Tarifautonomie Tragende Säule oder bröckelnder Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft? Dr. Hagen Lesch Sankt Augustin, 30. November 2009
Tarifautonomie: Wesen und historische Wurzeln Tarifautonomie (Art. 9 (3) GG) Positive Koalitionsfreiheit Negative Koalitionsfreiheit (Folge: Außenseiterkonkurrenz) Historische Wurzeln Tarifvertragsordnung aus dem Jahr 1918 führt die Tarifautonomie ein Staatliche Zwangsschlichtung in der Weimarer Republik (1923 eingeführt) Große Bedeutung der Allgemeinverbindlichkeit Staatliche Lohnstopps als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise Flächentarifvertrag: Regelungsinstrument auf dem Rückzug Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 1
Problem: Destabilisierung des Tarifsystems Fragmentierung der Gewerkschaften Erosion der Tarifbindung Destabilisierung des Tarifsystems Forderung nach gesetzlicher Regulierung Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 2
Arbeitgeberseitige Destabilisierung Austritte aus dem Tarifverband Beispiel: Zahl der in Gesamtmetall organisierten tarifgebundenen Betriebe ging zwischen 1970 und 2008 in Westdeutschland von 9.594 auf 3.803 Betriebe zurück; beschleunigter Rückgang ab 1991 Reaktion: Gründung von Verbänden ohne Tarifbindung (OT-Verbände); 2008 schon fast 2.500 Betriebe Folgen: Rückgang der Flächentarifbindung (äußere Erosion der Tarifbindung) Einführung tariflicher Öffnungsklauseln zur Stabilisierung der Tarifbindung (innere Erosion) Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 3
Arbeitgeberverbände: Mitgliederentwicklung Tarifgebundene Mitgliedsfirmen in der M+E-Industrie 1990 bis 2008 10.000 9.000 9.365 West Gesamt Ost OT-Gesamt 8.000 7.000 6.000 7.886 6.252 5.000 4.000 4.429 4.214 4.017 3.897 3.000 2.000 1.432 1.899 2.304 2.469 1.000 0 1990 1995 2000 2005 2006 2007 2008 Quelle: Gesamtmetall Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 4
Flächentarifbindung der Betriebe in Prozent 60 50 40 30 20 10 0 West Ost 53 49 48 45 44 41 37 36 35 28 26 23 20 19 20 20 21 1995 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2007 2008 Quelle: IAB-Betriebspanel Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 5
Flächentarifbindung der Beschäftigten in Prozent 80 60 40 20 72 69 68 56 51 West Ost 63 63 61 57 56 55 46 43 41 41 40 40 0 1995 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2007 2008 Quelle: IAB-Betriebspanel Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 6
Arbeitgeberverbände: Strukturelle Änderungen Tariffreie Zonen im Handwerk und Teilen des privaten Dienstleistungssektors Beendete Tarifgemeinschaften, z.b. Öffentlicher Dienst: Tarifgemeinschaft der Länder hat die Tarifgemeinschaft mit Bund und Kommunen verlassen und 2006 erstmals eigenständig mit Ver.di verhandelt Banken: Arbeitgeberverband der Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken (AVR) schließt 2007 eigenen Tarifvertrag mit der Berufsgewerkschaft Deutscher Bankangestellten-Verband (DBV) und dem christlichen DHV Die Berufsgewerkschaft ab Kfz-Gewerbe: Innungen lösen sich 2007 als Arbeitgeberverband auf, stattdessen werden Tarifgemeinschaften mit freiwilliger Mitgliedschaft gebildet Wilde Erosion durch Tarifbruch schwindende Tariffähigkeit aufgrund mangelnder Tarifwilligkeit? Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 7
Gewerkschaftsseitige Destabilisierung Mitgliederrückgang Zahl der Mitglieder: seit 1991 stark rückläufig Organisationsgrad: seit 1991 nahezu halbiert; zuletzt noch 18 Prozent Folge: beschränkte Durchsetzungsfähigkeit, um Arbeitgeber zur Tarifbindung zu zwingen Fragmentierung Lohndruck Spartentarifverträge Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 8
Gewerkschaften: Mitgliederentwicklung 1970 bis 2008 14.000 13.000 12.000 11.000 10.000 9.000 8.000 7.000 6.000 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 Quelle: Gewerkschaften Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 9
Fragmentierung der Gewerkschaften Zwei parallele Entwicklungen Konzessionsbereite Gewerkschaften Aggressive Gewerkschaften Christliche Gewerkschaften, Spartengewerkschaften: VMF, DBV Spartengewerkschaften: VC, GDL, Marburger Bund, Ufo,GdF Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 10
Folgen der Fragmentarisierung von Gewerkschaften Risiken durch wachsende Gewerkschaftskonkurrenz Aufschaukeln von Lohnforderungen: Berufsgewerkschaften untereinander, aber auch zwischen Berufs- und Branchengewerkschaften Mehr Tarifverhandlungen mit Spartentarifverträgen Beispiel: Lufthansa muss mit Cockpit, Ufo und Ver.di verhandeln Mehr Arbeitskämpfe Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 11
Folge von Erosion und Fragmentierung Forderung nach Einschränkung der Tarifautonomie durch den Gesetzgeber Arbeitgeberseitige Destabilisierung Gewerkschaften rufen nach dem Staat: Ausweitung des AEntG, Novellierung des MindArbBedG, allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn Gewerkschaftsseitige Fragmentierung Arbeitgeber rufen nach dem Staat: Gesetzliche Garantie des Prinzips der Tarifeinheit (vereinfacht: ein Betrieb = ein Tarifvertrag) Gesetzliche Verpflichtung zur Bildung von Tarifgemeinschaften Beschränkung der Koalitionsfreiheit von Spartengewerkschaften durch die Rechtsprechung (Verhältnismäßigkeit von Streiks) und/oder Gesetzgeber Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 12
Folgen staatlicher Eingriffe für die Tarifautonomie Gesetzliche Mindestlöhne / allgemein verbindliche Löhne Staatliche Stabilisierung der Tarifbindung: wo die Tarifparteien die Tarifautonomie nicht mehr ausfüllen können, springt der Staat ein Außenseiterkonkurrenz wird zurückgedrängt (Beschränkung der negativen Koalitionsfreiheit) Gefahr einer Beschränkung der positiven Koalitionsfreiheit (Zeitarbeit) Spaltung des Tarifsystems (in tarifliche geregelte Sektoren wie der Industrie und gesetzlich regulierte Sektoren im Dienstleistungssektor oder Handwerk) Mindern gesetzliche Mindestlöhne den Anreiz, sich in Arbeitgerberbänden mit Tarifbindung oder in Gewerkschaften zu organisieren, wird die Tarifautonomie weiter zurückgedrängt Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 13
Folgen staatlicher Eingriffe für die Tarifautonomie Beschränkung der Gewerkschaftsmacht gesetzlich über Tarifgemeinschaften oder Klarstellung des Prinzips der Tarifeinheit Eingriff in die positive Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer: Art. 9 (3) GG garantiert für jedermann und für alle Berufe das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden Streikrecht: gesetzlich: obligatorische Schlichtungsverfahren Rechtsprechung: Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen prüfen Gerichtliche Inhaltskontrolle von Tarifforderungen; läuft auf Tarifzensur hinaus Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 14
Zukunft der Tarifautonomie Bilanz der letzten 15 Jahre: drei Bruchstellen der Säule schleppende Öffnung der Flächentarifverträge für abweichende betriebliche Vereinbarungen Gesetzgeber droht mit gesetzlichen Öffnungsklauseln Erosion der Tarifbindung begünstigt Anstieg des Niedriglohnsektors Gewerkschaften fordern den Gesetzgeber auf, gesetzliche Mindestlöhne einzuführen Wettbewerb durch tarifpolitisch eigenständige Spartengewerkschaften stellt den Grundsatz der Tarifeinheit in Frage Arbeitgeber denken öffentlich über eine Verschärfung des Streikrechts nach und fordern den Gesetzgeber auf, den Grundsatz der Tarifeinheit im Tarifvertragsgesetz zu verankern Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 15
Zukunft der Tarifautonomie Günstigkeitsprinzip: Regelung auch ohne Gesetzgeber Die glaubwürdige Drohung einer staatlichen Einflussnahme bewirkte, dass sich insbesondere die Gewerkschaften bewegt und die Tarifverträge inzwischen so weit flexibilisiert haben, dass von Arbeitgeberseite derzeit kein gesetzlicher Handlungsbedarf gesehen wird. Damit haben die Tarifparteien eine Bruchstelle selbst beseitigt Tarifeinheit: gesetzliche Regelung (noch) nicht notwendig Gewerkschaftswettbewerb ist bislang auf wenige Sektoren beschränkt Verhaltensänderungen durch Androhung von gesetzlichen Tarifgemeinschaften? Branchengewerkschaften reagieren schon jetzt auf die Abspaltungen; höhere Lohnforderungen und Differenzierung (siehe Kita-Tarifabschluss) Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 16
Zukunft der Tarifautonomie Mindestlohn: ohne Stabilisierung der Tarifbindung wird Gesetzgeber handeln müssen Tarifliche Differenzierungsklauseln, die Bonusregelungen für gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer vorsehen jüngste BAG-Rechtsprechung hat solche Differenzierungsklauseln grundsätzlich für zulässig erklärt (einfache Differenzierungsklausel) bessere organisatorische Basis der Gewerkschaften würde es möglich machen, Druck auf nicht-tarifgebundene Betriebe auszuüben gezielte Werbung der Tarifverbände unter den Mitgliedern der OT-Verbände kommen die Tarifparteien ihrem Freiheitsrecht nicht nach, ist der Staat zum Eingriff gefordert (grundrechtlicher Schutz- und Regelungsauftrag des Staates) Dr. Hagen Lesch, KAS - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 30. November 2009, St. Augustin 17