Vortrag Gitta Pötter Einblick in die Situation im Land Brandenburg Vortrag beim Runden Tisch" zum Thema Familienpolitik und frühe Hilfen Frühförderung als Chance für Familien am 30. April 2008 in Potsdam Sehr geehrte Damen und Herren, anknüpfend an den Vortrag von Herrn Prof. Dr. Weiß möchte ich zunächst auf die Erfassung der seelischen Gesundheit von Brandenburger Kindern eingehen. Nutzen konnte ich dafür einige Daten, die auf Grundlage der Leitlinien zur einheitlichen Durchführung und Dokumentation des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) durch das Landesgesundheitsamt jährlich erhoben und ausgewertet werden. Wie ich übrigens auf dem Münchner Symposion für Frühförderung von Herrn Prof. Schlack hörte, ist Brandenburg mit diesen Leitlinien beispielhaft in der Erfassung sozialer Daten zur seelischen Gesundheit von Kindern und familiären Bedingungen. Diese sind u. a. in der KICK-Studie integriert. So führt das Landesgesundheitsamt (LGA) aus, dass eine vollständige Inanspruchnahme der U8 und U9 von dem Sozialstatus der Eltern abhängig ist und ein weiterer Zusammenhang zwischen dem Sozialstatus der Eltern und der Erstüberweisung zur Frühförderung besteht. (Anlage 1 und 2) Auch ist deutlich erkennbar, dass es mehr Hauskinder aus sozial schwachen Elternhäusern gibt und damit diesen Kindern wichtige soziale Erfahrungen im Vorschulalter mit gleichaltrigen Kindern fehlen. (Anlage 3) Zur seelischen Gesundheit der Kinder werden standardisierte Verhaltensfragen in der Anamnese erfasst (Anlage 4 und 5) und entsprechend dokumentiert (Anlage 6). Frau Dr. Ellsäßer zog in einem vor kurzen gehaltenen Bericht folgende Schlussfolgerung: 1. Die Leitlinien und ihre Umsetzung setzen einen hohen Qualitätsstandard zur einheitlichen Durchführung und Dokumentation der kinder- und jugendärztlichen Untersuchungen. 2. Wichtig ist eine enge Kooperation mit den niedergelassenen Kinderärzten, anderen Fachkräften, Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) und Frühförder- und Beratungsstellen (FFB) für das Tracking von Risikokindern bzw. der eingeleiteten Maßnahmen. Diese Kooperation des ÖGD mit den Brandenburger Frühförder- und Beratungsstellen und Sozialpädiatrischen Zentren hat sich u. a. aufgrund der gewachsenen Arbeitsprinzipien der 43 Frühförder- und Beratungsstellen in Haupt- und Zweigstellen und der 4 Sozialpädiatrischen Zentren (Anlage 7) kontinuierlich entwickelt.
Auf die Arbeitsprinzipien der FFB s möchte ich kurz eingehen, da sie für unser heutiges Tagesthema wichtig sind: Die Möglichkeit der Mobilität der Frühförderung wie sie der Deutsche Bildungsrat bereits 1974 forderte wird in allen Frühförder- und Beratungsstellen umgesetzt. Aufsuchende Frühförderung unter Einbeziehung der Familien bildet (noch) den Schwerpunkt der Frühförderarbeit. Die Familienorientierung bindet die Eltern in den direkten Förderprozess ein, zu 88% durch mobile Angebote in der Häuslichkeit, bei Bedarf in der Kita des Kindes oder in der Frühförderund Beratungsstelle. (Anlage 8) Ein großes Augenmerk der Frühförderung liegt dabei auf der Gestaltung von familiär anregenden Situationen, die entscheidenden Einfluss auf die Qualität der Interaktion zwischen Eltern/Bezugspersonen und ihrem Kind haben und die durch ein angepasstes Agieren der Eltern die Weiterentwicklung der Eigenaktivität des Kindes ermöglichen. Dafür müssen Rahmenbedingungen, die Rollenverteilung in der Familie, Abläufe und familiäre Situationen von der Frühförderin erspürt werden. Das Erspüren / Wahrnehmen / Beobachten beginnt in der Erstberatung und setzt sich in der interdisziplinären Diagnostik und im Förderprozess selbst fort. Ein Dokumentationsvorschlag befindet sich in den Praktischen Handreichungen für die interdisziplinäre Frühförderung. Die darin enthaltene Anamnese ist inhaltlich mit dem Landesgesundheitsamt Brandenburg abgestimmt. Die Ganzheitlichkeit meint, dass im frühen Lebensabschnitt eines Kindes motorische, geistige, soziale, emotionale und sprachliche Dimensionen seiner Entwicklung in besonders intensiver Wechselwirkung zueinander stehen und in den Frühförder- und Beratungsstellen im Förderungsprozess berücksichtigt werden, die berufspraktischen Kompetenzen, theoretische Konzepte und die Methodenvielfalt der Fachkräfte darauf ausgerichtet sein müssen. Die Bestandsaufnahme der Frühförder- und Beratungsstellen in 2006 bestätigte, dass behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder zu spät finanziert in der Frühförderung sind. (Anlage 9) Psychische Auffälligkeiten und Wahrnehmensstörungen sind prozentual häufig vertreten. (Anlage 10) 3. Das Wissen über die frühe Entwicklung ist inzwischen sehr hoch, so dass eine einzelne Berufsgruppe alle Aspekte, die für die Förderung und Behandlung eines Kindes und die Beratung seiner Eltern wichtig sind, nicht allein überblicken kann. Die Frühförderungsverordnung (FrühV) hat erstmals die notwendige, teilweise schon vorhandene Interdisziplinarität als Komplexleistung beschrieben und in ein Gesetz gegossen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Professionen innerhalb der Brandenburger Frühförder- und Beratungsstellen mit Schwerpunkt im heilpädagogischen Bereich wird bisher, wie in der Übersicht erkennbar, umgesetzt. Somit bestehen in allen Frühförder- und Beratungsstellen interdisziplinäre Strukturen als Voraussetzung zur Weiterentwicklung Richtung Komplexleistung. (wobei Begriffe Institutionsbezogen und Leistungsbezogen unterschiedlich verstanden werden) (Anlage 11) Zusatzqualifikationen wurden und werden vom Personal u. a. zur Umsetzung der interdisziplinären Diagnostik absolviert. (Anlage 12) Zusammenfassend kann eingeschätzt werden, dass die Brandenburger Frühförder- und Beratungsstellen mit ihren vorhandenen Rahmenbedingungen - wie die hohe mobile Arbeitsweise, einem Pool an verschiedenen Fachkräften und Kooperationspartnern (Anlage 13) - gerade in sozial benachteiligte Familien mit entwicklungsverzögerten Kindern hineinwirken können.
Wie Prof. Dr. Weiß ausführte, gibt es Statistiken die aussagen, dass 90 % vernachlässigter Kinder aus Armutslagen stammen und die unteren sozialen Schichten nahezu in allen Behinderungsarten überproportional betroffen sind. Ein enger Zusammenhang besteht zwischen Armut und Lebensqualität. Die Frühförder- und Beratungsstellen leisten durch ihre aufsuchende Familienarbeit neben ihrem Förder- und Beratungsauftrag einen großen Beitrag, schwierige familiäre Situationen zu erkennen und notwendige Kooperationen mit Jugendämtern, Gesundheitsämtern und Weiteren anzuregen. Dieses Wissen macht eine Vernetzung aller Frühen Hilfen notwendig. Angebote von Frühen Hilfen gibt es im Land Brandenburg einige: Familienhebammen, Familienbildung, Steep, Bauspielplatz, Eltern-Kind-Gruppen, Bildungsangebote, etc Ob alle voneinander wissen und abgestimmt arbeiten, hängt oft von der Initiative Einzelner ab. Der Leitfaden Früherkennung von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zeigt beispielhaft die Notwendigkeit gut funktionierender Vernetzungsstrukturen zum Kinderschutz auf. Ein Landtagsbeschluss zu Lokalen Netzwerken Gesunde Kinder, in dem u. a. die Kooperation zwischen den Netzwerken, den Hebammen, den Frühförder- und Beratungsstellen und den Sozialpädiatrischen Zentren benannt ist, wird aus meiner Sicht durch die aufsuchende Familienarbeit dazu beitragen, die Unterstützung der Entwicklung von Kindern in prekären Lagen auf mehreren Ebenen und nur in Vernetzung der verschiedenen Hilfssysteme sinnvoll und effektiv frühzeitiger als bisher sicherzustellen. Über die Einbindung der Netzwerkkoordinatorinnen in regionalen Arbeitskreisen zur Frühförderung wird die Zusammenarbeit bereits in einigen Regionen konkretisiert. Eine Checkliste zur Frühförderung für Familienhebammen und Paten wird in 2 regionalen Arbeitskreisen Frühförderung aktuell entwickelt (Wann vermittle ich an die Frühförder- und Beratungsstelle weiter?). Im Landkreis Dahme-Spreewald wird das Thema Kinderschutz und frühe Hilfen im Arbeitskreis Frühförderung vertieft. Der Blick über den Tellerrand aller Beteiligten ist dabei wichtig. Ein wesentlicher Punkt ist auch die Begriffsdefinition Frühe Hilfen. Im alt hergesehenen Sinne entstand Frühförderung unter diesem Begriff. Seither gibt es unter dem Begriff Frühe Hilfen viele Konzepte und Initiativen, die nur in Kenntnis voneinander mit und in Familien abgestimmt tätig werden sollten. Aus Meiner Sicht bildet das heutige erste Round-Table-Gespräch der Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung (VIFF) und der Landesarbeitsgemeinschaft Sozialpädiatrische Zentren Brandenburg einen guten Rahmen, um die Frage der Vernetzung Früher Hilfen und die Rolle der Frühförderung darin zu vertiefen. Vielleicht kann dieses Round-Table-Gespräch der kontinuierliche Beginn einer Veranstaltungsreihe sein, um miteinander im Gespräch zu bleiben und wichtige Inhalte gemeinsam zu klären. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Anlage 1 Vollständige Inanspruchnahme der U8 und U9 nach Sozialstatus - Einschulungskinder 2004 90% 80% 70% 60% 61,8% 59,3% 78,7% 81,4% 74,5% 75,7% U8 vollständig U9 vollständig 50% 40% 30% 20% 10% 0% niedriger Sozialstatus (N=3.685) mittlerer Sozialstatus (N=10.078) hoher Sozialstatus (N=4.674) Quelle: LGA Brandenburg, Einschulungsuntersuchungen
Anlage 2 Erstüberweisungen bei medizinisch relevanten Befunden von Einschülern nach dem Sozialstatus - Trend in % untersuchter Kinder 25% 20% 15% 10% 5% 0% 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 Sozialstatus niedrig Sozialstatus mittel Sozialstatus hoch Quelle: LGA Brandenburg, Einschulungsuntersuchungen
Anlage 3 Sozialstatus der Eltern von Kindern, die eine Kita bzw. keine Kita besucht haben - Einschüler 2004 (n = 17.221) 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Hauskind Kitabesuch Sozialstatus hoch Sozialstatus mittel Sozialstatus niedrig Quelle: LGA Brandenburg, Einschulungsuntersuchungen
Anlage 4 Seelische Gesundheit Standardisierte Verhaltensfragen in der Anamnese zu psychischen und sozialen Auffälligkeiten sowie ein mögliches Suchtpotential Emot./soziale Störung Anamnesebögen Kita Einschulung 5./6. Klasse 10. Klasse - Angststörung x x x x - soziale Störung x x x (x) - Depressive Störung x x - Essstörung x x - Tabakabhängigkeit x x - Alkoholmissbrauch x x ADHS/Hyperaktivität x x x x Enuresis x x Quelle: LGA Brandenburg, Einschulungsuntersuchungen
Anlage 5 IT-gestützte ärztliche Dokumentation der Gesundheit der Kinder Zur Gesundheit Zur Versorgung Teilnahme an der U1-U7, U8,U9 Dauer des Kitabesuches Impfstatus Handlungsbedarf (diagnostisch, medizinisch-therapeutisch und Frühförderbedarf) Zur sozialen Lage Schulbildung, Erwerbstätigkeit, Anzahl der Kinder Quelle: LGA Brandenburg, Einschulungsuntersuchungen
Anlage 6 Funktionsbefunde Konzept der funktionalen Gesundheit im Sinne der ICF Funktionsbefunde erfassen aktuelle gesundheitliche Beeinträchtigungen mit Auswirkungen auf den Alltag des Kindes in Familie, Kita und Schule Gesundheitliche Risiken, die eine künftige Beeinträchtigung wahrscheinlich werden lassen
Anlage 7 Land Brandenburg Land Brandenburg Prenzlau Prenzlau Wittenberge Pritzwalk Pritzwalk Wittstock Wittstock GA Templin Templin Schwedt Schwedt Angermuende Wittenberge GA Eberswalde Kyritz Kyritz Rathenow Rathenow Neuruppin Neuruppin Oranienburg Oranienburg Falkensee Eberswalde Bad Freienwalde Falkenberg Bernau Bernau Falkensee Muencheberg Müncheberg JA Belzig Lehnin Belzig Teltow Teltow Luckenwalde Luckenwalde Koenigs Königs Wusterhausen Wusterhausen GA Fuerstenwalde Fürstenwalde Eisenhuettenstadt Eisenhüttenstadt Potsdam Potsdam 2 Dahme Dahme Herzberg Herzberg Luckau Luckau Finsterwalde Finsterwalde Lurbben Lübben Luebbenau Lübbenau GA GA GA Guben Guben Forst Elsterwerda Elsterwerda Senftenberg Spremberg Spremberg 1 = Brandenburg 1 Brandenburg 2 = Potsdam 2 Potsdam 3 = Frankfurt / Oder 3 Frankfurt / Oder 4 = Cottbus 4 Cottbus Senftenberg
Anlage 8 Durchschnittlicher Anteil mobiler und ambulanter Frühförderung 2003 und 2006 100 83 88 80 60 40 20 17 12 mobil in der Lebenswelt des Kindes (Häuslichkeit und/oder Kita) ambulant in der Frühförder- und Beratungsstelle 0 2003 2006
Anlage 9 Alter der geförderten Kinder 800 700 600 500 400 300 200 100 0 0-1 Jahr 1-2 Jahre 2-3 Jahre 3-4 Jahre 4-5 Jahre 5-6 Jahre 6-7 Jahre älter als 7 Jahre Bildet man den Durchschnitt dieser Antworten, sind die in den Brandenburger Frühförder- und Beratungsstellen geförderten Kinder im Jahr 2006 im Durchschnitt 4,5 Jahre alt. Durch den Vergleich mit den Vorjahren 1999 4,7 Jahre, 2003 4,5 Jahre lässt sich vermuten, dass die Kinder zu spät in der Frühförderung ankommen.
Anlage 10 Diagnosen / Auffälligkeiten der Kinder mit Frühförderbeginn 0 5 10 15 20 25 30 allgemeine Entwicklungsverzögerung 26 psychische Auffälligkeiten 18 körperliche Behinderung 20 geistige Behinderung 19 Sehstörung 9 Hörstörung 12 Sprachstörung 25 Mehrfachbehinderung 21 Wahrnehmungsstörung 25 Autismus 2
Anlage 11 Berufsgruppen in den Frühförder- und Beratungsstellen 0% 20% 40% 60% 80% 100% 120% HeilpädagogInnen 100% Dipl.-PädagogInnen/Rehabilitationspäd. 59% ErgotherapeutInnen 50% ErzieherInnen mit Zusatzausb. 41% HeilerziehungspflegerInnen 36% SozialpädagogInnen PhysiotherapeutInnen 32% 32% SonderpädagogInnen 18% ErzieherInnen LogopädInnen Diplom-PsychologInnen 13% 13% 13% SprachtherapeutInnen Verwaltungskraft 9% 9% KinderärztInnen MotopädInnen 4% 4%
Anlage 12 Zusatzqualifikationen des Personals 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Heilpädagogische Diagnostik Psychomotorik SI-Kurs Grundlagen Systemische Familientherapie Autismus-Grundkurs ADHS Förderung von Kindern mit Sprachauffälligkeiten 5 6 6 7 8 13 17
Anlage 13 Kooperationspartner 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Physiotherapeutische Praxen Ergotherapeutische Praxen Logopädigsche Praxen 91% 95% 95% Arztpraxen Jugendamt 82% 82% Sozialamt Gesundheitsamt 95% 95% Schulamt Sozialpädagogische Familienhilfe 73% 77% Erziehungs- u. Beratungsstellen 68% Sozialpädiatrische Zentren 91% Kliniken 82% Psychologen 77% Schulen 59% Kindertagesstätten 86%