-Strategie nimmt Gestalt an von Karl-Heinz Kamp Ende September 2006 soll in den USA eine neue militärische Kommandobehörde mit dem kryptischen Titel Joint Functional Component Command for Space and Global Strike voll einsatzbereit werden. Darüber hinaus gab das Pentagon vor Monaten bekannt, dass einige der auf amerikanischen Atom-U-Booten stationierten Trident- Raketen mit konventionellen statt mit nuklearen Sprengköpfen ausgestattet werden sollen. Diese scheinbar rein innermilitärischen oder technischen Entscheidungen von geringer politischer Bedeutung erweisen sich bei näherer Betrachtung als Belege für die seit Jahren laufende grundlegende Umgestaltung der amerikanischen Nuklearstrategie. Statt wie in der Vergangenheit einen Angriff auf die USA nachträglich nuklear zu bestrafen, soll dieser künftig vorbeugend durch die Zerstörung der Angriffsmittel mit Hilfe konventioneller Waffen verhindert werden. Kern der strategischen Neuorientierung bildet das Konzept der Prompt Global Strikes, dessen Maßgabe es ist, weltweit nahezu jedes Ziel innerhalb kürzester Zeit zerstören zu können. Was sind die Ursachen und Folgen dieses in Europa kaum wahrgenommenen Strategiewechsels? Welche Probleme können sich ergeben und wo gibt es transatlantischen Beratungsbedarf? Inhalt 1. Hintergründe der Prompt Global Strikes Seite 2 2. Aktuelle Entwicklungen und Probleme Seite 3 3. Schlussfolgerungen Seite 5 5. Ansprechpartner in der Konrad-Adenauer-Stiftung Seite 5

Analysen und Argumente der Konrad-Adenauer-Stiftung 31/2006 Seite 2 1. Hintergründe der Prompt Global Strikes Bereits lange vor den Terroranschlägen des 11. September 2001 war für amerikanische Strategen offensichtlich geworden, dass die auf der wechselseitig gesicherten Zerstörung beruhende Idee der nuklearen Abschreckung des Kalten Krieges mit dem Ende des Ost-West Gegensatzes an Glaubwürdigkeit verloren hatte. Statt eines vermeintlich berechenbaren Gegenübers würde man es in der Zukunft mit einer Vielzahl unkalkulierbarer Gegner - sowohl Staaten, als auch nicht-staatliche Akteure - zu tun haben. In einigen Fällen würde man sich weiter auf die klassische Abschreckungsdrohung stützen können. Andere Bedrohungen, wie etwa die nach dem 11. September offensichtlich gewordene Gefahr durch islamistische Selbstmordattentäter, erfordern grundlegend andere Strategien der militärischen Sicherheitsvorsorge. Gegenüber verantwortungslosen Regimen, nicht-staatlichen Gruppierungen oder Dschihad-Terroristen kann eine nukleare Vergeltungsdrohung kaum glaubwürdig sein, da viele dieser Akteure den eigenen Tod als Konsequenz ihres Handelns bewusst einkalkulieren. Die USA reagierten auf diese Veränderungen der Bedrohungslage in zweifacher Weise. Zum einen wurde im Gegensatz zu dem populären Vorwurf, die Bush- Administration wolle vor allem neue Kernwaffen entwickeln seit dem Jahr 2001 die Rolle von Nuklearwaffen in der amerikanischen Sicherheitspolitik kontinuierlich verringert. Einsätze, die in der Vergangenheit Kernwaffen vorbehalten waren, sollten künftig mit konventionellen Mitteln durchgeführt werden. Zum anderen wurde ebenfalls 2001 die Idee der Prompt Global Strikes geboren und seither schrittweise in die Tat umgesetzt. Ziel dieses Konzeptes ist es, innerhalb kürzester Zeit (Minuten bis wenige Stunden) nahezu jedes Ziel auf dem Globus zerstören zu können. Angriffsziele wären Produktionsanlagen für Massenvernichtungswaffen, Raketenbasen, Führungseinrichtungen oder Ausbildungslager von Terroristen. Konzeptionell bedeutet dies eine Veränderung der Abschreckungslogik des Kalten Krieges, in der sich der Abschreckungseffekt vor allem aus der Androhung unakzeptabler Schäden durch nukleare Zerstörung ergab: die Gefahr der atomaren Vergeltung sollte das Risikokalkül eines (rational abwägenden) Aggressors beeinflussen und ihn von einem Angriff abhalten. Künftig soll Gegnern, deren Pläne kaum durch eine Vergeltungsdrohung beeinflusst werden können, die Möglichkeit eines Angriffs durch die frühzeitige Zerstörung ihrer militärischen Mittel genommen werden. Die Option der nuklearen Vergeltung bleibt erhalten, wird aber durch das Element der offensiven Vereitelung mit Hilfe konventioneller Waffen ergänzt. Gemäß der amerikanischen Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002, in der die Notwendigkeit von Preemptive Strikes betont wurde, kann eine solche Vereitelung auch vorbeugend erfolgen. Die Anforderungen an einen derartigen Strategiewechsel von der Defensive zur Offensive sind extrem ambitioniert. Erforderlich sind nicht nur die entsprechenden Waffensysteme, die weltweit in kürzester Zeit einsetzbar sind und auch gehärtete oder tief verbunkerte Ziele zerstören können. Vor allem bedarf es der entsprechen-

Analysen und Argumente der Konrad-Adenauer-Stiftung 31/2006 Seite 3 den Aufklärungskapazitäten ( Intelligence ), um auch unterirdische Waffenlabors oder mobile Abschussrampen zuverlässig und in Echtzeit lokalisieren zu können. Darüber hinaus müssen neben zuverlässigen Angaben über die militärischen Kapazitäten des Gegners auch belastbare Aussagen über seine Absichten und Ziele gewonnen werden können. Die drastischen Fehleinschätzungen westlicher Geheimdienste vor dem Irak-Krieg zeigen die Dimension der Herausforderung. Amerikanische Militärplaner sind sich der Größe der Aufgabe durchaus bewusst und sehen für die Vervollkommnung des Konzeptes einen recht langen Zeitraum bis zum Jahr 2025 vor. Die politische Unterstützung für die Prompt Global Strikes ist bemerkenswert hoch: der amerikanische Kongress hat das Projekt ungeachtet der hohen Anforderungen und der damit verbundenen Kosten im Jahr 2003 mit einer sehr deutlichen Mehrheit unterstützt. 2. Aktuelle Entwicklungen und Probleme Anfangs wurden die Mittel der U.S.-Luftwaffe Stealth-Flugzeuge, B1- und B2- Bomber, Cruise Missiles oder unbemannte Flugkörper als vordringlich für die Realisierung der Prompt Global Strikes betrachtet. Allerdings sehen sich die amerikanischen Luftstreitkräfte zunehmenden Problemen gegenüber. Ein weltweites Netz von Basen, um mögliche Ziele rasch erreichen zu können, ist überaus kostspielig. Auch sinkt die Bereitschaft in vielen Regionen, amerikanischen Streitkräften Stationierungsorte zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus kann sich Washington immer weniger sicher sein, im Einsatzfall überall die notwendigen Überflugrechte eingeräumt zu bekommen. Im Februar 2006 beantragte das Pentagon deshalb die erforderlichen Finanzmittel, um einige der auf amerikanischen Unterseebooten stationierten Trident-Raketen von atomaren auf konventionelle Sprengköpfe umzurüsten. In den kommenden Jahren sollen insgesamt zwölf U-Boote mit jeweils zwei konventionellen Tridents ausgestattet werden. Bis 2010 soll dieser Prozess mit der so genannten Full Operational Capability abgeschlossen sein. In den Folgejahren soll etwa ein Drittel aller auf See stationierten Atomwaffen auf konventionelle Sprengköpfe umgerüstet werden. Diese Maßnahme stärkt einerseits das Konzept der Prompt Global Strikes und entspricht andererseits dem Trend, einst nuklear geplante Optionen künftig mit konventionellen Waffen durchzuführen. Kritiker werfen allerdings ein, dass eine Vermischung konventioneller und nuklearer Waffen die Gefahr von Missverständnissen und damit die des Atomkriegs aus Versehen erhöhen könnte. Wenn eine Trident-Rakete gezündet würde, um etwa eine Raketenstellung in Nordkorea oder ein Waffenlabor im Iran anzugreifen, so wäre für die Frühwarn-Einheiten Russlands oder Chinas nicht sogleich erkennbar, ob es sich um den Start einer atomaren oder konventionellen Waffe handelt. Da eine solche Frühwarnung sofort an die politischen Führungen in Moskau oder Peking weitergegeben würde, müsste dort innerhalb von Minuten entschieden werden, ob man sich einem atomaren Angriff mit einer Interkontinentalrakete ausgesetzt sieht, oder nicht. Zwar sind die russischen oder chinesischen Verfahren in einem solchen Fall nicht

Analysen und Argumente der Konrad-Adenauer-Stiftung 31/2006 Seite 4 genau bekannt. In den USA standen aber dem Nationalen Sicherheitsberater in der Vergangenheit nur drei Minuten zu, um einen Alarm zu verifizieren. Der Präsident hätte weitere vier Minuten zur Verfügung gehabt, um über die Art der Reaktion auf den wirklichen oder vermeintlichen Angriff zu entscheiden. Bei einer unglücklichen Verkettung von Umständen könnte so die Warnung der Kritiker ein atomarer Gegenschlag mit nicht abschätzbaren Konsequenzen befohlen werden, bevor sich das eigentliche Ziel des Einsatzes herausstellt. Im Januar 1995 gab es bereits eine ähnliche Situation, als eine von den USA von einer norwegischen Insel abgeschossene Forschungsrakete in den russischen Kontrollzentren einen Raketenalarm auslöste. Es dauerte einige Minuten, bis aufgrund der erkennbaren Flugbahn Entwarnung gegeben werden konnte. Das Pentagon nimmt diese Warnungen nach eigenem Bekunden sehr ernst, sieht aber die Gefahr der Fehlkalkulation als beherrschbar an. So gäbe es eine gesicherte Notfall-Kommunikation mit Russland oder China, durch die Missverständnisse ausgeräumt werden könnten. Auch gäbe es seit langem die Praxis der gegenseitigen Information über geplante oder unmittelbar bevorstehende Raketenstarts. Man verweist darauf, dass es seit 1968 also auch während der Hochzeit des Kalten Krieges insgesamt 433 angekündigte amerikanische Raketenstarts zu Land oder auf See zu Testzwecken gegeben habe. In keinem einzigen Fall sei es zu Missverständnissen in Moskau oder Peking gekommen. Ohnehin sei Russland das einzige Land, das über die Fähigkeit zur Früherkennung von Raketenstarts verfüge und entsprechend informiert werde. Auch seien russische Experten sehr wohl in der Lage, aus der Flugbahn der Rakete ihren Einschlagsort zu berechnen und damit einen Angriff auf das eigene Land frühzeitig auszuschließen. Ein weiteres Problem einer Bewaffnung von Raketen interkontinentaler Reichweite mit konventionellen Sprengköpfen zeigt sich von ganz unerwarteter Seite. Der Iran treibt die Entwicklung weit reichender ballistischer Raketen sehr engagiert voran. Europa und die USA vertreten häufig die Position, dass ein solches Raketenprogramm großer Reichweite ein Beleg dafür sei, dass die nuklearen Aktivitäten des Iran letztlich auf die Entwicklung von Atomwaffen zielen und nicht auf die Erzeugung ziviler Kernenergie. Weitreichende Raketen, so wird argumentiert, sind technisch aufwendig und überaus teuer, weil sie in ihrer ballistischen Flugbahn die Erdatmosphäre verlassen und wieder eintreten müssen. Es sei deshalb schlicht unökonomisch, eine konventionelle Rakete über tausende von Kilometern fliegen zu lassen, um im Ziel nur eine relativ begrenzte Wirkung entfachen zu können. Deshalb so wird gefolgert könne es letztlich nur darum gehen, weit reichende Raketen atomar zu bestücken, um eine politische und strategische Wirkung zu erzielen, die den Aufwand der Entwicklungsarbeit rechtfertigt. Wird diese eigentlich schlüssige Argumentation in der Öffentlichkeit vertreten, um die wahren iranischen Ambitionen aufzudecken, so ist offensichtlich, dass ein Bewaffnung amerikanischer Interkontinentalraketen mit konventionellen Sprengköpfen genau diesem Argument entgegensteht. Man kann zwar darauf verweisen, dass sich aufgrund der wesentlich größeren Effizienz amerikanischer konventioneller Waffen (Zielgenauigkeit, Sprengwirkung) ein Vergleich mit iranischen Entwicklungen verbietet, Die Öffentlichkeit wird solche komplizierten Argumente aber kaum nachvollziehen

Analysen und Argumente der Konrad-Adenauer-Stiftung 31/2006 Seite 5 wollen: wenn die USA konventionelle Langstreckenraketen haben können, dann werden auch iranische Langstreckenraketen kaum noch als Indiz für die nuklearen Ambitionen des Iran akzeptiert werden (zumal Teheran entsprechend öffentlich argumentieren dürfte). Allein aus diesen beiden Punkten wird deutlich, dass die Idee der Prompt Global Strikes noch konzeptionelle Schwächen aufweist, die auf dem Wege ihrer kompletten Umsetzung noch behoben werden müssen. Ebenfalls wird offensichtlich, dass die Konsequenzen dieses Strategiewechsels weit über die USA hinausgehen. 4. Schlussfolgerungen Angesichts der Nuklearkrise im Iran oder der atomaren Ambitionen Nordkoreas sind Kernwaffen wieder stärker in den Focus der öffentlichen Aufmerksamkeit geraten. Während sich Nukleardebatten in Europa aber häufig auf die Feststellung beschränken, dass die Idee der nuklearen Abschreckung an Glaubwürdigkeit verloren habe und dringend einer Anpassung an die neuen Realitäten des 21. Jahrhunderts bedarf, ist dieser Anpassungsprozess in den USA schon seit längerem im Gange. Von Europa weitgehend unbemerkt verändern die Vereinigten Staaten ihre nuklearen Strategien und die damit verbundenen Waffenarsenale grundlegend. Da auch in der Vergangenheit alle strategischen Neuausrichtungen der Bündnisvormacht USA früher oder später auch erhebliche Auswirkungen auf die europäischen Bündnispartner hatten, sollten diese Entwicklungen in Europa nicht weiter ignoriert werden. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben gerade im Nuklearbereich gezeigt, dass die USA bereit sind, strategische Vorstellungen und Bedenken der Europäer in ihr Kalkül einzubeziehen, sofern sie schlüssig formuliert werden. Da sich nach wie vor im Rahmen der NATO amerikanische Kernwaffen auf europäischem Boden befinden, kommen die Bündnispartner gar nicht umhin, ihre Vorstellungen von der Rolle von Kernwaffen zu artikulieren. Das gilt auch und insbesondere für Deutschland als einer der großen NATO-Partner und Stationierungsort für Teile des NATO- Nuklearpotentials. Ihr Ansprechpartner in der Konrad-Adenauer-Stiftung Hauptabteilung Politik und Beratung: Dr. Karl-Heinz Kamp Leiter Arbeitsgruppe Außenpolitik Konrad-Adenauer-Stiftung e.v. Klingelhöferstraße 23 10907 Berlin E-Mail: karl-heinz.kamp@kas.de Telefon: +49 30 26996-3510