Der Utilitarismus und seine Kritiker. Was ist Utilitarismus? (Stichpunkte zum )

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Transkript:

Universität Dortmund, Wintersemesester 2006/07 Institut für Philosophie C. Beisbart Der Utilitarismus und seine Kritiker Was ist Utilitarismus? (Stichpunkte zum 17.10.2006) 1 Der Hintergrund 1. Die philosophische Disziplin normative Ethik versucht, in systematischer Weise Fragen wie Was soll ich tun? oder Was ist das gute Leben? zu beantworten, indem sie zum Beispiel moralische Handlungsregeln oder Normen angibt. Dabei fällt sie moralische Urteile. Die normative Ethik ist von der Metaethik zu unterscheiden. In der Metaethik geht es um den Status und die Begründung von moralischen Urteilen, wie wir sie in der Alltagspraxis und in der normativen Ethik fällen. 2. Die neuzeitliche Ethik hat als bekannteste Strömungen den Utilitarismus und die Ethik des kategorischen Imperativs (Kant, Bezeichnung nach Tugendhat 1993) hervorgebracht. Beide Strömungen geben eine Frage auf die Antwort, wann ider unter welchen Bedingungen ein Handeln richtig ist. Eine allgemeine Antwort auf diese Frage können wir ein Kriterium moralischer Richtigkeit nennen. 3. Grob gesprochen beantwortet der Utilitarismus die Frage, was moralisch richtig ist, indem er den Gesamtnutzen eines Handelns betrachtet. Für Kant ist ein Handeln dann moralisch richtig, wenn es aus Pflicht erfolgt. Handeln aus Pflicht ist Handeln aus Respekt vor dem moralischen Gesetz. Dieses moralische Gesetz ist der kategorische Imperativ. In einer bekannten Formulierung fordert der kategorische Imperativ, daß der Akteur die Maxime seines Handelns verallgemeinert. Dabei ist die Maxime eine relativ allgemeine Policy, die das Selbstverständnis eines Akteurs zur Geltung bringt. Daß sich die Maxime eines Handelns verallgemeinern läßt, bedeutet folgendes: 1. Man kann sich vorstellen, daß jeder Mensch nach dieser Maxime handelt. 2. Man kann es wollen, daß jeder Mensch nach dieser Maxime handelt. 4. Ein konkretes Beispiel, in dem sich zeigt, daß die utilitaristische Ethik und die Ethik des kategorischen Imperativs zu unterschiedlichen Einschätzungen eines Handelns gelangen, ist vielleicht wie folgt: Jemand bricht ein Versprechen, weil sein Einhaltung niemandem nutzt. Der Utilitarist würde sagen, daß es richtig ist, das Versprechen nicht zu halten. Kant würde sagen, daß sich eine Maxime, der zufolge man Versprechen nicht halten muß, gar nicht verallgemeinert werden kann, weil es nicht denkbar ist, daß jeder keine Versprechen hält in einer solchen Situation würde die Institution des Versprechens gar nicht mehr funktionieren. 5. Wir wollen uns in diesem Seminar mit dem Utilitarismus befassen. Ein erstes Ziel ist es, zu präzisiseren, was der Utilitarismus sagt. Dabei soll auch die Struktur des Utilitarismus herausgearbeitet werden. 1

2 Was ist der Utilitarismus? 1. In Utilitarianism (1861 erstmals veröffentlicht) definiert Mill Utilitarismus wie folgt (Kapitel 2, übersetzt von C.B.): Die Position, die Nutzen oder das Prinzip des größten Glücks als Basis der Moral annimmt, behauptet, daß Handlungen in dem Maße (moralisch) richtig sind, als sie dazu neigen, Glück zu befördern, und daß Handlungen in dem Maße (moralisch) falsch sind, als sie dazu neigen, das Gegenteil von Glück zu befördern. 2. Dieses Prinzip gibt hinreichende und notwendige Bedinungen dafür an, daß ein Handeln richtig ist. Es ist nicht notwendig als Definition von richtig zu verstehen 3. Diese Formulierung ist allerdings eigenartig; in der Alltagssprache graduieren wir nämlich den Begriff richtig nicht wir sagen nicht, es sei richtiger, ϕ zu tun als ψ zu tun. Allgemeiner gibt es zwei Klassen von Prädikaten, mit denen wir Handlungen moralisch beurteilen. Die einen sind graduier- oder steigerbar wie etwa hilfreich oder gut wir sagen etwa, etwas sei besser als etwas anderes. Die anderen genügen einer binären Logik wie verboten, geboten, erlaubt und Pflicht. Entweder ist es meine Pflicht, den Armen in der Welt zu helfen, oder das nicht der Fall ein Dazwischen gibt es nicht. Um die beiden Arten von Beurteilungen zu unterscheiden, differenziert man manchmal zwischen deontischen und evaluativen Begriffen (so etwa Dancy 2004). 4. Das Problem, das sich hier ergibt, hat einen systematischen Grund: Während richtig nicht graduierbar ist, kann ein Handeln mehr oder weniger Tendenz haben, das Glück auf der Welt zu befördern. Um dieses Problem zu vermeiden, graduiert Mill die Richtigkeit. 5. Eine Möglichkeit, dieses Problem zu beheben, sieht wie folgt aus: Wir ersetzen richtig durch gut. Wir erhalten: U1 Ein Handeln ist in dem Maße gut, als es dazu neigt, Glück zu befördern (und in dem Maße schlecht, als es dazu neigt, das Gegenteil von Glück zu befördern). Damit ist zwar das Problem vermieden, aber wir haben nun keine Ausage mehr über das, was richtig zu tun ist. Damit haben wir implizit das Thema geändert. Da moralische Richtigkeit sehr wichtig ist, werden wir im folgenden nur noch Versuche betrachten, Mills Kriterium als Kriterium der Richtigkeit zu präzisieren. Der Einfachheit lassen wir im folgenden die Falschheit zuächst außer Betracht. 6. Naheliegend ist nun folgender Vorschlag. U2 Ein Handeln ist richtig, wenn es am meisten dazu neigt, Glück hervorzubringen. Am meisten dazu neigen ist nun nicht mehr graduierbar. Daher haben wir das Problem von Mill gelöst. Die Rede von einem am meisten setzt nun voraus, daß wir eine Vergleichsklasse angeben, innerhalb derer dieses am meisten gilt. Utilitaristen nehmen an, daß diese Klasse die Klasse aller dem Akteur möglichen Handlungsoptionen ist. 2

7. Nun kann ein Handeln aber auch mehr oder weniger Glück hervorbringen. Das liegt erstens daran, daß wir als einzelne Personen mehr oder weniger glücklich sein können. In diesem Sinne sagen wir etwa: Heute bin ich glücklicher als damals. Zweitens kann ein Handeln mehr oder weniger Glück hervorbringen, weil mehr oder weniger Leute an dem Glück partizipieren können (s. dazu unten). Daher gibt es auch folgende Alternativen zu U2: U3 Ein Handeln ist richtig, wenn es dazu neigt, am meisten Glück hervorzubringen. und U4 Ein Handeln ist richtig, wenn es am meisten dazu neigt, am meisten Glück hervorzubringen. Das wirft die Frage auf, welches dieser Kriterien nun richtig ist. Um das zu sehen, müssen wir erstmal verstehen, worin sich diese Kriterien unterscheiden. Was heißt es also, dazu zu neigen, Glück zu befördern? Einer naheliegenden Interpretation zufolge, handeln wir immer unter den Bedingungen unvollständigen Wissens. Ich weiß nicht, ob ich mich erkälten werde, wenn zum Urlaub nach Norwegen fahre etc. Ein Handeln hat dann eine größere Tendenz, das Glück zu befördern, wenn es wahrscheinlicher Glück befördert, wenn also die Wahrscheinlichkeit größer ist, daß auf diese Weise Glück befördert wird. Um die Diskussion zu vereinfachen, wollen wir annehmen, daß sich das Ausmaß an Glück und die Wahrscheinlichkeit, Glück zu befördern, quantifizieren lassen. Wir betrachten folgendes Beispiel: Elmar überlegt sich, ob es für ihn richtig ist, Musik oder Mathematik zu studieren. 1 Bei jedem Fall ist nicht klar, ob Elmar das Examen schafft. Bei Musik ist die Wahrhscheinlichkeit durchzufallen, 90%, bei Mathematik dagegen nur 20%. Wenn Elmar Musik studiert und das Examen schafft, dann kann er viele Leute glücklich machen (Ausmaß an Glück gegenüber dem Status quo: 100). Wenn er das Musik-Examen nicht schafft, dann macht er niemanden glücklich (Glück: 0). Wenn Elmar Mathematik studiert und das Examen schafft, dann macht er einige Leute glücklich (Glück: 40). Wenn er das Mathematik-Examen nicht schafft, dann macht er niemanden glücklich (Glück: 0). Die Zahlen lassen sich in folgendem Entscheidungsbaum darstellen. Dabei bezeichnet die Zahl über einem Pfeil die Wahrscheinlichkeit dafür, daß das Ereignis eintritt, auf das der Pfeil 1 Man mag einwenden, daß es in diesem Beispiel gar nicht um Moral geht. Der Utilitarismus hat jedoch die Tendenz, auch solche Fragen zu moralisieren. 3

deutet. bestanden Gl : 100 0.1 Musik 0.9 nicht bestanden Gl : 0 A bestanden Gl : 40 0.8 Mathematik 0.2 nicht bestanden Gl : 0 Anhand dieses Baumes können wir uns schnell klarmachen, daß U2 U4 präzisierungsbedürftig sind, keinen Sinn ergeben oder nicht einsichtig sind. Nach U2 ist es richtig, die Handlung zu wählen, die mit der größten Wahrscheinlichkeit zum Glück führt. Aber was heißt es, zum Glück zu führen? Ein Handeln kann immer nur zu mehr oder weniger Glück führen. Nach U3 ist es richtig, die dazu neigt, zum größten Glück zu führen. Aber was heißt es, dazu zu neigen,...? Ein plausble Interpretation lautet wie folgt: Ein Handeln neigt zu etwas, wenn es mit einer von Null verschiedenen Wahrscheinlichkeit dazu führt. Dann wäre hier das Musik-Studium richtig. Allerdings wäre dann allgemeiner diejenige Handlung richtig, die auch nur mit einer minimalen Wahrscheinlichkeit zum größten Glück führt. Das erscheint jedoch unvernünftig. U4 ist mehrdeutig. Es kann entweder gemeint sein: U4 1 Ein Handeln ist richtig, wenn die Wahrscheinlichkeit, daß das größte je mögliche Glück erreicht wird, maximal ist. In diesem Fall müßte Elmar Musik studieren. Oder U4 2 Ein Handeln ist richtig, wenn das Glück, daß mit der größten Wahrscheinlichkeit erreicht wird, maximal ist. In diesem Fall wäre es richtig für Elmar, Mathematik zu studieren. Ähnlich wie U3 führen jedoch die beiden Interpretationen von U4 auf kontrainutive Forderungen. Das liegt daran, daß die Wahrscheinlichkeiten und das Glück nicht richtig verrechnet werden. In unserem Beispiel gibt es einen trade-off zwischen Wahrscheinlichkeit und Glück: Die Option Musik führt mit geringer Wahrscheinlichkeit zu einem großen Glück; die Option Mathematik führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem moderaten Glück. Um das richtig erfassen zu können, muß man für beide Optionen das erwartete Glück berechnen. Für die Option Musik ist es: 0.1 100+0.9 0 = 10. Für die Option Mathematik ist es: 0.8 40+0.2 0 = 32. Da das erwartete Glück unter Mathematik größer ist, ist es richtig, Mathematik zu studieren. Wir erhalten damit: U5 Ein Handeln ist richtig, wenn das erwartete Glück maximal ist. 4

U5 setzt voraus, daß wir sowohl Glück als auch Wahrscheinlichkeiten quantifizieren können. Ein Analogon zu U5 ist aus der Entscheidungstheorie bekannt (Resnik 2000). 8. Nun definiert Mill aber auch falsches Handeln, und zwar ganz analog wie richtiges Handeln. Das legt zunächst den Verdacht nahe, wir müßten U5 durch U6 ergänzen: U6 Ein Handeln ist falsch, wenn das erwartete Gegenteil von Glück maximal ist. Das setzt voraus, daß wir neben dem Glück auch das Gegenteil von Glück, kurz Unglück, quantifizieren können. U5 und U6 zusammen ergeben jedoch ein Problem. Man kann sich leicht Beispiele ausdenken, in denen ein Handeln sowohl falsch als auch richtig ist. Das kann aber nicht sein! Außerdem lassen U5 und U6 die Möglichkeit offen, daß ein Handeln weder richtig noch falsch ist. Das grundlegende Problem ist hier folgendes: Um zu bestimmen, ob ein Handeln richtig ist, müssen wir Glück und Unglück, das durch das Handeln hervorgebracht wird, in ein Verhältnis setzen. Wieder gibt es hier einen trade-off, diesmal zwischen Glück und Unglück. Der Utilitarist versucht nun, Glück und Unglück miteinander zu verrechnen. Wiederum ist nicht klar, ob das möglich ist. Nehmen wir aber einmal an, wir könnten Glück und Unglück verrechnen, indem wir den Betrag von Unglück von dem Betrag von Glück abziehen. Die resultierende Größe nennen wir Nutzen. Wir müssen nun offenbar auch U5 ersetzen. Es lautet nun: U5 Ein Handeln ist richtig, wenn der erwartete Nutzen maximal ist. Was Falschheit angeht, so empfiehlt sich folgende Aussage: U6 Ein Handeln ist falsch, wenn es nicht richtig ist. 9. Insgesamt erhalten wir also: U Ein Handeln ist richtig, wenn das erwartete Nutzen maximal ist; es ist falsch, wenn der erwartete Nutzen nicht maximal ist. 10. Auch U ist jedoch noch mit einem Problem behaftet. Das macht man sich am besten an einem Beispiel klar. Nehmen wir an, ein Arzt hat einen Patienten, der sich über Schmerzen am Bauch beklagt. Nach sorgfältiger Prüfung kommt er zu dem Ergebnis, daß dem Patienten das Medikament X hilft, und daß durch die Weitergabe dieses Medikaments der Nutzen maximiert wird. Er gibt dem Patienten eine Flasche X. Allerdings erzeugt das Medikament bei dem Patienten sehr schmerzhafte Krämpfe, weil die Flasche X ein Produktionsfehler war. Wir wollen annehmen, daß er daher nicht den Nutzen maximiert hat. Nach U gilt daher auch: Es war nicht richtig vom Arzt, dem Patienten X zu geben. Diese Aussage klingt jedoch etwas schief, schließlich hat der Arzt keinen Fehler gemacht und sein Bestes gegeben. Um dieses Problem zu lösen (vgl. Schönecker & Wood 2002), kann man zwischen objektiver und subjektiver Richtigkeit unterscheiden. U gibt an, wann ein Handeln objektiv richtig oder falsch ist. Zusätzlich gilt U sub Ein Handeln ist subjektiv richtig, wenn es relativ auf den Erkenntnisstand des Akteurs richtig ist, d.h. grob, wenn es in einer Welt, die so ist, wie sie sich der Akteur denkt, objektiv richtig ist. 5

Im folgenden wollen wir von U und von U sub ausgehen. 3 Weitere Eigenschaften von Mills Utilitarismus 1. In U ist vom Nutzen die Rede, und dieser führt nach Mill auf Glück und Unglück zurück. Aber wessen Glück ist gemeint? Fast alle Utilitaristen gehen davon aus, daß es hier um das Glück aller Menschen oder sogar aller fühlenden Wesen geht. Das ist insofern einleuchtend, als es in der Moral ja nicht nur um den Akteur selber oder seine unmittelbaren Angehörigen geht. 2. In Mills Utilitarismus geht es um das Glück. Nun unterscheiden wir zwischen zwei Begriffen von Glück: Das Zufallsglück (gr. tyche, engl. luck, dt. Glück haben) und das Glücklichsein (gr. eudaimonia, dt. glücklich sein). Zufallsglück hat, wer im Lotto gewinnt; aber daraus folgt noch nicht, daß er auch glücklich ist, ein glückliches Leben führt. Offenbar geht es beim Utilitarismus nicht um das Zufallsglück. Mill erläutert den Glücksbegriff, indem er auf Lust/Freude (pleasure) und Schmerz (pain) verweist. Mills Utilitarismus gilt daher als hedonistisch (gr. hedone, Lust, Freude). Ein hedonistischer Glücksbegriff ist notwendig subjektivistisch: Ob jemand glücklich ist, hängt allein davon ab, wie er sich fühlt, was er empfindet etc. Ein objektivistischer Glücksbegriff liegt dann vor, wenn das Glück an das Vorliegen von Bedingungen geknüpft wird, die unabhängig vom Subjekt bestehen können. In diesem Sinne könnte man behaupten, eine Person sei nur dann glücklich, wenn sie sinnvollen Tätigkeiten nachgeht, die ihren Fähigkeiten entsprechen. Mill ist so ein Glücksbegriff fremd. Literaturverzeichnis Dancy, J., Ethics without Principles, Oxford University Press, Oxford, 2004. Resnik, M. D., Choices. An Introduction to Decision Theory, University of Minnesota Press, Minneapolis, 2000. Schönecker, D. & Wood, A. W., Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten : Ein einführender Kommentar, Schöningh, Paderborn, 2002. Tugendhat, E., Vorlesungen über Ethik, erste ed., Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1993. 6