SWR2 Musikstunde mit Wolfgang Molkow Wie sich die Bilder gleichen Musik und Malerei (3) Zwei Klavierzyklen: Bilder einer Ausstellung, Goyescas Sendung: Redaktion: Mittwoch 20. Januar 2010, 9.05 10.00 Uhr Ulla Zierau M a n u s k r i p t Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Einen Mitschnitt dieser Sendung können Sie bestellen unter der Telefonnummer 07221 / 929-6030
2 SWR 2 Musikstunde mit Wolfgang Molkow 20.01.2010 WIE SICH DIE BILDER GLEICHEN Musik und Malerei (3) Zwei Klavierzyklen: Bilder einer Ausstellung, Goyescas Auf zu neuen Ufern! Furchtlos durch Stürme, Untiefen und Riffe auf zu neuen Ufern! Diese Maxime stammt von einem wahren Erneuerer und Feind jeglicher Konvention: Modest Mussorgsky. Um 1870 genügen dem kühnsten Mitglied des Mächtigen Häufleins die reinen Musikerkreise nicht mehr; Mussorgsky wendet sich liberal gesinnten Künstlergruppen zu und findet sie bei den Malern und Literaten: Werschtschagin, Antokolsky, Ropet, Victor Hartmann und vor allem Ilja Repin, Russlands bedeutenstem Maler. Mussorgskys Begeisterung für Repin, der später das berühmte Porträt im Morgenmantel malt, beruht auf Gegenseitigkeit, denn der Maler erkennt im Meister des Boris das Genie, das ihm von seinen Musikerkollegen nur spärlich zuerkannt wurde. An Repin schreibt Mussorgsky angesichts eines Porträts des Freundes Stassow darüber, dass die Musiker anscheinend entgegen den Malern im Regelkanon stecken bleiben: Stassow kommt aus der Leinwand heraus, mitten in den Raum, er ist von großartiger Lebendigkeit! Der Maler versteht es längst, Farben zu mischen, und handelt nach freiem Ermessen, falls Gott ihm Verstand verlieh; unser Bruder Musikus aber tüftelt und nimmt Maß, und hat er Maß genommen, fängt er von neuem an zu tüfteln die reinste Kinderei! Und dann ist es doch merkwürdig, dass man sich mit jungen Malern und Bildhauern so gut über ihre Gedanken und Ziele unterhalten kann und nur selten von ihrer Technik die Rede ist, während unter uns Musikern nur von Technik und dem musikalischen Alphabet wie in der Schule geredet wird. Ist das musikalische Leben so unreif, weil es von geistig Minderbemittelten abhängt? Musik 1 Tuillerien Alexander Warenberg Brilliant Classics DDD 93297 LC 09421 1 31 Promenade und spielende Kinder bei den Tuillerien mit dem gebürtigen Petersburger Pianisten Alexander Warenberg. Zurück zu Mussorgsky: Bei seinen aufrüherischen Ansichten gegen die eigene Innung Rimsky-Korsakov nennt sie vom Größenwahn diktiert ist es kein Wunder, dass Mussorgsky sich auch unmittelbar anregen lässt von der Nachbarkunst und ausholt zu seinem zentralen Klavierwerk. Der Tod des engen Freundes Victor Hartmann und die Ausstellung, die Stassow dem Andenken des deutsch-russischen Malers widmet, geben den endgültigen Anstoß für die Bilder einer Ausstellung. Er arbeitet,
3 wie er selbst schreibt, mit Volldampf an den Bildern die Gedanken schwirren nur so in der Luft; ich schlucke sie mit Heißhunger und finde kaum Zeit, sie aufs Papier zu kritzeln. Dabei ist es interessant festzustellen, dass Mussorgsky nicht etwa die bedeutenderen, in sich vollkommenen Gemälde eines Repin vertont, sondern Entwürfe, Zeichnungen und Skizzen des Architekten Hartmann, die in sich teilweise noch unfertig und für andere Zwecke bestimmt auf die Vollendung durch die andere Kunst warten. Von den 400 Exponaten des reisenden Künstlers wählt Mussorgsky Aquarelle und Zeichnungen aus und setzt auf den internationalen Charakter der Bildobjekte, wie die verschiedensprachigen Titel verraten: Tuilleries, Il vecchio castello, Samuel Goldenberg und Schmuyle, Catacombae: Sepulcrum Romanum. Musik 2 Bilder einer Ausstellung Bydlo Promenade Tanz der Küchlein MOO27228 W02 011,012,013 Jewgenij Kissin 4 58 Der Bydlo, die Promenade und der Tanz der Küchlein in den Eierschalen mit dem jungen russischen Pianisten Jewgenij Kissin. In unserer heutigen Musikstunde stehen also Klavierzyklen im Zentrum, die ihren Ursprung der Malerei verdanken, wobei Mussorgskys programm schon in seinem Titel liegt: die Eindrücke einer Ausstellung. Den vehementen Ausdruckskünstler und Dramatiker Mussorgsky fasziniert dabei weniger die malerische Ausgestaltung der einzelnen Bilder, sondern ihre theatralische Umsetzung in tönende Gesten, hingetupfte Impressionen und grelle Kontraste. Das denkbar Konträre und Disparate seiner Objekte bindet er dabei mühelos durch die marschierend-meditierende Promenade zusammen: er nimmt seinen Bildhörer im Gleitflug mit von der Sprunggroteske des Gnomus in die Gis-moll-Abgeschiedenheit des alten Schlosses, von den verspielten Tuillerien zum dumpf rumpelnden Bydlo, und führt ihn aus dem vitalen Marktgeschnatter von Lomoges unmittelbar ins Grabes-dunkel der Katakomben. Leben und Tod prallen hier schroff aufeinander und verbinden sich doch durch die brillante Tonkaskade der Überleitung zu einem ästhetischen Ganzen: Musik 3 Bilder einer Ausstellung Der Marktplatz von Limoges /Catacombae/ Con Mortuis in Lingua mortua Symph. Orch.USSR/Fedoseyev MEL 46018-2 LC 7256 LC 7256 5 44 Der Marktplatz von Limoges und die Katakomben in der Orchesterfassung von Maurice Ravel mit dem Sinfonieorchester der USSR RTV unter Vladimir Fedojesev. Auf die mannigfaltigen Orchestrierungen dieses den traditionellen Klaviersatz sprengenden Zyklus kommen wir noch kurz zu sprechen. Die
4 Kühnheit der Mussorgskyschen Bilder schreit aber nicht nur nach Instrumentation, sondern ihre oben bereits erwähnten Hell/Dunkel-Kontraste verlangen nach Stilkopien und Nachbildung. In den Klavierpreludes von Claude Debussy schimmert immer wieder die farbige Welt der Bilder einer Ausstellung auf. Ein Stück wie die Cathedrale engloutie nimmt sich das Glockenpathos des Mussorgskyschen Kreml sowie des großen Tores von Kiew unmittelbar zum Vorbild. Noch stärker beeinflussen lässt sich Ottorino Respighi, der sich vom Meister der Orchesterpalette Rimsky-Korsakov schulen lässt. Als eigentliche Frucht der russischen Unterweisung im Orchestersatz muß man Respighis Tondichtung Pini di Roma ansehen. Die atemberaubende Fähigkeit, orchestral zu erzählen, zu raunen, zu schmettern, gegensätzliche Stimmungen, Licht-und Farbwechsel zu entwerfen, wäre wohl kaum denkbar ohne Rimsky und Mussorgsky. Ein unmittelbares Mussorgsky-Modell bildet der rasante Übergang des eben gehörten Limoges-Bildes in die düstere Stille der Katakombenakkorde. Respighi bringt die von Mussorgsky ins Russische verpflanzte römische Katakombe an ihren Ursprungsort zurück. S e i n Übergang vom 1. zum 2. Pinien-Bild illustriert den Kinderlärm der Villa Borghese-Gärten eine Reverenz übrigens vor den Tuillerien Mussorgskys - Kinderlärm, der sich jäh bricht an der düster-archaischen Grabesstille der Katakombe. Musik 4 Ottorino Respighi Pini di Roma Nr.1/Nr.2 San Francisco Symph./Edo de Waart Philips 468 176-2 LC 0305 2 56 Die Pini presso una catacomba mit vorausgehendem Kindertrompetenstil von Ottorino Respighi. Es spielte die San Francisco Symphony unter Edo de Waart. Der Werke, die Mussorgskys genialem Klavierzyklus stilistisch nachfolgen, wäre noch vielfach zu gedenken. Da ist zum Beispiel Paul Hindemiths 1. Klaviersonate, die sogenannte Main- Sonate, die den marschartigen Promenadengestus samt Quartmotiv übernimmt und sogar die Mussorgskyschen Varianten nachempfindet.. Wie markant überdies die Grenzüberschreitung des Werkes von Seiten der expressionistischen Malerei gesehen wurde, zeigt die Reaktion eines Wassily Kandinsky. Für seine Inszenierung der `Bilder einer Ausstellung", dem einzigen je realisierten Bühnenstück des Malers und Kunsttheoretikers, schuf Kandinsky insgesamt 16 szenische
5 Bilder, deren abstrakte Elemente mechanisch auf der Bühne bewegt wurden. Dazu gehörten die in Blau, Weiß und Rot gehaltenen Kreise und Rechtecke der "Promenade. Nun zu den Fassungen der Bilder einer Ausstellung. Aus dem Meer der Adaptionen ragen über 60 bekanntere Versionen heraus, die von Instrumentierungen aller Art über Arrangements bis zu Bearbeitungen reichen unter ihnen die nunmehr legendäre Popversion von Emerson, Lake and Palmer. Ihr sagt man die große Popularität nach, die der Mussorgskysche Zyklus seit den Anfängen der Siebziger Jahre errang. Da unser Thema Malerei und Musik heißt, ist hier nicht der Ort für dieses Thema: beschränken wir uns daher auf ganz wenige prägnante Beispiele. Nach Rimsky-Korsakov, der sich mit zwei Sätzen begnügte, orchestrierte bereits sein Schüler Michail Tuschmalow 7 Bilder. Als Synthese von Ravel und russischem Idiom kann die Instrumentierung Sergey Gorchakows von 1955 angesehen werden. Pianisten und Dirigenten wie Vladimir Horowitz, Vladimir Aschkenazy, Laurence Leonhard und Leonard Slatkin übertrumpfen sich im Reigen der Bearbeitungen. Entschieden russischer als Ravel hinsichtlich der Rauheit der Orchesterfarbe ist aber vor allem die Fassung Leopold Stokowskis von 1938. Zu russisch leider, muß man bedauernd sagen, da er auf die beiden französischen Bilder, die Tuillerien und Limoges verzichten zu müssen glaubt und damit die oben erwähnte, so wesentliche Limoges/Katakomben- Dramaturgie getilgt hat. Denn in so mancher Hinsicht ist die Stokowski-Version der allbekannten Ravelschen vorzuziehen. Vor allem weiß Stokowski mit der Groteske des Gnomus, der Küchlein in den Eierschalen und der Hütte der Baba Jaga expressiver umzugehen als der mit Raffinesse aufwartende Ravel. Wie ein wahres Klangmonstrum wälzt sich diese Hütte auf Hühnerfüßen heran, das Blech krächzt und dröhnt und die Posaunen glissieren schon wie bei Schostakowitsch. Danach öffnet sich das Klangportal zum großen Tor von Kiew noch monumentaler, andachtsvoller und bombastischer und zieht in das Klangcrescendo noch gleich die Wucht des Kremlbildes aus dem Boris mit hinein. Das Bournemouth Symphonie Orchestra unter José Serebrier. Musik 5 Bilder einer Ausstellung Die Hütte der Baba Jaga/Das große Tor von Kiew Bournemouth Symph.orch./José Serebrier NAXOS 8.557645 LC 05537 7 13 Mussorgskys Bilder einer Ausstellung bilden nicht nur das zentrale Werk einer von Malerei inspirierter, programmatischer Klaviermusik, - sie sind auch ein Schlüssel-werk des russischen Nationalstils, ausgehend von der stolzen Satzbezeichnung der Promenade: in
6 modo russico. Das absolute Gegenstück finden wir in dem Klavierzyklus Goyescas des spanischen Komponisten Enrique Granados. Granados zählte neben Manuel de Falla und Isaac Albeniz zu dem illustren Schülerkreis um Felipe Pedrell, dem Gründungsvater der spanischen Folklore und Nationalmusik. Was lag näher für den glänzenden Pianisten und Stilisten in der Chopin-Nachfolge Granados, als dem Zyklus in russischer Manier einen spanischen Klavierzyklus entgegenzusetzen, der dem großen Maler Francisco Goya ein Denkmal setzt und zugleich den rituellen iberischen Kreis von Liebe, Leben und Tod durchschreitet. Ich wollte in den Goyescas eine persönliche Note zum Ausdruck bringen, schreibt Granados, eine Mischung aus Bitterkeit und Anmut, und es war mein Wunsch, dass sich diese beiden Pole die Waage halten in einer Atmosphäre verfeinerter Poesie Eine Gefühlswelt, die ebenso plötzlich verliebt und leidenschaftlich sein kann wie dramatisch und tragisch - ganz wie sie in allen Werken Goyas zutage tritt. Musik 6 Enrique Granados Goyescas Nr. 1 Los requiebros Jean-Francois Heisser apex 2564 69984-3 <1> 0 2 58 (Blende ab 2 56 unter Text) Los requiebros die Schmeichelworte aus dem 1. Teil der Goyescas von Enrique Granados mit dem Pianisten Jean-Francois Heisser. Der Zyklus trägt den Untertitel Los majos enamorados die verliebten jungen Männer und stellt eine Reihe intimer Momente und Bildposen nebeneinander, der spanischen Galanterie abgelauscht: im 1. Stück flüstert ein enamorado zärtlich in Klaviergirlanden von der Schönheit und Anmut seiner Geliebten. Dieser erotische Monolog setzt sich fort bei dem vertraut angestimmten Gespräch am Fenster oder dem Fandango bei Kerzenlicht. Wie man schon bei dem Eingangsstück hört, nähert sich Granados der Bildgestaltung und -erzählung weder primär von der Farbe her noch von der vitalen Begebenheit wie Mussorgsky. Granados Klangphantasie schöpft aus der Urquelle des spanischen Rhythmus: der Jota Aragonese, der Fandangos und Tonadillas. Bei dem Herzstück der Goyescas tritt allerdings auch ein betörendes Melos hinzu: Quejas o la Maja y el Ruiseñor Klagelieder oder das Mädchen und die Nachtigall. Ah! No hai cantar sin amor- Ach! Ohne Liebe sind keine Lieder! Ah! ruisen or:es tu cantar himno de amor Ah, Nachtigall, du singst die Liebeshymne! Gewiß keine neue Losung, dieses spanische Loblied aber mit welchem Schmelz, mit welch mediterranem Klangzauber erfüllt sie Rosarios Nachtgesang! 1911 führt Granados den seiner Frau gewidmeten Klavierzyklus auf; 1916 kommt es zur Uraufführung der Oper Goyescas an der Metropolitan Oper New York, - ein fataler Kurztriumph für den hochsensiblen Komponisten, der auf der Rückreise samt seiner Frau infolge einer Kollision der Sussex mit einem deutschen Torpedo im Ärmelkanal ertrinkt.
7 Auch in der einstündigen Oper bildet Rosarios Gesang an die trillernde Nachtigall den lyrischen Mittelpunkt eines Werkes, das man mit gutem Grund den spanischen Tristan nennen kann. Im Februar letzten Jahres fand übrigens die glanzvolle deutsche Erstaufführung im Heidelberger Theater statt, die den Exklusivcharakter des Klavier-zyklus orchestral noch einmal überhöhte. Musik 7 Granados Goyescas Nr. 4 Quejas o la maja y el Ruisenor s.o. 5 25 Die Hauptinterpretin der Goyescas ist zweifellos Alicia de Laroccha. Neben dieser fulminanten Pianistin kann sich aber auch die zartere Eleganz eines Jean-Francois Heisser behaupten, der hier Granados Mädchen und die Nachtigall zu schmachtender Morbidezza erweckt. Der 2.Teil der Goya-Suite ist wie der Titel El amor y la muerte verrät, der tristanischen Eros/Thanatos-Thematik gewidmet. Dieses Stück besteht aus vielerlei Reminiszenzen und nostalgischen Rückblicken auf die verliebten Jungen. Der Epilog hingegen bemüht, wie schon der Titel Gespenster-serenade verrät, die morbide Atmosphäre eines Totentanzes und flicht dafür eigens in der Manier von Liszt oder Rachmaninow ein kunstvoll geprägtes Dies-Irae-Motiv hinein. Noch einmal Jean-Francois Heisser mit einem Ausschnitt aus O Serenata del espectro: Musik 8 Goyescas Epilogo o serenate del espectro s. o. 3 04 Während Goyescas nur relativ lose mit der Bilderwelt Francisco Goyas verbunden ist und eher gewisse Bildmotive seiner Zeit spiegelt, greift das eng an den Zyklus angelehnte Klavierstück El Pelele auf ein bekanntes Bild des Malers zurück: die Darstellung des Madrider Gesellschaftsspiels, das im Hochschleudern der Strohpuppe, die Machogesten der spanischen Männerwelt abreagiert. Auch die Oper Goyescas beginnt mit dem Hochwerfen des Strohhampelmannes: wie ein abgewiesener Liebhaber wird der Pelele, einem Spielball gleich, in die Luft befördert. Vertont Granados hier unmittelbar Goya? Wohl kaum. Er beleuchtet vielmehr das Ritual des Spieles im Tanz der Jota Aragonese und huldigt der Berühmtheit des Gemäldes und seines Autors, dem er, wie er selbst sagt, die persönliche Note seiner spanisch-elegischen Eleganz verdankt. Musik 9 El Pelele Alicia de Laroccha MOO12906 W01 008 4 30