BAG SELBSTHILFE Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.v. Kirchfeldstr. 149 40215 Düsseldorf Tel. 0211/31006-36 Fax. 0211/31006-48 Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.v. (BAG SELBSTHILFE) zu den Richtlinien des GKV- Spitzenverbandes zur Begutachtung der Pflegebedürftigkeit Als Dachverband von 121 Bundesverbänden der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen sowie 14 Landesarbeitsgemeinschaften begrüßt die BAG SELBSTHILFE die Überarbeitung der Begutachtungsrichtlinien im Grundsatz, sieht jedoch noch Ergänzungsbedarf: 1
Zu C 2.2.2 Barrierefreie Kommunikation bei dem Besuch des MDK Die UN- Behindertenrechtskonvention legt klar fest, dass Menschen mit Behinderungen der gleiche Zugang zu den Einrichtungen der Gesundheitsversorgung und der Pflege zu gewährleisten ist, wie dies bei gesunden Menschen der Fall ist. Diese Accessability ist im Sinne einer Barrierefreiheit zu verstehen und erschöpft sich nicht im Abbau baulicher Barrieren; vielmehr müssen auch kommunikative Barrieren beseitigt werden. Dies bedeutet im Ergebnis, dass der Besuch des MDK so gestaltet sein muss, dass auch Menschen mit Behinderung gleichermaßen mit diesem kommunizieren können; dies kann etwa bei Menschen mit geistiger Behinderung durch Verwendung leichter Sprache geschehen, bei Menschen mit Hörbehinderungen etwa durch Gebärdendolmetscher. Es muss ferner klargestellt werden, dass diese Kosten durch die Pflegeversicherung getragen werden. Zu D 4.0 III 4 Berücksichtigung von Maßnahmen der Behandlungspflege für die Feststellung der Pflegestufe Leider wird im Entwurf weiterhin die durch Eltern geleistete Behandlungspflege zur "Grundpflege" von pflegebedürftigen Kindern unzureichend berücksichtigt. Auch wenn im Entwurf mehrfach betont wird, dass die häusliche Pflege Vorrang vor der stationären Pflege hat, wird in der Praxis die medizinische Versorgung der Kinder durch die Eltern - entgegen der Rechtsprechung des BSG - oft erst im Widerspruchsverfahren oder gar nicht durch die Krankenkassen als Pflegeleistung anerkannt. Aus diesem Grunde hält die BAG SELBSTHILFE detailliertere Ausführungen zu dieser Frage in den Begutachtungsrichtlinien für sinnvoll; zwar wird entsprechend der BSG Rechtsprechung - auf die Anrechenbarkeit der Maßnahmen der Behandlungspflege für die Feststellung des Grades der Pflegebedürftigkeit hingewiesen, gleichzeitig fehlen entsprechende Beispiele und Hinweise, wann ein vom BSG geforderter untrennbarer Zusammenhang vorliegt. Nachdem der Gesetzgeber Anfang 2004 eine Sonderregelung zur Doppelzuständigkeit der Pflege- und Krankenversicherung bei Stützstrümpfen geschaffen hat, hat- 2
ten die Richter des BSG die Position pflegender Eltern, die die aufwändige medizinische Versorgung ihrer zu pflegenden Kinder selbst übernehmen, ausdrücklich gestärkt. In der Parallelentscheidung des Bundessozialgerichtes (AZ: B 3 KR 8/04 und B 3KR 9/04 R) kommen die Richter zusammengefasst zu nachfolgendem Schluss: Wird die Pflege allein durch Angehörige durchgeführt, steht die insoweit geleistete Behandlungspflege in einem untrennbaren Zusammenhang zur Grundpflege und hat der Versicherte sich für die Zahlung von Pflegegeld entschieden, sollen Tätigkeiten der Behandlungspflege zur Aufrechterhaltung von Grund- und Vitalfunktionen, als Leistungen der Grundpflege und damit der Pflegeversicherung zugerechnet werden. Beispielhaft seien hierbei zwei Bereiche bei betroffenen Kindern unseres Mitgliedsverbandes, benannt: 1. Die heimparenterale Ernährung, soweit dies von den pflegenden Eltern übernommen wird. 2. Die Vitalhaltung von Darmabschnitten hinter einem entlastenden Stoma, durch regelmäßige tröpfchenweise Zuführung eines Teils des Stoma-Inhalts. Zu. 1.): Heimparenterale Ernährung: Für Kinder- und Jugendliche mit Chronischem Darmversagen (CDV) im Kindesalter, z. B. Kurzdarmsyndrom, deren Überleben außerhalb der stationären Unterbringung von einer heimparenteralen Ernährung abhängig ist, und deren intestinale Rehabilitation vordringliches Ziel bleibt und Jahre andauern kann, steht die als Behandlungspflege eingestufte parenterale Ernährung in einem wie vom BSG geforderten - unmittelbaren Zusammenhang mit der nicht ausreichenden oralen und enteralen Ernährung, so dass der sachliche Zusammenhang von der Aufrechterhaltung der Grund- und Vitalfunktionen im Zusammenhang mit der Ernährung als Grundpflege gegeben ist. 3
Von 2000 bis 2010 wurden am Institut für Ernährungswissenschaft der Justus-Liebig- Universität Gießen Daten von 235 Kindern und Jugendlichen mit CDV auf freiwilliger Basis gesammelt. Die Auswertung zu etwaigen Katheter assoziierten Infektionen hat allen Befürchtungen zum Trotz bewiesen, dass die parenterale Ernährung und die Katheterpflege durch einen Elternteil das bakterielle Infektionsrisiko signifikant gegenüber der stationären oder der Pflege durch ambulante Pflegedienste mit wechselnden Pflegepersonen reduziert. Darüber hinaus ist festzustellen, dass es in vielen Regionen nicht ausreichend ambulante Pflegekräfte gibt, die die parenterale Ernährung bei Kleinkindern dauerhaft sicherstellen können. Viele Pflegedienste sind auf Altenpflege spezialisiert und übernehmen diese aufwendigen Pflegeleistungen mit individuellen Infusionslösungen bei Kleinkindern nicht, da nicht genügend ambulante pädiatrische Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Zu. 2.): Vitalhaltung von Darmabschnitten: Eltern berichten uns, dass zwar die Stomapflege als Pflegezeit anerkannt wird, die zur Erhaltung entlasteter Darmabschnitte erforderliche regelmäßige tröpfchenweise Zuführung eines Teils des Stoma-Inhalts jedoch ebenfalls als rein medizinische Maßnahme / Behandlungspflege von den MDK Gutachtern abgelehnt wird. Die Vitalhaltung von Darmabschnitten ist Voraussetzung einer späteren intestinalen Rehabilitation. Selbst wenn kein Ernährungsnutzen von der Zufuhr zu erwarten ist, so stimuliert die Gabe von Nahrung die Schleimhaut, die Bildung der Enterohormone und die Ausbildung einer physiologischen Flora und regt den Gallefluss an. Auch hier besteht aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ein unmittelbarer zeitlicher und sachlicher Zusammenhang mit der Stomapflege als Grundpflege und die Verbindung zur Aufrechterhaltung von Grund- und Vitalfunktionen. In den ausführlichen Begründungen des oben erwähnten Urteils verweisen die Richter auch auf frühere Handhabungen vor Einführung der Pflegeversicherung: Nach der Einführung von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit in der GKV konnte die ehrenamtliche häusliche Krankenpflege bei der Er- 4
mittlung des anspruchsbegründenden Pflegebedarfs berücksichtigt werden, weil das Gesetz hier nicht zwischen Grund- und Behandlungspflege unterschied und auch keinen abschließenden Katalog der zu berücksichtigenden Pflegemaßnahmen aufstellte. Dies war auch bei den von unserem Mitgliedsverband vertretenen Familien der Fall, die zunächst bei Einführung der Pflegestufen ohne weiteres in die Pflegestufe III übernommen wurden. Seit Jahren wird nun jedoch mit dem Hinweis, diese Pflegeleistungen seien als Behandlungspflege keine Leistungen der Pflegeversicherung, die Einbeziehung in die Anrechnungszeiten abgelehnt. Diese Praxis entspricht aus unserer Sicht weder der Rechtsprechung des BSG noch dem Grundgedanken der Pflegeversicherung die häusliche Pflege durch Familienmitglieder, Nachbarn oder Freunde zu fördern und diese ehrenamtliche Pflege mit der Möglichkeit einer finanziellen Anerkennung zu stärken. Das BSG führt hierzu aus: Da aber diese Zuordnung nur dann ihrem Zweck, die häusliche Pflege durch Familienmitglieder, Nachbarn oder Freunde zu fördern und diese ehrenamtliche Pflege mit der Möglichkeit einer finanziellen Anerkennung zu stärken, voll gerecht werden kann, wenn sie nicht gleichzeitig zu Nachteilen im Fall der Inanspruchnahme von Sachleistungen führt, ist den Pflegebedürftigen ein Wahlrecht zuzugestehen, ob sie eine solche Zuordnung der Behandlungspflege zur Grundpflege wünschen oder nicht. Dieses Wahlrecht übt der Pflegebedürftige bei der ersten Antragstellung gegenüber der Pflegekasse aus, indem er Pflegegeld ( 37 SGB XI), Pflegesachleistungen ( 36 SGB XI) oder Kombinationsleistungen ( 38 SGB V) beantragt, es kann aber auch bei einem ggf. später erforderlichen Wechsel vom Pflegegeld zur Sachleistung (oder umgekehrt) geltend gemacht werden. Von weitaus wesentlicher Bedeutung ist jedoch die Anerkennung der entsprechenden Pflegestufe, um zu mindestens eine kleine Abfederung des mit der Pflege des Kindes einhergehenden Armutsrisikos der Pflegeperson im Alter zu erlangen. Die Pflege von Kindern mit chronischem Darmversagen nimmt im Regelfall mehrere Jahre, im Einzelfall mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch. 5
Das Verhalten der Pflegekassen, nach Widersprüchen und den vereinzelten Stellungnahmen unsererseits, die Pflegestufe ohne Neubegutachtung anzuheben zeigt, dass die Auffassung unseres Mitgliedsverbandes hierzu durchaus geteilt wird; leider geschieht dies häufig nur dann, wenn die Betroffenen bereit sind, Widerspruch einlegen und ggf. mit einem Klageverfahren drohen. Insofern befürwortet die BAG SELBSTHILFE detailliertere Ausführungen in den Begutachtungsrichtlinien, wann und wie Maßnahmen der Eltern zur Durchführung der Behandlungspflege für den Grad der Pflegebedürftigkeit angerechnet werden können. Berlin, 14. Januar 2013 6