Die Bewegungswahrnehmung

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Transkript:

1 Universität Trier: FB I Philosophie WS 2006/07: Berkeley: New Theory of Vision [Dr. P. Natterer] Die Bewegungswahrnehmung Paul Natterer Berkeleys Stellungnahme ist hierzu, wie nicht zu verwundern: Die Bewegungswahrnehmung von Gesichtssinn und Tastsinn ist der Art nach verschieden ( 137): Nun scheint es keinen weiteren Beweises zu bedürfen, daß sichtbare Bewegung nicht von derselben Art wie tastbare ist ( 137). Dazu im folgenden eine interdisziplinäre Diskussion und Wertung. Sie wird zeigen: Entgegen der Theory ist die Bewegungswahrnehmung das Produkt multisensorischer Integration (Konvergenz) in numerisch und spezifisch einer Wahrnehmung. Dies bedeutet freilich nicht eine rein äußerliche oder willkürliche Zuordnung oder Konvergenz des Dateneingangs der unterschiedlichen sensorischen Räume, sondern es handelt sich um die Zusammenarbeit von Koprinzipien zur Konstitution des einen Erfahrungsraumes und ein- und derselben Objekte und Ereignisse. Im Einzelnen wird diese multisensorische Zusammenführung oder Konvergenz durch drei Bewegungswahrnehmungs-Systeme verwirklicht: das visuelle Netzhautbild-System, das Augen-Kopf-System der Selbstwahrnehmung und den Vestibularapparat (Lagesinn). Beim Netzhautbild-System stehen wir den bekannten drei Stufen der Informationsverarbeitung in Wahrnehmung und Kognition gegenüber: Merkmalsextraktion Wahrnehmungsorganisation begriffliche Interpretation. Die Bewegungsmuster-Extraktion geschieht durch neuronale Bewegungsdetektoren, geeicht für eine je spezifische Bewegungsrichtung und ein Bewegungstempo. Die erststufige Verarbeitung von visuellen Bewegungsinformationen erfolgt im Pfad der Sehbahn mit dem Magno- Zell-Typus, der v.a. in den Scheitellappen des Gehirns endet. Die Wahrnehmungsschwelle für Bewegung liegt bei 0, 25 mm in der Sekunde oder 3/100 Grad des Sehwinkels/Sekunde und zeigt einen fast unglaublichen Grad von Bewegungsempfindlichkeit. Zur höherstufigen geometrischen Wahrnehmungsorganisation und begrifflichen Interpretation der Bewegungswahrnehmung: Bewegungsillusionen wie induzierte Scheinbewegungen durch schnell hintereinander dargebotene und veränderte Reize, führen auf das Bewegungskonstanz-Problem

2 Universität Trier: FB I Philosophie WS 2006/07: Berkeley: New Theory of Vision [Dr. P. Natterer] und dessen Lösung durch höherstufige, genetisch und neuronal kodierte objektive Intelligenz. Dieser Gesichtspunkt ist nicht nur theoretisch, sondern die Basis für Film und Fernsehen, die technisch von induzierter Bewegungsillusion: 24 Mal/Sekunde im Film und 30 Mal/Sekunde beim Fernsehen, abhängen. Ein zweiter experimenteller Befund für höherstufige sei es in Form angeborener, genetischer Auslösemechanismen, sei es in Form von in der Individualentwicklung erlernter prozessualer Mustererkennung Informationsverarbeitung in der Bewegungswahrnehmung ist die sogenannte biologische Bewegung. Diese besteht aus den schwierigen geordneten Bewegungsmustern der Skelettstruktur des menschlichen Körpers, z.b. beim Gehen. Forschungen hierzu zeigen, dass die visuelle Identifizierung von Geschlechtern und Einzelpersonen ähnlich präzise und eindeutig über ihre biologischen Bewegungsmuster erfolgt wie über die Wahrnehmung der individuellen Gesichter. Das Augen-Kopf-Bewegungssystem erlaubt die Erfassung von bewegten Objekten, auch wenn das Netzhautbild an derselben Stelle fixiert bleibt (und auch sonst keine Bewegungsindizien wie Überdeckungsverhältnisse vorliegen). Das ist der Fall, wenn wir mit den Augen ein sich bewegendes Objekt (Auto, Flugzeug, Ball...) verfolgen, um mit dieser Augenbewegung die Abbildung des Zielobjektes auf der Fovea, dem zentralen Bereich der Netzhaut mit dem schärfsten Auflösungsvermögen, zu halten. Diese Augenfolge-Bewegung kann entweder ein automatischer Reflex sein zum Ausgleich von Kopfbewegungen und ist dann kontrolliert vom Vestibularsystem; oder sie kann willkürlich erfolgen zur Fixation eines bewegten Objektes auf der Fovea trotz dessen Wanderung über die Netzhaut. Letztere liefert den größeren Anteil an Bewegungsinformation. Das Augen-Kopf-Bewegungssystem ist ebenfall verantwortlich für die Positions-Konstanz der Umwelt trotz unserer oft heftigen Eigenbewegungen und für die Richtungskonstanz der Objekte der Umwelt trotz Kopf- und Augenrotationen. Es ist m.a.w. verantwortlich für die Unterscheidung echter objekterzeugter von unechten beobachtergenerierten Netzhautbewegungen. Man hat zwei theoretische Konzeptionen zur Arbeitsweise der Bewegungswahrnehmung des Augen-Kopf-Systems entwickelt: die Einflusstheorie von Ch. Sherrington (1906), die eine Rückmeldung von der Augenmuskulatur nach erfolgter Bewegung annimmt; und die Ausflusstheorie von H. v. Helmholtz (1909), die eine neuronale Kopie der motorischen Signale für die Augenmotorik an multisensorische Assoziationszentren vor der Bewegung ansetzt. Für beide Theorien hat man experimentelle Bestätigung gefunden, so dass hier beides mitspielt. Nicht für Wahrnehmung von Objektbewegungen und auch nicht direkt für die Wahrnehmung der Selbstbewegung, sondern nur für die Wahrnehmung der Bewegungen der Körperteile und -glieder ist der kinästhetische Sinn oder die Körperwahrnehmung verantwortlich, der mit den taktilen

3 Universität Trier: FB I Philosophie WS 2006/07: Berkeley: New Theory of Vision [Dr. P. Natterer] Hautsinnen (Tastsinn) zur haptischen Wahrnehmung zusammengefasst wird. In anderer Einteilung wird die Kinästhesie mit dem Vestibularsinn oder Lagesinn (siehe im Folgenden) zur Propriozeption (= Eigenwahrnehmung) zusammengefasst. Kinästhesie ermöglicht mechanisch enkodierte Information über Dehnungsgrad der Muskeln und Beugungsgrad der Gelenke und so über Position und Bewegungen unserer Körperteile; sie wird vermittelt durch ein Netz von Sinnesrezeptoren in den Gelenken, Muskeln und Sehnen. Für die Diskussion der Bewegungswahrnehmung jenseits der Bewegung der Körperglieder hat die Kinästhesie keine zentrale Bedeutung abgesehen von der kinästhetischen Wahrnehmung der Bewegungen der Augenmuskulatur (Okulomotorik) und Kopfmuskulatur. Das dritte wieder wirklich wichtige sensorische System der Bewegungswahrnehmung ist das bereits früher beschriebene Vestibularsystem in enger Verbindung zu den Ohren, das mit der visuellen Reizung und dem motorischen System zusammenarbeitet, um Körperbewegung und Reizbewegung zu unterscheiden. Der physikalische Reiz für den Vestibularsinn ist Beschleunigung, bzw. beschleunigte Eigenbewegung, noch einmal differenziert in: (1) lineare Beschleunigung, (2) Rotationsbeschleunigung, (3) Beschleunigungsstärke, (4) Beschleunigungsrichtung, (5) Beschleunigungszunahme (ungerichtet), (6) Beschleunigungsabnahme (ungerichtet). Die Wahrnehmung der Selbstbewegung ist ein besonders typischer Testfall der sensorischen Konvergenz. Sie hängt zum Einen von der Analyse der fortlaufend wechselnden Aspekte des Netzhautbildes ab, wenn wir uns bewegen. Eine solche Strömungsperspektive kann künstlich erzeugt und so scheinbare Selbstbewegung induziert werden, und bildet etwa auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks eine regelmäßige Attraktion. Dies ist möglich, weil der zweite Bewegungssinn, der Vestibularapparat, nur auf beschleunigte Bewegung reagiert, und nach einer längeren Periode gleichbleibender Geschwindigkeit nicht mehr aktiv ist, so dass der einzige verbleibende Bewegungsindikator die Strömungsperspektive auf der Netzhaut ist. Informationen des Vestibular- und optischen Sinns bringen somit je für sich ähnliche Empfindungen der Selbstbewegung hervor. Es überrascht weiter nicht, wenn Berkeley auch hier betont, dass die Bewegungswahrnehmung des Gesichtssinnes zweitrangig und ausschließlich empirisch und assoziativ ist ( 138), also keine apriorischen angeborenen Leistungen enthält. Hier gilt freilich entgegen der Theory: Die Bewegungswahrnehmung ist die früheste, spontane Wahrnehmungsleistung von Geburt an. Es sei nur noch einmal verwiesen auf den mehrfach zitierten Befund, besonders im Zusammenhang mit dem sogenannten Looming-Effekt, dass die Bewegungswahrnehmung die früheste und höchstwahrscheinlich angeborene Leistung des visuellen Systems (mittels bewegungsspezifischen Neurodetektoren) darstellt.

4 Universität Trier: FB I Philosophie WS 2006/07: Berkeley: New Theory of Vision [Dr. P. Natterer] Nun beurteilen wir entgegen Berkeleys Theorie auch im normalen Sprachgebrauch und im Alltagsverhalten Seh- und Tastvorstellungen desselben Gegenstandes als gleichartig und identisch. Wie erklärt sich dies für Berkeley? Seine Antwort hierauf ist, dass die Sehvorstellungen gleichbleibende Zeichen oder unveränderliche, naturhafte Symbole für die eigentlich realen Tastvorstellungen eines Gegenstandes sind ( 139 148): Wir müssen also die Zweifel beruhigen, die die Menschen zugunsten ihrer vorgefaßten Meinung erheben, und müssen zeigen, woraus der Irrtum entsteht ( 139). Der entscheidende Punkt für Berkeley ist: Sichtbare Gestalten sind Zeichen der tastbaren Gestalten ( 140). Um das zu erläutern, bemerke ich, daß sichtbare Gestalten ganz auf diesselbe Weise tastbare Gestalten repräsentieren, wie geschriebene Wörter die Laute. ( 143) Und: Diese Zeichen sind konstant und universal, ihre Verknüpfung mit den tastbaren Vorstellungen wurde schon bei unserem ersten Eintritt in die Welt erlernt, und... hat sich in unserem Geist festgesetzt und dort immer tiefere Wurzeln geschlagen. ( 144) Daher so Berkeley die vordergründige und fast allgemeine Illusion von der Artgleichheit und natürlichen Ähnlichkeit zwischen Zeichen und bezeichneten Dingen bei dieser nicht durch menschliche Vereinbarung gegesetzten, und nicht veränderlichen visuellen Sprache (vgl. 144). Die Reduzierung der visuellen Welt und ihrer Objekte auf ein Zeichensystem wird der tatsächlichen, Beobachtung und Experiment zugänglichen Leistungsfähigkeit der visuellen Wahrnehmung nicht gerecht. Letztere ist im Gegenteil die Grundlage der Erfahrung wie wir gesehen haben. Sie wird auch nicht gerecht der konvergenten multisensorischen Informationsverarbeitung zahlenmäßig und artmäßig identischer primärer Sinnesqualitäten, und auch nicht der begrifflichen Kognition. Man kann den Sachverhalt so auf den Punkt bringen, dass Berkeleys Ansatz einer Zeichensprache zwischen zwei Sinnen (der visuellen Wahrnehmung für die haptische Wahrnehmung) nicht korrekt ist; dass aber die Idee in überarbeiteteter Form eine große Bedeutung gewinnt. Dann nämlich, wenn die sinnliche Wahrnehmung insgesamt als ein Symbolsystem oder eine Bildsprache für die sprachliche und begriffliche Kognition verstanden wird. Dies ist eine Auffassung, die sich von der Antike über die Scholastik bis zur modernen Sprachphilosophie (Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl. Tübingen 1990 [1960]) und Anthropologie (Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 13. Aufl. Wiesbaden 1986 [1940]) belegen lässt. Die sinnliche Wahrnehmung insbesondere des Gesichtssinns weist jedoch eine selbstständige innere Logik und objektive Intelligenz auf, die nicht auf die dienende Rolle einer Symbol- oder Bildsprache für begriffliches Denken und Erkennen eingeschränkt ist. Diese eigenständige kognitive (intelligible) Struktur der Wahrnehmung ist Gegenstand der Mathematik, näherhin der klassischen Geometrie. Es liegt auf der Hand, dass Berkeleys These auch hier ist: Der Gegenstand der Geometrie sind weder sicht-

5 Universität Trier: FB I Philosophie WS 2006/07: Berkeley: New Theory of Vision [Dr. P. Natterer] bare noch abstrakte Ausdehnung und Figuren ( 149 159). In der Geometrie haben nach Berkeley konsequenterweise sichtbare Figuren denselben Nutzen wie Wörter ( 152) und sind nicht selbst Gegenstand der Geometrie. Deren Gegenstand sind aber auch nicht abstrakte Vorstellungen! ( 150 und 159) Sichtbare Ausdehnung und Figuren sind ferner flüchtig, verschwommen und nicht metrisierbar ( 156). Berkeley konstruiert dazu den Fall eines fiktiven intelligenten Wesens ohne Körper, aber mit visueller Wahrnehmung und ohne Tastwahrnehmung. Er behauptet nun für dieses Wesen die Unmöglichkeit der Wahrnehmung primärer dreidimensionaler (stereometrischer) und sogar zweidimensionaler (planimetrischer) Sinnesqualitäten ( 154 155). Dazu über das bereits Gesagte hinaus hier die folgenden Hinweise: Eine der Voraussetzungen des Falles, nämlich visuelle Wahrnehmung ohne Körper, widerspricht der Definition des Gesichtssinnes als Sinnesorganes, also der körperlichen Bedingtheit der visuellen Wahrnehmung. Davon abgesehen soll nur noch einmal auf diese Fakten verwiesen werden: (1) Die primären Sinnesqualitäten sind ursprüngliche Objekte des Sehsinnes und deren Erfahrung wird v.a. durch dieses Sinnnesorgan geleistet. (2) Der Sehsinn und die Tastwahrnehmung laufen in einer einzigen Sinnesvorstellung zusammen und kalibrieren sich wechselseitig, wobei die visuelle Wahrnehmung die dominante Rolle besetzt. (3) Die elementare visuelle Form- und Raumwahrnehmung ist angeboren und wird nicht erst durch erfahrungsgemäße Verknüpfung mit Form- und Raumwahrnehmungen des Tastsinns assoziativ aufgebaut. (4) Die visuelle Wahrnehmung weist gegenüber dem Tastsinn das weitaus größere Auflösungsvermögen auf, die größere Deutlichkeit und größere begriffliche wie mathematische Ordnungsfähigkeit. (5) Die vorbewusste Organisation der visuellen Muster-, Konstanz-, Objekt- und Bewegungswahrnehmung folgt geometrischen Formen und Gesetzen.