UN-BRK. Häufigkeit psychischer Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung. Punkt-Prävalenz Problem behaviour

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Transkript:

Psychische Störungen bei Menschen mit Intelligenzminderung - eine fachliche Herausforderung für die Psychiatrie und für die Eingliederungshilfe Michael Seidel Bielefeld Theodor Fliedner Stiftung Sachsen ggmbh Symposium Geistige Behinderung und seelische Gesundheit Hohndorf/Sa., 27.6.2017 Menschen mit Intelligenzminderung haben als Gruppe einen überdurchschnittlich hohen psychiatrischen Versorgungsbedarf. Take-home-Messages Diagnostik und Therapie sind oft nicht immer überdurchschnittlich komplex und aufwändig. Sie verlangen oft spezialisiertes Wissen, Handlungs- und Kommunikations- und Interpretationskompetenz. Das ambulante und das stationäre psychiatrische Regelversorgungssystem braucht Unterstützung durch spezialisierte Angebote. Die psychiatrischen Versorgungsangebote müssen eng mit den Hilfesystemen (u. a. Dienste und Einrichtungen der Behindertenhilfe) der Betroffenen zusammenarbeiten. Dem System der Behindertenhilfe müss(t)en aufsuchende spezialisierte Angebote (Multiprofessionelle Konsulententeams) zur Verfügung stehen. UN-BRK Artikel 25: Gesundheit Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard wie für andere Menschen. Häufigkeit psychischer Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung Gesundheitsleistungen, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden. Häufigkeit psychischer Störungen Häufigkeit psychischer Störungen Punkt-Prävalenz Problem behaviour Punkt-Prävalenz mental-ill health insgesamt: 40,9% Leichte GB: 34,4% Mittelgradige bis schwerste GB: 45,0% COOPER et al., Br. J. Psychiatry 2007 Insgesamt: 22,5% Leichte GB: 13,1% Mittelgradige bis schwerste GB: 28,5% COOPER et al., Br. J. Psychiatry 2007 Die Hälfte der festgestellten psychischen Störungen entfällt auf die Kategorie 1

BeB-Studie Ergebnisse der BeB-Studie 2003 BeB-Studie BeB-Studie Versorgungspolitisches Paradoxon Das Versorgungsparadoxon Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung haben erhöhte Belastungen mit akuten und chronischen Krankheiten sowie zusätzlichen Behinderungen. Daraus resultiert ein erhöhter gesundheitsbezogener Versorgungsbedarf. Im Widerspruch zum erhöhten medizinischen Versorgungsbedarf ist die Versorgung deutlich schlechter als in der Durchschnittsbevölkerung. 2

Verhaltensauffälligkeiten Je schwerer die geistige Behinderung bzw. Intelligenzminderung, desto komplexer ist die Behinderung (Mehrfachbehinderung). Verhaltensauffälligkeiten Je schwerer die geistige Behinderung bzw. die Intelligenzminderung, desto mehr treten psychische Störungen im Gewande von Verhaltensauffälligkeiten in Erscheinung. Je schwerer die geistige Behinderung bzw. die Intelligenzminderung, desto anspruchsvoller sind die Diagnostik und die Differentialdiagnostik. Verhaltensauffälligkeiten Verhaltensauffälligkeiten Die meisten psychischen Störungen zeigen sich auch im Verhalten; manche sogar vor allem im Verhalten. Schwierigkeit der Diagnostik Aber: Nicht alle Verhaltensauffälligkeiten stehen mit einer psychischen Störung im weitesten Sinne im Zusammenhang Manche Verhaltensauffälligkeiten sind bloße Eigenarten der jeweiligen Person Manche Verhaltensauffälligkeiten sind normale Reaktionen von Menschen mit geistiger Behinderung auf Ihre Umwelt Schwere der Intelligenzminderung Psychische Störungen im weitesten Sinne Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten Psychische Störungen im engeren Sinne Krankheitsbilder sind mit Diagnosen nach ICD-10 ausreichend zu beschreiben Verhalten oder Störungsbild ist nicht durch eine ICD-10-basierte Diagnose ausreichend zu erklären Verhaltensphänotyp Bestimmte Verhaltensweisen sind durch eine genetische Ursache des Behinderungsbildes (mit-)bestimmt. Psychische Störungen infolge definierter exogener Schädigungsfaktoren (Noxen) Epilepsiebezogene psychische Störungen Körperliche Beschwerden Verhaltensauffälligkeiten Psychische Störungen im engeren Sinne Psychische Störungen im weitesten Sinne ------------------------------------------------ Psych. Störungen infolge definierter exogener Schäd.- faktoren Verhaltens- Phänotypen Epilepsiebezogene psych. Störungen 3

Fehlerhaftes Spektrummodell VERHALTENSAUFFÄLLIGKEITEN Ebene der Symptomatik bzw. der Bewältigung Ebene der Ursachen, Bedingungen usw. Psychische Störungen Verhaltensauffälligkeiten Herausforderndes Verhalten Anmerkungen zum Spektrummodell Bilden Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen die Extrempunkte eines Spektrums? NEIN! Sie gehören unterschiedlichen Ebenen an Psychische Störungen im weitesten Sinne Psychische Störungen im engeren Sinne Krankheitsbilder sind mit Diagnosen nach ICD-10 ausreichend zu beschreiben Verhalten oder Störungsbild ist nicht durch eine ICD-10-basierte Diagnose ausreichend zu erklären Verhaltensphänotyp Bestimmte Verhaltensweisen sind durch eine genetische Ursache des Behinderungsbildes (mit-)bestimmt. Psychische Störungen infolge definierter exogener Schädigungsfaktoren (Noxen) Epilepsiebezogene psychische Störungen Häufigkeit psychischer Störungen Punkt-Prävalenz Problem behaviour Insgesamt: 22,5% Leichte GB: 13,1% Mittelgradige bis schwerste GB: 28,5% COOPER et al., Br. J. Psychiatry 2007 Die Hälfte der festgestellten psychischen Störungen entfällt auf die Kategorie 4

In ihrer Symptomatik sehr verschiedene Störungsbilder, die durch eine ICD-10-basierte Diagnose nicht ausreichend beschrieben bzw. erklärt werden können. Sie können nur aus der Wechselwirkung der individuellen Dispositionen (vor allem emotionales Entwicklungsniveau und Funktionsbeeinträchtigungen) mit den Anforderungen und Gegebenheiten der Umwelt (soziale und physische Umwelt) erklärt werden. ist die Grundlage der Mehrzahl psychischer Auffälligkeiten, Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung. tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf. ist keine individualpathologische Eigenschaft der betroffenen Person, sondern eine Eigenschaft des Person-Umwelt-Systems. Definition DC-LD (Royal College of Psychiatrists, 2001) Definition von - Häufigkeit, Schwere oder Frequenz des Verhaltens verlangt klinisches Assessment und spezielle Intervention. - Verhalten ist keine direkte Folge psychischer Störungen, Medikamente oder körperlicher Krankheiten. Die unzulängliche Person-Umwelt-Passung als Kern des Problems beim - Eines der folgenden Kriterien muss vorliegen: - Wesentlicher negativer Einfluss auf die Lebensqualität des Betroffenen oder Dritter - Verhalten bewirkt wesentliches Risiko für die Gesundheit oder für die Sicherheit des Betroffenen oder Dritter. Person-Umwelt-Passung Unzulängliche Person-Umwelt-Passung Umwelt Person Umwelt Person Die Umwelt überfordert die Person und ihre Verhaltensdispositionen 5

Vorstellung eines Modells Practice Guidelines and Principles: Assessment, Diagnosis, Treatment and Related Support Services for Persons with Intellectual Disabilities and Problem Behaviour. European Edition. A. Dosen, W. I. Gardner, B. D. M. Griffiths, R. King, A. Lapointe Download www.dgsgb.de Materialien Bd. 21 DC-LD (Royal College of Psychiatrists, 2001) Definition von - Häufigkeit, Schwere oder Frequenz des Verhaltens verlangt ein klinisches Assessment und spezielle Intervention - Verhalten ist keine direkte Folge psychischer Störungen, Medikamente oder körperlicher Krankheiten - Eines der folgenden Kriterien muss vorliegen: - Wesentlicher negativer Einfluss auf die Lebensqualität des Betroffenen oder Dritter - Verhalten bewirkt wesentliches Risiko für die Gesundheit oder für die Sicherheit des Betroffenen oder Dritter Kommentar: Damit eine bestimmte Verhaltensauffälligkeit als interpretiert und bezeichnet werden kann, muss es erhebliche negative Folgen oder Risiken aufweisen. D. h. auch: nicht jede Verhaltensauffälligkeit kann als bezeichnet werden. wird beschrieben als ungünstige (maladaptive) Interaktion zwischen der Person und der Umwelt. kann nicht auf einen einzigen Faktor zurückgeführt werden. Es müssen alle möglichen biologischen, medizinischen, psychologischen und andere Aspekte untersucht werden. muss interdisziplinär und multiprofessionell untersucht werden. 6

Das Entwicklungsniveau einer Person im umfassenden Sinne sollte als die Hauptbedingung ihres s verstanden werden. Emotionales Entwicklungsniveau Menschen mit geistiger Behinderung weisen oft emotionale Entwicklungsverzögerungen auf. Die Ursachen sind intrinsischer (biologische Faktoren) und extrinsischer (Biographie, soziale Umweltbedingungen usw.) Art. Qualität und Ausmaß der emotionalen Entwicklungsverzögerung sind nicht unbedingt proportional zur intellektuellen Entwicklungsverzögerung. Sie bedürfen des gründlichen und qualifizierten Assessments. Das Entwicklungsniveau im umfassenden Sinne ist eine der Hauptbedingungen eines s. Exkurs: Emotionale Entwicklung 7

Emotionale Entwicklungsphasen Phasen der emotionalen Entwicklung Entwicklung der Bedürfnisse Erfassung des Entwicklungsniveaus: Schema der emotionalen Entwicklung (Schema van Emotionele Ontwikkeling - SEO) nach Anton Dosen Skala für entwicklungspsychiatrische Diagnostik (SOPD) nach Anton Dosen Beispiel für einen SEO-Befund Emotionales Entwicklungsniveau Beispiel für ein SEO-Profil Quelle: http://www.ejf.de/fileadmin/user_upload/pics-einrichtungen/akademie/sappok_final.pdf 8

Entwicklungsperspektive Das Entwicklungsniveau einer bestimmten Person wird als die Gesamtheit von Persönlichkeitsmerkmalen gesehen, die darüber bestimmt, was eine Person belastet (stresst) und wie sie mit dieser Belastung (Stress) umgeht. Die Entwicklungsperspektive ergänzt den üblichen bio-psychosozialen Zugang. Persönlichkeit wird als Resultat der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung verstanden. Entwicklungsperspektive: Eine Person auf einem bestimmten emotionalen Niveau hat bestimmte grundlegende psychosoziale Bedürfnisse. Deren Befriedigung ist die Voraussetzung ihrer weiteren Entwicklung. Wenn bestimmte physische und soziale Umweltbedingungen diese Bedürfnisse nicht erfüllen, entstehen Motivationen, die maladaptives Verhalten produzieren. Psychische Störungen im engeren Sinne Übliche psychische Störungen Psychische Störungen im engeren Sinne Psychiatrische Störungsbilder Krankheits- oder Störungsbilder sind im Prinzip mit Diagnosen nach ICD-10 ausreichend zu beschreiben. Psychische Störungen im engeren Sinne Eine ernsthafte - praktisch relevante - Problematik besteht in den Schwierigkeiten der sicheren Diagnostik. Kapitel V (F) der ICD-10 F00-F09 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen F10-F19 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F20-F29 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen F30-F39 Affektive Störungen F40-F48 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen F50-F59 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren F60-F69 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F70-F79 Intelligenzstörung F80-F89 Entwicklungsstörungen F90-F98 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend 9

Verhaltensphänotypen Merkmale genetisch bedingter Störungen Ebenen der Symptomatik: morphologische Merkmale (Fehlbildungen, Dysmorphien) funktionelle bzw. metabolische Merkmale Verhaltensmerkmale Faustregel: Je komplexer und schwerer ein Störungsbild, desto wahrscheinlicher ist eine genetische Ursache E. DYKENS (1995) Verhaltensphänotypen Verhaltensphänotypen liegen vor, wenn bei Menschen mit einem bestimmten Syndrom bestimmte Verhaltensweisen häufiger vorkommen als bei vergleichbaren Personen ohne dieses Syndrom. (Sie liegen nicht unbedingt in jedem Einzelfall vor oder sind immer gleich schwer ausgeprägt.) Genetisch bedingte Syndrome mit Verhaltensphänotypen Beispiele Trisomie 21 (Down-Syndrom) Fragiles-X-Syndrom Smith-Magenis-Syndrom Prader-Willi-Syndrom Tuberöse Sklerose Psychische Störungen infolge definierter exogener Schädigungsfaktoren (Noxen) Psychische Störungen infolge definierter exogener Schädigungsfaktoren (Noxen) Beispiel Fetale Alkoholspektrumstörungen (Fetal Alcohol Spectrum Disorders, FASD) Fetales Alkoholsyndrom (Fetal Alcohol Syndrome, FAS); Partielles fetales Alkoholsyndrom (Partial Fetal Alcohol Syndrome, PFAS), Alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (Alcohol Related Neurodevelopmental Disorder, ARND) Alkoholbedingte Geburtsdefekte (Alcohol Related Birth Defects, ARBD) 10

Psychische Störungen Epilepsiebedingte psychische Probleme Psychische Symptomatik vor Anfällen Psychische Symptomatik nach Anfällen Psychische Symptomatik anstelle von Anfällen (Alternativpsychosen) Psychische Symptome als Ausdruck von Anfällen Kognitiver Abbau, organisch bedingte Persönlichkeitsstörungen Reaktive Verstimmungen (u. U. Suizidgefahr) wegen der Lebenssituation Negative psychotrope Effekte (Konzentration, Stimmung, Halluzinationen usw.) von Antiepileptika.. Dissoziative Anfälle Einige Besonderheiten Zwischenresümee Körperliche Beschwerden stellen sich oft als psychische oder Verhaltensprobleme dar. Psychische Probleme stellen sich als körperliche Beschwerden dar (Somatisierung). Die Ursachen oder Bedingungsgefüge psychischer oder Verhaltensprobleme sind komplexer als bei Menschen ohne geistige Behinderung Die Erhebung der Beschwerden, Symptome usw. sind zumeist von Dritten abhängig. Die psychiatrische Diagnostik bei Menschen mit geistiger Behinderung alles andere als banal. Sie verlangt oft spezialisierte Kenntnisse und Handlungs- und Kommunikationskompetenzen. UN-BRK Artikel 25: Gesundheit Spezialangebote und Inklusion Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard wie für andere Menschen. Gesundheitsleistungen, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden. 11

Spezialisierung Stehen das Gebot der Inklusion und die Forderung nach spezialisierten Angeboten zueinander im Widerspruch? Spezialisierungen sind ein konstitutives Merkmal des deutschen Gesundheitswesens. Gründe: Fachliche Qualität Organisatorische Gründe Wirtschaftliche Gründe (Effizienz) Spezialisierung Inklusion Formen der Spezialisierung Vertikal, hierarchisch: Hausarzt, Facharzt, Spezialsprechstunden usw., Krankenhäuser der Grundversorgung, Schwerpunktversorgung, Maximalversorgung Horizontal: Verschiedene Facharztrichtungen, Fachkliniken usw. Der Begriff Inklusion kommt in unserem Kontext ursprünglich aus dem bildungspolitischen Diskurs. Streitfrage: Was ist für behinderte Kinder besser: In hochspezialisierten Sondersystemen gebildet und erzogen zu werden oder im Regelsystem? Inklusion Gesundheitssystem und Inklusion Die Salamanca-Konferenz 1994 (Salamanca Statement) hat sich nachdrücklich für die Inklusion behinderter Kinder in das schulische Regelsystem ausgesprochen. Sie hat aber auch verlangt, dass ihnen dort alle spezialisierte fachliche Unterstützung angeboten wird, die sie brauchen! Auf das Gesundheitssystem angewendet heißt das, dass Menschen mit Behinderungen uneingeschränkt durch das Gesundheitssystem versorgt werden müssen. Unvermeidbar kommt die Frage nach dem Stellenwert fachlicher Spezialisierungen auf. 12

Zwei Aspekte von Inklusion Gesundheitssystem und Inklusion Inklusion kann als Ziel (Analogie zum Begriff der Normalisierung) verstanden werden oder als Instrument, Methode (z. B. behindertenpolitische Diskussion) Die Spannung zwischen Inklusion und Spezialisierung in der medizinischen Versorgung lässt sich nur auflösen, indem man ein Sowohl-als-auch befürwortet: Das medizinische Regelversorgungssystem muss regelmäßig der erste Ansprechpartner für Menschen mit Behinderung sein - und sich darauf fachlich und organisatorisch einstellen. Für spezielle Fragestellungen muss es ergänzende Angebote spezialisierter und hochspezialisierter Versorgung geben (SPZ, MZEB, spezialisierte PIA, spezialisierte Krankenhausabteilungen ). UN-BRK Stehen das Gebot der Inklusion und die Forderung nach spezialisierten Angeboten zueinander im Widerspruch? NEIN! Artikel 25: Gesundheit Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard wie für andere Menschen. Gesundheitsleistungen, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden. Anforderungen 1) an die Dienste und Einrichtungen 2) an die Psychiatrie Anforderungen an die Dienste und Einrichtungen Fachliche, konzeptionelle und sozialpolitische Schlussfolgerungen 13

Allgemeine Anforderungen Allgemeine, störungsformunspezifische Anforderungen an die Dienste und Einrichtungen Konzeptionelle Verankerung des Themas Psychische Störungen in den Diensten und Einrichtungen der Behindertenhilfe Systematische praktische Umsetzung der Konzepte Systematische Fortbildung und Schulung der Mitarbeitenden Multiprofessionelle Ausstattung Systematische Schnittstellengestaltung mit dem psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungssystem (u. a. Regionalkonferenzen) Störungsformspezifische Anforderungen an die Dienste und Einrichtungen Bei üblichen psychischen Störungen Übliche psychische Störungen Übliche psychische Störungen Die psychiatrischen und psychotherapeutischen Leistungen für die üblichen psychischen Störungen dürften zumeist Leistungen des Regelversorgungssystems zu Lasten der Krankenkassen sein. Ob sich der damit verbundene Anspruch dann praktisch vor Ort tatsächlich umsetzen lässt, steht auf einem anderen Blatt. Das wird bei einer zunehmenden Zerrüttung der flächendeckenden Leistungsfähigkeit unseres Regelversorgungssystems mehr und mehr zum Problem werden, erst recht zukünftig mit dem PEPP-System. 14

Übliche psychische Störungen Anbahnung und qualifizierte Begleitung von Therapieprozessen: Beobachtungen aus dem Alltag in konzentrierter und durch Konsensbildung validierter Form zum Therapeuten transportieren, Erwartungen an die Behandlung konkretisieren, Konsentierte realistische Therapieziele dokumentieren, Rückmeldung des Therapeuten beachten, Therapiefortschritte dokumentieren, verbindliche Absprachen über Ansprechpartner, Formen des Austauschs usw. treffen. Bei Das Problem(verhalten) kann nicht in der Arztpraxis oder im Krankenhaus zur Reparatur abgegeben werden. Es kann und muss dort aber um Identifikation medizinisch charakterisierbarer Komponenten (z. B. Impulskontrollstörung, Schwerhörigkeit) gehen. Einer als verstehbaren Symptomatik kommt man erfahrungsgemäß nur bei, wenn man in einem konkreten Setting-Bezug unter Einschluss multiprofessioneller und interdisziplinärer Kompetenzen vorgeht. Interdisziplinäre Herausforderung Analyse der Bedingungen und Ursachen, Planung und Durchführung komplexer Interventionen, Erfolgsevaluation usw. Es gibt keine Alternative dazu, die Experten in der Zukunft unmittelbar im bzw. für das System der Eingliederungshilfe verfügbar zu haben. (Vorbild: interdisziplinär besetzte Konsulententeams wie in den Niederlanden ) 15

Herausforderung: Interpretation solcher multiprofessioneller Angebote bzw. Leistungen als selbstverständlicher integraler Bestandteil der Eingliederungshilfe Bei Verhaltensphänotypen und Folgen definierter exogener Noxen Einbindung dieser Forderung in den Prozess der Reform der Eingliederungshilfe. Verhaltensphänotypen Etablierung maßgeschneiderter Fördermaßnahmen unter Einbezug wiederholter differenzierter neuropsychologischer u. a. Assessments und Beratung durch jederzeit verfügbare, mit dem System vertraute Experten. Bei mit Epilepsie verbundenen psychischen Störungen Überwindung des Missverständnisses, genetische (Mit-) Bedingtheit bedeute (heilpädagogische) Unbeeinflussbarkeit. Mit Epilepsie verbundene psychische Störungen Sicherstellung einer regelmäßigen qualifizierten epileptologischen Versorgung einschließlich Anleitung und Beratung der Mitarbeitenden. Schulung der Mitarbeitenden in Anfallsbeobachtung und -dokumentation Anforderungen an die Psychiatrie Fachliche, konzeptionelle und sozialpolitische Schlussfolgerungen 16

Differentialdiagnostische Abklärung psychischer Störungen i. e. S. Differentialdiagnostische Abklärung genetisch bedingter Syndrome und den Folgen definierter exogener Noxen Differentialdiagnostische Abklärung epilepsiebedingter psychischer Störungen Identifizierung von psychiatrisch identifizierbarer Komponenten im komplexen Bedingungsgefüge von Behandlung psychischer Störungen Aufgaben der Psychiatrie Zusammenfassung Zusammenfassung Zusammenfassung Die Verankerung von medizinnahen fachlichen Hilfen (z. B. psychologisches Assessment) im offenen Leistungskatalog der Eingliederungshilfe bzw. des künftigen Teilhaberechts in finanzieller, konzeptioneller und organisatorischer Hinsicht ist unverzichtbar. Solche Leistungen müssen konzeptionell und leistungsrechtlich von den Leistungen der Krankenversorgung (SGB V) abgegrenzt werden. Wir müssen unter Bezug auf UN-BRK, ICF und andere Leitdokumente buchstabieren lernen, was ein Verständnis von Eingliederungshilfe (oder Teilhabeförderung) als Rehabilitation bzw. Habilitation bedeutet und welche Konsequenzen das für die Ausgestaltung des einschlägigen Leistungsrechtes haben muss. Grunderkenntnis Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass die adäquate medizinische Versorgung von Menschen allein ein Problem der Einstellung, des guten Willens oder der Haltung ist. Qualifizierung des Regelversorgungssystems Forderungen Vielmehr gehören oft aber nicht immer dazu: Spezielles Wissen Spezielle kommunikative Kompetenzen und Erfahrungen Spezielle Handlungskompetenzen Spezielle Rahmenbedingungen (Räumlichkeiten, Ausstattung, Zeit, Case-Management usw.). Etablierung bzw. Ausbau spezialisierter Angebotsstrukturen Ambulanter Sektor SozialpädiatrischeZentren Psych. Institutsambulanzen Med. Behandlungszentren ( 119c SGB V) Stationärer Sektor Spezialisierte Krankenhausabteilungen (für größere Einzugsbereiche) Spezialisierte Teams 17

Allgemeine Schlussfolgerungen Entwicklung eines horizontal und vertikal kooperierenden Systems Allgemeine Schlussfolgerungen Arbeitsteilung Multiprofessionalität Vorrang ambulanter und aufsuchender (mobiler) Angebote Vorrang der Regelversorgung Entwicklung eines horizontal und vertikal kooperierenden Systems Psychiatrie/Medizin Allgemeine Schlussfolgerungen Allgemeine Schlussfolgerungen Entwicklung eines horizontal und vertikal kooperierenden Systems Spezialangebote Regelversorgung Multiprofessionelle Konsulententeams Spezialisierte Angebote Dienste und Einrichtungen Gesteuerter und moderierter Prozess Gemeinsame Fortbildungen Fortbildungsmöglichkeiten Literaturhinweise DGSGB-Arbeitstagungen www.dgsgb.de DGSGB-Website kostenlos downloadfähige Materialien der DGSGB DGPPN-Kongresse Fortbildungsakademie, thematische Symposien DGPPN-Facharztintensivkurse Fortbildungen (zentral und dezentral) 18

Take-home-Messages Menschen mit Intelligenzminderung haben als Gruppe einen überdurchschnittlich hohen psychiatrischen Versorgungsbedarf. Diagnostik und Therapie sind oft nicht immer überdurchschnittlich komplex und aufwändig. Sie verlangen oft spezialisiertes Wissen, Handlungs- und Kommunikationskompetenz. Das ambulante und das stationäre psychiatrische Regelversorgungssysteme braucht eine Unterstützung durch spezialisierte Angebote. Die psychiatrischen Versorgungsangebote müssen eng mit den Hilfesystemen (u. a. Dienste und Einrichtungen der Behindertenhilfe) der Betroffenen zusammenarbeiten. Dem System der Behindertenhilfe müssen aufsuchende spezialisierte Angebote (Multiprofessionelle Konsulententeams) zur Verfügung stehen. seidelm2@t-online.de Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 19