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Pflege von schwerkranken Kindern zu Hause: Wer zahlt? Brigitte Blum-Schneider, MLaw
Pflege von schwerkranken Kindern zu Hause: Wer zahlt? Ausgangslage Entwicklung in der neueren Rechtsprechung Rechtslage: Welche Leistungen werden bezahlt? Situation: Pflegende Eltern und schwerkranke Kinder Fazit Brigitte Blum-Schneider, MLaw 3
Ausgangslage Anspruchsvolle Entscheidungen treffen: Pflege zu Hause vs. Heimpflege? Beratung: Welche Leistungen stehen den Kindern zu? Finanzielle Aspekte? Ungedeckte Kosten? Brigitte Blum-Schneider, MLaw 4
BGE 136 V 209 (8C_81/2010 vom 7. Juli 2010) Kinder-Spitex I Kinder-Spitex-Leistungen, die als reine Elternentlastungsdienste erbracht werden, stellen keine medizinisch notwendigen Massnahmen i.s.v. Art. 13 Abs. 1 i.v.m. Art. 14 Abs. 1 lit. a. IVG und Art. 2 Abs. 3 GgV dar (E. 7). Die tägliche Krankenpflege zählt nicht als medizinische Massnahme i.s.v. Art. 2 Abs. 3 GgV, weil ihr kein therapeutischer Charakter im eigentlichen Sinne zukommt (E. 7). Brigitte Blum-Schneider, MLaw 5
BGer Urteil 9C_886/2010 vom 10. Juni 2011 Kinder-Spitex II Auch bei grundsätzlicher Leistungspflicht der IV schliesst Art. 27 KVG nicht aus, dass Krankenpflegeleistungen i.s.v. Art. 7 KLV auch an Personen erbracht werden, die Leistungen nach Art. 13 f. IVG beziehen, wenn die auf diese Bestimmungen gestützten Leistungen den Pflegeaufwand nicht abdecken (E. 4.5). Die Leistungskumulation steht jedoch unter dem Vorbehalt einer durch die Hilflosenentschädigung bzw. den Intensivpflegezuschlag bewirkten Überentschädigung (Art. 122 KVV). Brigitte Blum-Schneider, MLaw 6
BGer Urteil 9C_43/2012 vom 12. Juli 2012 Kinder-Spitex III Sog. tote Zeiten gelten nicht als blosse Überwachung, sofern sie nicht planbar sind und nicht durch ein Alarmsystem organisiert werden, weshalb sie eine stetige Bereitschaft voraussetzen (E. 4.1.1). Ob eine Leistung im konkreten Fall als Behandlungspflege oder als Grundpflege qualifiziert wird, richtet sich nach der abschliessenden Aufzählung gemäss Art. 7 Abs. 2 lit. b und c KLV (E. 4.1.2). Die beispielhafte Konkretisierung innerhalb des Leistungskatalogs darf nicht i.d.s. ausgedehnt werden, dass zulasten der OKP Massnahmen subsumiert werden, die nicht nur eine andere Form derjenigen Leistung darstellen, welche als Beispiel in der Verordnungsbestimmung angeführt wird (E. 4.1.2). Brigitte Blum-Schneider, MLaw 7
Invalidenversicherung: Zweck und Begriff der Invalidität Primäres Ziel: Verhinderung der Invalidität durch Eingliederungsmassnahmen (Art. 1a IVG) Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 ATSG) Nicht erwerbstätige Minderjährige gelten als invalid, wenn die Beeinträchtigung ihrer körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit voraussichtlich eine ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird (Art. 8 Abs. 2 ATSG). Brigitte Blum-Schneider, MLaw 8
Medizinische Massnahmen (Art. 12 f. IVG i.v.m. Art. 2 IVV) Versicherte Person bis zur Vollendung des 20. Altersjahres Massnahmen, die den Eingliederungserfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 1 IVV) Grundsätzlich keine Massnahmen zur Behandlung von labilen pathologischen Zuständen Die notwendigen medizinischen Massnahmen müssen durch den Arzt selbst oder durch medizinische Hilfspersonen vorgenommen werden (Art. 14 Abs. 1 IVG). Brigitte Blum-Schneider, MLaw 9
Notwendige medizinische Leistungen zur Behandlung des Gebrechens (Art. 13 f. IVG i.v.m. Art. 2 Abs. 3 GgV) Als Geburtsgebrechen gelten Krankheiten, die bei vollendeter Geburt bestehen (Art. 3 Abs. 2 ATSG). Das Geburtsgebrechen i.s.v. Art. 13 IVG muss behandelbar sein. Das Geburtsgebrechen muss zwingend im Anhang zur GgV aufgelistet sein (Art. 13 Abs. 2 IVG). Kein Leistungsanspruch entsteht bei Gebrechen von geringfügiger Bedeutung (Art. 13 Abs. 2 IVG). Die medizinischen Massnahmen müssen nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sein und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 3 GgV). Die notwendigen medizinischen Massnahmen müssen durch den Arzt selbst oder durch medizinische Hilfspersonen vorgenommen werden (Art. 14 Abs. 1 IVG). Brigitte Blum-Schneider, MLaw 10
Hilflosenentschädigung (Art. 42 ff. IVG) Als hilflos gilt eine Person, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 9 ATSG). Bei Versicherten vor Vollendung des ersten Lebensjahres muss die Hilflosigkeit voraussichtlich während mehr als zwölf Monaten bestehen bleiben (Art. 42 bis Abs. 3 IVG). Alltägliche Lebensverrichtungen sind: An- und Auskleiden Aufstehen, Absitzen und Abliegen Essen Körperpflege Verrichtung der Notdurft Fortbewegung (im oder ausser Haus) sowie Kontaktaufnahme Die Bemessung wird unterschieden in Hilflosigkeit leichten, mittleren und schweren Grades. Brigitte Blum-Schneider, MLaw 11
Intensivpflegezuschlag (Art. 42 ter Abs. 3 IVG) Minderjährige, die zusätzlich zur Hilflosigkeit eine intensive Betreuung benötigen Nur für Minderjährige, die zu Hause leben Invaliditätsbedingter Mehraufwand: Betreuung von mind. 4 Std./Tg. (Art. 39 Abs. 1 IVV) zusätzlich für dauernde Überwachung 2 Std./Tg. (Art. 39 Abs. 3 IVV) bei besonders intensiver Überwachung 4 Std./Tg. (Art. 39 Abs. 3 IVV) Der Mehrbedarf an Behandlungs- und Grundpflege richtet sich nach dem Vergleich zu nicht behinderten Minderjährigen des gleichen Alters (Art. 39 Abs. 2 IVV). Brigitte Blum-Schneider, MLaw 12
Assistenzbeitrag (Art. 42 quater ff. IVG i.v.m. Art. 39a ff. IVV) Zweck: selbständige und eigenverantwortliche Gestaltung der Betreuungssituation Voraussetzungen für Minderjährige: Bezug einer Hilflosenentschädigung; und zu Hause leben; sowie regelmässig eine Schule in einer Regelklasse besuchen oder eine Ausbildung auf dem regulären Arbeitsmarkt oder eine andere Ausbildung auf Sekundarstufe II absolvieren; oder während mind. 10 Std./Woche eine Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt ausüben; oder einen Intensivpflegezuschlag für einen Pflege- und Überwachungsbedarf von mind. 6 Std./Tg. beziehen. Leistungsinhalt: Hilfeleistungen i.s.v. Art. 39c IVV Leistungsumfang: max. ausgewiesener Hilfebedarf unter Abzug der Hilflosenentschädigung und des Intensivpflegezuschlags, Hilfe Dritter anstelle von Hilfsmitteln sowie der Pflegeleistungen nach Art. 25a KVG Brigitte Blum-Schneider, MLaw 13
Leistungen der Krankenversicherung Medizinische Leistungen zur Behandlung und Diagnose einer Krankheit gemäss Leistungskatalog und durch zugelassene Leistungserbringer (Art. 25 33 und 35 40 KVG). Behandlung einer Krankheit i.s.v. Art. 3 Abs. 1 KVG Medizinische Prävention oder vorsorgliche Massnahmen (Art. 26 KVG) Subsidiäre Leistungspflicht (Art. 27 KVG) Geburtsgebrechen i.s.v. Art. 3 Abs. 2 ATSG Altershöchstgrenze überschritten (nach Vollendung des 20. Altersjahres) Das Geburtsgebrechen wird nicht mehr in der Liste im Anhang zur GgV geführt. Brigitte Blum-Schneider, MLaw 14
Pflegeleistungen bei Krankheit (Art. 25a Abs. 1 KVG i.v.m. Art. 7 KLV). Langzeitpflege (Art. 25a Abs. 1 KVG) Einheitliche Beiträge durch die OKP Auf ärztliche Anordnung und bei ausgewiesenem Pflegebedarf Ambulant oder in Einrichtungen mit Tages- und Nachtstrukturen oder in einem Pflegeheim Pflegeleistungen beinhalten Abklärung, Beratung und Koordination (Art. 7 Abs. 2 lit. a KLV) Behandlungspflegeleistungen (Art. 7 Abs. 2 lit. b KLV) Grundpflegeleistungen (Art. 7 Abs. 2 lit. c Ziff. 1 KLV) Keine Überwachungsleistungen mit Ausnahme zur Unterstützung von psychisch kranken Personen (Art. 7 Abs. 2 lit. c Ziff. 2 KLV) Akut- und Übergangspflege (Art. 25a Abs. 2 KVG) Brigitte Blum-Schneider, MLaw 15
Bestandesaufnahme gemäss Forschungsbericht Nr. 2/13 von Büro BASS (i.a. des BSV) 2000 Fragebögen an Minderjährige, Rücklauf 1028, ausgewertet wurden 878. 97% der befragten Minderjährigen leben mit einem oder beiden Elternteilen zusammen; 81% mit Geschwistern. 68% der befragten Eltern gaben an, dass ein Elternteil die Erwerbstätigkeit aufgab oder reduzierte wegen der Behinderung des Minderjährigen; zwei von zehn Befragten gaben an, sie müssten mehr arbeiten, um die Pflege zu finanzieren. 28% der befragten Eltern gaben an, ihre nicht behinderten Kinder oft zu vernachlässigen. Je höher der Pflege- und Überwachungsaufwand desto grösser ist der zusätzliche Bedarf an punktueller Unterstützung, an zusätzlicher Betreuung an mehren Tagen oder bessere Unterstützung durch Fachpersonen für die Beantwortung von Fragen. Brigitte Blum-Schneider, MLaw 16
Fazit: wer bezahlt die Pflege von schwerkranken Kindern zu Hause? Eingliederungsmassnahmen werden durch die IV übernommen. Notwendige medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen leistet die IV. Eine grundsätzliche Leistungspflicht der IV für Geburtsgebrechen schliesst eine subsidiäre Leistungspflicht der OKP nicht aus, sofern der Pflegeaufwand nicht gedeckt ist und dadurch keine Überentschädigung entsteht. Brigitte Blum-Schneider, MLaw 17
Fazit: wer bezahlt die Pflege von schwerkranken Kindern zu Hause? Die OKP übernimmt medizinische Leistungen der Diagnose und Behandlung einer Krankheit (Selbstbehalt). Die OKP leistet Beiträge der Langzeitpflege zur Abklärung, Beratung, Koordination sowie zur Behandlungs- und Grundpflege (max. Kostenbeteiligung der versicherten Person gemäss Art. 25a KVG, aktuell: CHF 5 825.--). Überwachungsleistungen bei körperlichen Gebrechen, sonstige ungedeckte medizinische Leistungen sowie reine Entlastung für pflegende Angehörige und Erwerbsausfälle können teilweise durch Beiträge der Hilflosenentschädigung und des Intensivpflegezuschlags finanziert werden. Brigitte Blum-Schneider, MLaw 18
Fazit: wer bezahlt die Pflege von schwerkranken Kindern zu Hause? Entlastung kann auch durch die Anstellung einer Assistenzperson bewirkt werden. Trotz dieser Leistungen werden vor allem bei Minderjährigen mit hohem Pflegeaufwand und intensivem Überwachungsbedarf nicht alle Kosten abgegolten. Zudem besteht ein Bedürfnis nach punktueller Entlastung und zusätzlicher Betreuung an mehreren Tagen. Brigitte Blum-Schneider, MLaw 19
Parlamentarische Initiativen: 1. 12.409 Parlamentarische Initiative Entschädigung von Hilfeleistungen von Angehörigen im Rahmen des Assistenzbeitrages 24.05.2013 SGK-NR Der Initiative wird Folge gegeben. 2. 12.470 Parlamentarische Initiative Bessere Unterstützung für schwerkranke oder schwerbehinderte Kinder, die zu Hause gepflegt werden 15.08.2013 SGK-NR Der Initiative wird Folge gegeben. 3. 11.412 Parlamentarische Initiative Rahmenbedingungen für die Entlastung von pflegenden Angehörigen 11.11.2011 SGK-NR Der Initiative wird Folge gegeben. 19.06.2012 SGK-SR Zustimmung. 4. 11.411 Parlamentarische Initiative Betreuungszulage für pflegende Angehörige 08.03.2012 NR Der Initiative wird Folge gegeben. 19.06.2012 SGK-SR Zustimmung. Brigitte Blum-Schneider, MLaw 20
Literatur HARDY LANDOLT, Rechtsprechung Nr. 3, 4, 29, Pflegerecht Pflegewissenschaft 01/2012 und 01/2013 GABRIELA RIEMER-KAFKA, Soziale Sicherheit von Kindern und Jugendlichen, Bern 2011 MATTHIAS GEHRIG/JÜRG GUGGISBERG/IRIS GRAF, Wohn- und Betreuungssituation von Personen mit Hilflosenentschädigung der IV, Eine Bestandsaufnahme im Kontext der Massnahmen der 4. IVG- Revision, Bericht im Rahmen des zweiten mehrjährigen Forschungsprogramms zu Invalidität und Behinderung (FoP2-IV), Beiträge zur sozialen Sicherheit, Forschungsbericht 2/13, Bern 2013 (zit. Studie BASS) BRIGITTE BLUM-SCHNEIDER, Pflege schwer kranker Kinder zu Hause Wer leistet und wer bezahlt?, Pflegerecht Pflegewissenschaft, 04/2012, S. 194-209 Brigitte Blum-Schneider, MLaw 21