23. Juni 2017 KONTAKTABBRÜCHE Möglichkeiten und Grenzen des Rechts und die Rolle der Psychologie Referat im Rahmen der IFF-Tagung «Verlusterlebnisse Trauer, Abschied nehmen und Kontaktabbruch in der Familie» Gisela Kilde Dr. iur., Koordinatorin und Lehrbeauftragte am Institut für Familienforschung und -beratung
ÜBERSICHT I. Ausgangspunkt II. III. IV. Rechtliche Bedeutung von «Kontakt» Pflichtrecht: gegenseitiger Anspruch Grenzen des Rechts V. Faktoren, die zum Kontaktabbruch führen können VI. Lösungsansätze VII. Schlusspunkt
I. AUSGANGSPUNKT Familie A Chloé (geb. 1999), Daniel (geb. 2000) sind Kinder der unverheirateten Eltern Otmar und Sabine. Im Jahr 2004 trennen sich die Eltern. Die Kinder verbleiben bei der Mutter. Der Kontakt zum Vater ist regelmässig. Nach 7 Jahren, ab dem Jahr 2011, ergeben sich Kontaktschwierigkeiten. Chloé (12 J.) will nur noch eingeschränkten Kontakt, Daniel (11 J.) will keinen Kontakt mehr. Im Jahr 2012 erfolgt ein vollständiger Kontaktabbruch. (Inspiration: Bundesgericht, Urteil vom 12.8.2015, 5A_367/2015)
I. AUSGANGSPUNKT Familie B Die Eheleute haben am 13. Juni 2005 in Kuba geheiratet. Am 3. Januar 2006 kam ihre kleine Tochter in der Schweiz zur Welt. Der Ehemann blieb noch bis zum 7. Februar 2006 in Kuba und zog dann zu seiner Familie. Bereits am 1. Mai 2006 trennten sich die Eheleute. Nach der Trennung erfolgte ein Kontaktabbruch zwischen Vater und Tochter. (Bundesgericht, Urteil vom 07.06.2011, 5A_101/2011)
II. RECHTLICHE BEDEUTUNG VON «KONTAKT» Für das Kind: Identitätsfindung und Persönlichkeitsentwicklung Meinungsbildung, damit Realitätskontrolle Kontaktpflege zur weiteren Verwandtschaft erweitertes soziales Netz «Pflege innerer Verbundenheit» für Elternteil und Kind (seit BGE 89 (1963) II 2) aber auch: Aufbau einer Beziehung mittels «Besuche», gemeinsame Ferien, Kommunikation Grundrecht von Eltern und Kind Wahrung Kerngehalt (Art. 36 Abs. 4 BV) positive staatliche Schutzpflichten Prinz A./Gresser U., Macht Kontaktabbruch zu den leiblichen Eltern krank? Eine Analyse wissenschaftlicher Literatur, NZFam 2015, 989 ff.
III. PFLICHTRECHT: GEGENSEITIGER ANSPRUCH Familie A und B:
IV. GRENZEN DES RECHTS Gerichtliche Durchsetzung von Besuchsrechtsordnungen? Gegenüber urteilsfähigem Kind und besuchsberechtigtem Elternteil sind Beziehungen nicht erzwingbar Verstoss gegen Persönlichkeitsrecht und Kindeswohl Gegenüber besuchsverpflichtetem Elternteil Allenfalls Urteil mit Androhung der Ungehorsamsstrafe (Art. 292 StGB) verbinden (strafrechtliches Mittel Busse) Nicht Symptome, sondern Ursachen angehen!
V. FAKTOREN, DIE ZUM KONTAKTABBRUCH FÜHREN KÖNNEN Kontaktabbruch, gründend etwa auf eigene negative Erfahrung des Kindes z.b. Gewalterfahrungen bei häuslicher Gewalt langjähriger Loyalitätskonflikt des Kindes, verstärkt durch elterliches Verhalten Beeinflussung / Weigerung seitens des oder der Sorgeberechtigten (Familie B) Veränderte Bedürfnisse der Jugendlichen (Familie A?)
VI. LÖSUNGSANSÄTZE Jüngere Kinder begleitete Besuche an neutralem Ort, Begleitung im Besuchstreff / Privatperson wichtig: Elternarbeit während der Dauer der begleiteten Besuche (anschliessend) gestaffelte Ausweitung von Besuchen Jugendliche Anpassung der Regelung auf Bedürfnisse der Jugendlichen z.b. Einschränkung auf punktuelle Verabredungen / Aktivitäten Aufhebung persönlicher Verkehr als ultima ratio.und ggf. Erinnerungskontakte Angeordnete Selbstregulierung für Konfliktfamilien
VI. LÖSUNGSANSÄTZE Angeordnete Selbstregulierung Eine durch die Behörde / Gericht angeordnete einvernehmliche Lösung des Konflikts durch die Beteiligten selbst mit Hilfe psychologischer Unterstützungsangebote. Anordnung und damit «Zwang» bezieht sich auf Kontaktaufnahme, nicht auf Mitarbeit während der Massnahme Abhängig von den Umständen, wie etwa Eskalationsstufe, bestehende Kommunikations- und Konfliktfähigkeiten der Eltern Sorgfältige Wahl der verhältnismässigen Intervention
VI. LÖSUNGSANSÄTZE Ziel Innere Haltungsänderung durch Verarbeiten der Emotionen und Schaffen eines minimalen Vertrauens. 1. Senkung des Konfliktniveaus 2. Funktionierende Neuorganisation der Trennungsfamilie
VI. LÖSUNGSANSÄTZE Mittel (1/2) interventionsorientierte / lösungsorientierte Gutachten falls Gutachten während des Verfahrens indiziert (v.a. Familienkonflikte) Erweiterung des statusorientierten Gutachtens um verhaltensändernde Interventionen, Konfliktlösungsstrategien und Psycho-Edukation einvernehmliche Lösung kurzer schriftlicher Bericht keine einvernehmliche Lösung ausführlicher Bericht mit Empfehlungen Angeordnete Mediation jüngere Kinder: Eltern klären punktuelle Probleme, ev. «Kindersitzung» Jugendliche: direkte Beteiligung an der Mediation
VI. LÖSUNGSANSÄTZE Mittel (2/2) Angeordnete Beratung Durch Erziehungsberatung (BE) oder KJPD / Jugendhilfe (SG) Ziel: Förderung elterlicher Kompetenzen, Einigung in Streitigkeiten bzgl. Kinder Umfang: Bern: 5 Sitzungen (zzgl. ev. 5 Sitzungen) St. Gallen: längstens drei Monate Nach Abschluss der Beratungen entweder gemeinsame Vereinbarung der Eltern oder kurze schriftliche Empfehlung der Beratungsstelle ans Gericht Angeordnete Therapie, falls Indikation für eine Therapie vorhanden
VI. LÖSUNGSANSÄTZE Ausschlussgründe für konsensorientierte Lösungsversuche keine Kooperationsbereitschaft feststellbar bereits lange Geschichte gescheiterter konsensorientierter Lösungsversuche schwere psychische Störung / schwere Suchterkrankung bei einem Elternteil ausgeprägte asymmetrische Paarbeziehung (z.b. Häusliche Gewalt) Fälle von akutem Kindesschutz Dringlichkeit
VI. LÖSUNGSANSÄTZE Erinnerungskontakte Wenn kein persönlicher Verkehr mehr angeordnet werden kann. Ziel ungefilterte Informationsvermittlung, Realitätskontrolle nicht zwingend, aber möglich: Beziehungsaufbau zu einem späteren Zeitpunkt eine lebendige Form zur Wahrung des grundrechtlichen Kerngehalts Rahmen 3-4mal jährlich Gespräch von ca. 30-40 Minuten zwischen Fachperson und Elternteil bzw. Jugendliche Fachperson Wichtig: gute Vorbereitung der Beteiligten, inkl. Hauptbetreuungsperson! Elternteil Jugendliche-r
VI. LÖSUNGSANSÄTZE Erinnerungskontakte Gesprächsinhalte Lebenssituation des Elternteils wie Wohnort, neue Partner, Beruf und Freizeit, ev. erweiterte Familie (Grosseltern/Tanten/Onkel) Lebenssituation des Jugendlichen zunächst diejenigen Themen, zu denen Elternteil ein Auskunftsrecht hat, wie Entwicklung in der Schule, Gesundheit, ev. Ausbildungs- und Berufswünsche, weitere Interessen im Sport, Kunst, Hobbies. keine Fragen zu Emotionen in der aktuellen Situation.
VI. LÖSUNGSANSÄTZE Erinnerungskontakte Ausschlussgründe zu erwartende psychische oder physische Gewalt Entführungsgefahr durch den Elternteil Schwerwiegende negative Erlebnisse des Kindes mit dem Elternteil Wenn alle Lösungsansätze nicht helfen Einseitige Kontaktangebote durch Briefe oder andere Lebenszeichen: Interesse zeigen und Geduld üben.
VII. SCHLUSSPUNKT Familie A 2013: Gutachten: Kontaktabbruch aus nachvollziehbaren Gründen Empfehlung des Gutachtens Chloé (16 Jahre) : 3-4h Besuche / Monat; Daniel (15 Jahre) : Sistierung Besuchsrecht während 2 Jahren, halbjährliche Informationen durch Beistand 2014: Entscheid KESB: halbjährlicher Info-Austausch, durch Beiständin garantiert keine verpflichtende Regelung des pers. Verkehrs für Chloé und Daniel 2015: Obergericht: keine verpflichtende Regelung des persönlichen Verkehrs Erinnerungskontakte 4xjährlich à 30 Minuten (Bundesgericht, Urteil vom 12.8.2015, 5A_367/2015)
VII. SCHLUSSPUNKT Familie B Im Juli 2010 verlangte der Vater vor der damaligen Vormundschaftsbehörde die Einräumung eines persönlichen Verkehrs zu seiner damals vierjährigen Tochter, da die Mutter den Kontakt regelmässig vereitelt habe. 1. Instanz Entscheid, dass sich keine wesentliche Veränderung seit Scheidungsurteil ergeben, weshalb auf den Antrag nicht einzutreten sei. 2. Instanz Ausschlaggebendes Kriterium ist einzig das Kindeswohl, nicht allfälliges Fehlverhalten des Vaters. Es sind keine Umstände bekannt, die eine Gefährdung des Kindes bedeutet hätte. Errichtung eines begleiteten Besuchsrechts, einmal wöchentlich im Besuchstreff. (Bundesgericht, Urteil vom 07.06.2011, 5A_101/2011)
V. SCHLUSSPUNKT Beziehungen können nicht erzwungen werden. Das Recht stösst deshalb bei Beziehungsproblemen zwischen getrennt lebenden Kindern und Eltern an seine Grenzen. Die behördliche / richterliche Problemlösung stützt sich nicht nur bei Kontaktabbrüchen immer mehr auf Unterstützungsangebote der Psychologie ab auch durch Hilfe zur Selbsthilfe mittels angeordneter Beratung, Mediation oder allenfalls Therapie Persönlicher Kontakt als Grundrecht Bei Aufhebung von persönlichem Verkehr wird Kerngehalt gewahrt durch - Erinnerungskontakte - einseitige Kontakte durch Briefe / Lebenszeichen und Geduld