Wi ntersemester 2006/07 Zusammenfassung zur Vorlesung: "Soziales Handel n" PD Dr. habi l. Udo Thiedeke Handl ungsrational ität als Wert 14. 12.06
1 Vorlesung: "Soziales Handel n" Handl ungsrational ität als Wert 14. 12.06 Programm: 1 ) Vorbemerkung 2) Soziale Tatbestände 3) Die Struktur der Handlungen 4) Zusammenfassung - Hi nsichtl ich des Kol lektivgutproblems entscheidungstheoretischer Handlungsansätze war bereits aufgefal len, dass Normen und Werte herangezogen werden, um das ' Mikroverhalten' der I ndividuen zum ' Makroverhalten' sozialer Strukturen zu aggregieren. - Normen und Werte erschei nen hier jedoch als Spiel- oder Transformationsregel n, z. B. als Reziprozitätsnorm des "wie du mir so ich dir", die immer den eigenen Vorteil im Blick behält. - Wertrationales Handel n ist damit nicht völ l ig ausgeschlossen. Es handelt sich hierbei aber nicht, wie noch bei Weber, um einen Glauben der Akteure an ethisch/moralische Werte und Normen, die das eigene soziale Handeln in Beziehung zu anderen legiti mieren und so legiti me soziale Ordnung ermögl ichen. - Man kann das ursprüngl ich von Thomas Hobbes aufgeworfene Problem, wie soziale Ordnung trotz individuell unterschiedlicher I nteressen möglich sein kann (wir würden vielleicht eher sagen: wie kann Sozialität möglich sein), aber auch ganz anders beantworten. - Dieser zweite Argumentationsstrang der soziologischen Handlungstheorie setzt nicht, wie Max Weber, bei m Subjektivismus der I ntensionen und nicht, wie die Uti l itaristen, bei m I ndividual ismus der Nutzenmaxi mierung an. Viel mehr geht der sog. Kol lektivismus von den sozialen Handlungsstrukturen aus, die für die Handlungsorientierungen der Ei nzel nen Verhaltensvorschriften darstel len. - Diese kol lektive Perspektive geht wesentl ich auf den französischen Soziologen Emi le Durkheim (1 858-1 91 7) zurück. - Durkhei m ist stark vom französischen Positivismus (Comte) und Legal ismus (Montesquieu) beei nflusst.
2 - I n seiner Schrift "Die Regeln der soziologischen Methode" (1 895) geht Durkheim von sozialen Realitäten aus, die zwar immanent sind (man kann sie nicht unmittelbar erfassen), die aber dennoch für das Handel n ei ne empi rische (erfahrbare) Real ität darstellen. Wir können alle die Gesellschaft nicht sehen und auch nicht ganz durchdri ngen, dennoch beei nflussen gesel lschaftl iche Ereignisse, Regel n oder Gesetze unser Handel n unmittel bar. - Für Durkhei m handelt es sich hierbei um soziale I nstitutionen, die für uns als soziale Tatsachen oder Tatbestände wi rken. Diese si nd sei ner Ansicht nach das Forschungsgebiet der Soziologie. - Gesellschaftliche Wirklichkeit ist demnach mehr als die Summe von individuellen Handlungen. - Soziale Tatbestände üben ei nen Verhaltenszwang aus, können dabei aber auch als legitim gelten und akzeptiert sein; zudem ist es möglich abweichend zu handeln, aber auch das geschieht unter Bezug auf soziale Tatbestände. - Der soziale Zwang resultiert demnach aus der Bedeutung oder dem Wert, den wi r den sozialen Tatsachen hi nsichtl ich Legiti mität, Status, Prestige etc. zumessen. [Zu den Kennzeichen sozialer Tatbestände siehe Fol ie 1 ] - Durkhei m richtet sei nen Bl ick also auf die soziale, genauer die gesel lschaftl iche Ordnung. Allerdings nicht unter der Perspektive staatlicher Macht oder dem individuellen I nteresse an Verträgen. Ihn interessiert das "soziale Band" (le lien social), das die Vertragsparteien über ihre persönlichen I nteressen hinaus bindet und das als gesellschaftl iche Sol idarität historisch-empi risch mit der strukturel len Entwicklung ei ner Gesel lschaft vari iert. - Ei nfache Gesel lschaften mit geri nger Arbeitstei lung haben demnach ei ne sog. mechanische Sol idarität (die automatisch, unhi nterfragt auftritt), komplexe Gesel lschaften mit grosser Arbeitstei lung ei ne sog. organische Sol idarität (die aus den Verhältnissen gewachsen und reflektiert ist). - Wir können an dieser Stelle also eine neue Perspektive auf soziales Handeln festhalten und mit den bisherigen Orientierungen vergleichen. [Siehe Fol ie 2] - Durkheims Ansatz bettet so zum einen die Individuen in gesellschaftliche Strukturen ei n, was sich daran zeigt, dass i hr Handel n kol lektivistisch, bezogen auf Werte und Normen ausgerichtet ist. - Zum anderen wi rd die Frage nach den gesel lschaftl ichen Strukturentwicklungen und i hre Rückwi rkung auf die Handlungsmögl ichkeiten aufgeworfen. - Radikaler als Durkheim hat der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1 902-1 979) diesen Ansatz auf der Basis sozialer Handlungsmögl ichkeiten weiter ausgearbeitet und i n Richtung ei ner strukturfunktionalen Theorie der Handlungssysteme überschritten. - Zentral war hierbei sei n handlungstheoretisches Grundlagenwerk "The Structure of Social Action" (kurz: "Structure"; l iegt nicht auf Deutsch vor) von 1 937.
3 - Parsons, der bei Alfred Weber (dem Bruder von Max Weber) 1 927 i n Heidel berg über Max Weber und Werner Sombart promoviert hatte, i nteressiert sich bei der Beobachtung sozialen Handel ns grundsätzl ich für die Stabi l ität sozialer Handlungsstrukturen, nicht nur für die "Chancen" von Handlungsbeziehungen i n Folge unterschiedl icher Handlungstypen, wie etwa Weber. - Die uti l itaristische Lösung des Kol lektivgutproblems erschei nt i hm zu zufäl l ig, abhängig vom Auftreten weitsichtiger I ndividuen (moral ischer Unternehmer) und zudem gefangen in einem Dilemma von Freiheit und Zwang: Gründet Sozialität auf Freiheit, dann ist stabi le Ordnung unsicher. Gründet sie auf Zwang, dann erstickt die Ordnung die freie Handlungswahl. - Parsons geht, i n Rückgriff auf I mmanuel Kants "praktische Vernuft", davon aus, dass soziales Handel n, das i n sozialer Ordnung münden sol l, ei nes kategorialen Bezugsrahmens von Raum, Zeit und Verstand bedarf, der i m praktischen Handel n die Form ei nes ethisch/normativen Bezugsrahmens anni mmt. - Parsons wi l l hier i n ei nem, an die Wissenschaftsphi losopie Alfred North Witheheads anschl iessenden, "analytischen Real ismus" den analytischen Bezugsrahmen des Handel ns (die abstrakten, überi ndividuel len Strukturvorgaben) mit der konkreten Handlungsrealität (z. B. der Orientierung an Normen und Gesetzen beim Handeln) in Kontakt bri ngen. - Damit sol l die Qualität sozialer Ordnung untersucht werden. Diese ist i n den sozial geteilten Werten und Normen zu suchen, wobei im Handeln der Akteure sowohl die individuellen Möglichkeiten und die Bereitschaft deutlich wird, der Ordnung zu folgen, als auch i hre tradierten, machtförmigen oder i nteressenmäßigen Beschränkungen. - Der verpfl ichtende Charakter der Werte und Normen wi rd mit spezifischen Handlungsmögl ichkeiten und -motiven seitens der Akteure beantwortet (es handelt sich also, ähnl ich wie bei Weber, um ei ne 'voluntaristische' auf den Wi l len der Akteure abzielende Handlungstheorie). Der kategoriale Bezugsrahmen wi rd mit dem realen Handlungsrahmen kontaktiert, so dass erst soziales Handel n und ei ne i ndividuel le Veri nnerl ichung (I nternal isierung) der sozialen Ordnung entstehen können. - Das erste Kernstück von Parsons Handlungstheorie ist daher die elementare Handlungsei nheit der "unit act", der i n ei nem strukturel len Bezugsrahmen dem "action frame of reference" (kurz: ' afr') entfaltet wi rd. - Sozialem Handel n l iegt demnach die kategorialen Orientierung auf andere (Beziehung zwischen Alter und Ego) zu Grunde, nicht die I ntensionen des Subjekts! - Für den unit act des sozialen Handelns gelten dabei vier grundsätzliche Bestimmungsdi mensionen. [Siehe Fol ie 3]
4 - Parsons schrei bt weiter i n "Structure": "Sie [die Handlungsei nheit ' unit act' ; U.Th.] muss aus den 'konkreten' Elementen der Handlung zusammengesetzt gedacht werden. Es bedarf einer gewissen Anzahl dieser konkreten Elemente, um eine Handlungseinheit zu vervollständigen: konkrete Ziele, konkrete Bedingungen, konkrete Mittel und eine oder mehrere Normen, um die Wahl der Mittel und Zwecke zu dirigieren. " (1 937: 731 ; Übersetzung U.Th.) - Damit ist der unit act in den 'afr' 'eingehängt' und wird von diesem situativ beeinflusst. [Zur Schematik des 'afr' siehe Folie 4] - Werte und Normen wi rken hier ei nschränkend auf die Wahl der Mittel. Sie strukturieren Handlungsziele und moderieren den Zweck von Handlungen über i hre situative Wi rksamkeit. Dabei werden äußere, objektive Handlungsbedi ngungen (conditions) und i nnere, subjektive Handlungsbedeutungen (means) als Handlungsmögl ichkeiten definiert und so das Handeln individueller Akteure zu einer bedeutungsvollen sozialen Ordnung koordiniert. Erst so wird Handeln zu "sozialem" Handeln, wie Parsons an sei nem Lebensende (1 978) nochmals bekräftigt. - Der sich i m ' afr' situativ vol lziehende Handlungsakt (unit act) stel lt somit die elementare Ei nheit der normativ orientierten Handlungstheorie dar und erweist sich zugleich als komplexe soziale Handlungsei nheit, als Subsystem sozialen Handel ns. - Das wi rd deutl ich, wenn wi r die handlungstheoretische Konstel lation des ' afr' hervorheben [siehe Folie 5], wobei die ' means' die 'situation' nach innen (subjektiv) und die ' conditions' die 'situation' nach außen (objektiv) vermittel n. - Für den handelnden Akteur erscheinen die gesellschaftlichen Werte und Normen so als Kausalierung der Handlungsdynami k (was kann ich jetzt und als nächstes tun?) und i m situativen Bezug auf andere als Normativierung des sozialen Handlungsraums (was werden die andern dazu sagen?). - Wi r können an dieser Stel le demnach Voluntarismus, Kollektivismus, Normativismus und Strukturalismus als Charakteristi ka der normativen Handlungstheorie festhalten. [siehe Folie 6] Literatur: Emi le Durkhei m, 1 992: Über soziale Arbeitstei lung. Studie über die Organisation höherer Gesel lschaften. Frankfurt/M. (1 893) Emi le Durkhei m, 1 976: Die Regel n der soziologischen Methode, hrsg. u. ei ngl. v. René König. 5. Aufl. Darmstadt, Neuwied. (1 895) Talcott Parsons, 1 937: The Structure of Social Action. A Study i n Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers. 2. Bd. New York/London. Talcott Parsons, 1 978: Action Theory and the Human Condition. New York, London.
Handl ungsrational ität als Wert Fol ie 1 Kennzeichen "sozialer Tatbestände" nach Emi le Durkhei m 1 ) Überi ndividual ität: Soziale Tatbestände si nd den I ndividuen "äußerl ich". 2) Normativität: Soziale Tatbestände haben für das i ndividuel le Verhalten regulatorischen Charakter. 3) Diffusität: Soziale Tatbestände lassen sich nicht vol lständig erfassen, durchdri ngen aber Vorstel l ungen und Handl ungen. 4) Al lgemei nheit: Soziale Tatbestände entspri ngen nicht der Natur des Menschen. 5) Soziabi l ität: Soziale Tatbestände entstehen i n soziale Wechselwi rkungen und müssen erlernt werden.
Handl ungsrational ität als Wert Fol ie 2 I ndividuel le Handl ungsperspektiven und Sozial ität i m: 1 ) Subjektivismus: Sozial ität als: Chance legitimer Ordnung Soziales Handel n Welchen Si nn macht es für mich sozial zu handel n? 2) I ndividual ismus: Sozial ität als: Aggregation von Reziprozität Soziales Handel n Was bringt es mir persönlich sozial zu handeln? 3) Kol lektivismus Sozial ität als: gesellschaftliche Ordnungsstruktur Soziales Handel n Was muss ich beachten, um sozial zu handeln?
Handl ungsrational ität als Wert Fol ie 3 Besti mmungsdi mensionen für den Bezugsrahmen des sozialen Handel ns (action frame of reference) nach Talcott Parsons: 1 ) Handelnde (Akteure). 2) Vol untaristische Orientierung auf die Handl ungssituation (Zweck-/Mittel- /Wertorientierung). 3) Handl ungssituation (Gegebenheiten des Handl ungsfeldes / verfügbare Deutungsmögl ichkeiten). 4) Normative Figuration (Wert-/Normenkonstel lation).
Handl ungsrational ität als Wert Fol ie 4 Der "action frame of reference" nach Talcott Parsons conditions actor end/goal/purpose situation norms val ues means
Handl ungsrational ität als Wert Fol ie 5 Handl ungstheoretische Konstel lation des "action frame of reference" values Normativierung norms conditions sozialer Handl ungsraum situation Kausal isierung means end/goal/purpose soziale Handl ungsdynami k actor
Handl ungsrational ität als Wert Fol ie 6 Charakteristi ka normativer Handl ungstheorie 1 ) Vol untarismus: Handel nde wählen i hre Handlungsziele unter wertrationaler Perspektive. 2) Kollektivismus: Handelnde handeln in einem sozial geteilten Handlungsraum. 3) Normativismus: Soziales Handel n ist i n sei nen Handlungsbedi ngungen und -bedeutungen an kol lektiven Werten und Normen orientiert. 4) Struktural ismus: Handel n erfolgt strukturiert i m Rahmen von Ordnungsstrukturen.