Blick über die Grenze Prof. Kathrin Volk Landschaftsarchitektur und Entwerfen Detmolder Schule für Architektur und Innenarchitektur Regionaler Salon urban lab 22.06.2015
1 GrenzZiehung 2 GrenzBezeichnung 3 GrenzRaum 4 GrenzKultur 5 AbGrenzung
1 GrenzZiehung Eine Linie verändert alles. Sie trifft eine Unterscheidung, dort, wo vorher ein Gemeinsames war. Sie trennt und macht deutlich hier ist etwas anderes als dort. Es ist eine einfache Linie, die ermöglicht, was George Spencer Brown in seinen Buch Laws of Form sagt: Draw a distinction. Dem ersten Kapitel der Laws of Form sind sechs chinesische Schriftzeichen vorangestellt, die wie folgt übersetzt werden können: Der Anfang von Himmel und Erde ist namenlos. Ohne Bezeichnungen ist die Welt leer und unbestimmt. Das Bezeichnen von etwas setzt jedoch eine Unterscheidung voraus: das Bezeichnete muss vom Rest unterschieden werden.
Wie aber verändert sich unsere Vorstellung von Grenze, wenn wir diese einfache Überlegung, nämlich eine Entscheidung zu treffen, in unsere Betrachtung aufnehmen? Wenn wir Grenze als notwendige Linie der Unterscheidung erkennen, die Vielfalt erst ermöglicht und deutlich macht? Wenn das Primat der Trennung durch eine Grenze der Vorstellung des vielfältigen Nebeneinander weichen würde? Wenn wir Grenzen als identitätsstiftend wahrnehmen, als Linien, die Gemeinsamkeiten zusammenfassen und erlebbar machen können?
2 GrenzBezeichung Worte legen Bedeutungen fest. Worte werten, erklären, beschreiben, setzten Inhalte und bilden die Basis unserer Kommunikation. Wir besprechen Dinge, beschreiben Situationen, diskutieren Aspekte, manifestieren Inhalte mit Worten. Worte sensibilisieren. Grenze als Wort ist konnotiert mit Trennung, Undurchlässigkeit, vielleicht sogar Restriktion. Bis hierhin und nicht weiter. Grenze kann aber viel mehr sein, sie ist der Rand von etwas, die Nahtstelle zwischen etwas, eine Oberfläche. Grenzen sind sensible Orte im Raumgefüge. Sprachbilder wie Eiserner Vorhang oder Grüne Grenze vermitteln unterschiedlichste Eigenschaften von Grenzen und ihren Einfluss auf ihre Umgebung.
Was aber passiert, wenn wir neue Begriffe für Grenzen erfinden, die nicht Trennung und Abgrenzung, sondern Raumqualitäten beschreiben? Wenn wir scheinbar klar Definiertes neu benennen, festgelegten Begriffe aufbrechen, um neue Bedeutungen zu finden aber auch zu erfinden? Wenn wir die Wirkmächtigkeit von Worten für die Beschreibung einer anderen Wirklichkeit der Grenze verwenden: Begriffe wie Membran oder Haut? Welches Potential verbirgt sich in der Umwidmung, des Vorhandenen und wird erst durch Umbenennung deutlich? Wenn wir Worte nicht nur als sachliche Beschreibung, sondern auch als Poetik des Raumes verstehen und dem Begriff Grenze damit eine neue Weite geben?
LaE 3 GrenzRaum Denkt man die Grenze nicht als Linie, sondern als schmalen, langgezogenen Raum, der sich manchmal aufweitet und wieder zum Korridor wird, geschieht etwas merkwürdiges. Erfahrbar wird ein Raum, der weder das eine, noch das andere, an das er angrenzt ist. Es ist ein eigenständiger Raum. Rem Koolhaas hat in einer Arbeit über die Berliner Mauer - eine der grausamsten, aber auch ikonographischsten und durch Wim Wenders Film Der Himmel über Berlin eine der poetischsten Grenzen - das Raumhaltige der Grenze untersucht und das Bauliche, das Räumliche, das Architektonische herausgestellt. Demnach können Grenzen eine Serie unterschiedlicher, räumlicher Lösungen sein, es sind unterschiedliche Ausdrücke des immer gleichen Themas: ein Trennraum zwischen zwei Flächen, Räumen, Strukturen.
Wie aber verändert diese Sichtweise den Blick auf Grenzen? Welche neuen Raumkonzepte können entstehen, wenn die Grenze ein Zwischenraum ist, der nicht nur abgrenzt, sondern auch verbinden kann. Welche Raumbegabungen werden deutlich, wenn die Grenze nicht den Rand von etwas, sondern ein dazwischen formuliert, das auch vermitteln kann, neue Kontexte und Lesarten ermöglicht. Welche Bedeutung erhält dann die Gestaltung der Grenze selbst? Welche räumlichen Qualitäten kann sie entwickeln, welche Aufgaben über die Grenze hinaus übernehmen?
4 GrenzKultur Grenzen sind von langer Dauer, sie sind eingeschrieben in den Raum, administrativ festgelegt. Der Umgang mit Grenzregionen sagt mehr aus über die Kultiviertheit von Planung, oder über das Selbstverständis der dort lebenden Menschen, als alle blühenden Binnenlandschaften eines Landes, einer Region. Er sagt etwas aus, über die Offenheit des Denkens, über Landschaftsentwicklung, über den Wunsch, Grenzen als positiven Aspekt, als Impulsgeber verstehen zu wollen.
Was aber passiert, wenn wir verstehen, dass Grenzen durch Leben, Aneignung, Veränderungen im Raum neue Aufgaben erhalten können? Wenn wir akzeptieren, dass Grenze nicht nur Linie, sondern Raum ist, der immer wieder neu an den Bedürfnissen der Bewohner, an sich verändernden Lebensstilen, an neuen ökonomischen und ökologischen Bedingungen ausgerichtet werden muss? Wenn wir verstehen lernen, dass Grenzen auch Ränder sind, die mit besonderer Sensibilität betrachtet werden müssen. Wenn wir die Empfindlichkeit der Grenzregionen als Möglichkeit sehen, neue Planungsphilosophien des Gemeinsamen zu denken und auszuprobieren.
LaE 5 AbGrenzen Grenzen sind Konstruktionen. Manche Grenzen sind unsichtbar, andere werden herausgehoben. Es gibt Sprachgrenzen, Kulturgrenzen, militärische Grenzen, politische Grenzen, wirtschaftlich oder konfessionelle Grenzen, innere und äußere Grenzen. Grenzen begegnen uns überall, sie überlagern sich schließen ein oder auch aus und sind lebendiger Bestandteil eines vielfältigen Raumgeschehens. Grenzen verändern sich immer dann wenn das, was sie begrenzen sich verändert und umgekehrt, ändert sich die Grenze, ändert sich der Raum. Sie können durchlässig sein, semipermeabel oder auch ganz verschlossen und so Raum verbinden oder trennen.
LaE Was aber erwarten wir von Grenzen? Welche Grenzen wollen wir, wie statisch, flexibel, durchlässig oder ausgrenzend sollen Grenzen im Raum sein? Welche Rolle sollen administrative Grenzen spielen, wenn Landschafträume oder Kulturräume zu anderen Grenzen führen würden? Welche Ästhetik sollen Grenzen und Grenzräume haben? Welche Geschichten sollen sie erinnern, welch neue Geschichten möglich machen? Die Landesgrenze der Niederlande ist 1.027,0 km, die Landesgrenze der Bundesrepublik Deutschland ist 3.621 km lang. Die gemeinsame Grenze ist 577 km lang. Viel Raum zum Ausprobieren.