Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. VL im Frühjahrssemester 2016 Prof. Dr. Johannes Wagemann

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Transkript:

Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie VL im Frühjahrssemester 2016 Prof. Dr. Johannes Wagemann

Rückblick Wann und wo beginnt es mit Erkennen und Wissenschaft? Vorgeschichte, indische und antike griechische Philosophie Unität Dualität Götterdämmerung Spekulative Naturphilosophie Reflexion und Skepsis Denksysteme und Erk.-formen

Rückblick ERKENNTNIS- TÄTIGKEIT ERKENNTNIS- GEGENSTAND GEIST MENSCH WELT MATERIE Differenzierung von Mensch und Welt untereinander und jeweils in sich

Rückblick Aristoteles: doch gehört es sich wohl nicht, mythische Weisheit in ernstliche Betrachtung zu ziehen. (Metaphysik, 1000a)

Wissenschaft und Wissenschaftstheorie Mensch (en) methodische Gewinnung von Wissen Gegenstandsbereich Wissenschaftstheorie Fachwissenschaft

Wissenschaft und Wissenschaftstheorie Mensch (en) methodische Gewinnung von Wissen Gegenstandsbereich prōtē philosophia Seinswissenschaft Fachwissenschaft

Aristoteles: Abschluss der klassischen Antike Begriffstechnik statt Mythos und Glaube Gott als denkbares, logisches Prinzip: Unbewegter Beweger von dem alles abzuleiten ist: Deduktion als Methode allgemeine Definition spezielle Aussage Bsp. für Definition: Was ist der Mensch? Der Mensch ist ein Lebewesen. (noch zu allgemein) Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen. TRENNEN VERBINDEN

Aristoteles: Abschluss der klassischen Antike Deduktive Schlusstechnik (Syllogismus) 1. Alle Menschen sind sterblich. 2. Sokrates ist ein Mensch. Obersatz Untersatz Prämissen 3. Sokrates ist sterblich. Schlussfolgerung Kritik: Die Schlussfolgerung ergibt eigentlich nichts Neues, denn wenn 3. falsch wäre, dann auch 1.

Aristoteles: Induktion: Abschluss der klassischen Antike Gold ist schwerer als Wasser Eisen ist schwerer als Wasser Einzelfälle Alle Metalle sind schwerer als Wasser. Schlussfolgerung Problem: keine Sicherheit, da Erfahrung unvollständig Kalium ist leichter als Wasser (entdeckt 1807) Aristoteles wendet Induktion auch auf Autoritäten an (!)

Induktion Abschluss der klassischen Antike ERKENNTNIS- TÄTIGKEIT ERKENNTNIS- GEGENSTAND GEIST Allgemeinbegriff MENSCH WELT Deduktion MATERIE Einzelaussage μέθοδος METHODE

Platons und Aristoteles Weltherrschaft Neuplatonismus und Zurücktreten des Aristotelischen Werks Patristik: Christentum und Philosophie Wiederentdeckung bzw. Reimport des Aristotelischen Werks Scholastik: Wissenschaft, insb. Theologie, mit philosophischen Mitteln Universalienstreit: Sind Allgemeinbegriffe real oder nur symbolisch?

Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft Vorbereitende Kulturleistungen: Handwerk: Werkzeuge, Rad, opt. Linsen, Pumpen Messwesen: Gewicht, Länge, Zeit Grundlage für Experimente Von der Schriftsprache bis zum Buchdruck Mathematische Kenntnisse / Fertigkeiten Grundlage für theoretische Darstellung

Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft In den Naturwissenschaften kann man ohne Erfahrung und Experiment nichts Zureichendes wissen. Das Argument aus der Autorität bringt weder Sicherheit, noch beseitigt es Zweifel. [...] Mittels dreier Methoden können wir etwas wissen: durch Autorität, Begründung und Erfahrung. Die Autorität nützt nichts, wenn sie nicht auf Begründung beruht: Wir glauben einer Autorität, sehen aber nichts ihretwegen ein. Doch auch die Begründung führt nicht zu Wissen, wenn wir nicht ihre Schlüsse durch die Praxis (des Experiments) überprüfen. [...] Über allen Wissenschaften steht die vollkommenste von ihnen, die alle anderen verifiziert: Es ist das die Erfahrungswissenschaft, die die Begründung vernachlässigt, weil sie nichts verifiziert, wenn nicht das Experiment ihr zu Seite steht. Denn nur das Experiment verifiziert, nicht aber das Argument. Roger Bacon (1214-1292/94)

Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft μέθοδος (gr.): Nachgehen, Verfolgen eines (Erkenntnis- oder Handlungs-) Weges Orientierung durch a) Glaube an Autoritäten b) Spekulation & Heuristik c) Theorie & Experiment unwissenschaftlich vorwissenschaftlich wissenschaftlich

Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft Beispiel: Schiefer Wurf / Geschossbahn B A A B A C Aristoteles (384-322) Niccolò Tartaglia (1499-1557) Galileo Galilei (1564-1641) DOGMATIK HEURISTIK THEORIE/ EXPERIMENT

Induktion Auswertung, Einbettung Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft ARISTOTELES Allgemeinbegriff Deduktion Einzelaussage Physikal. Theorie Hypothesenbildung GALILEI Messdaten Denkmethode Naturwissenschaftliche Methode

Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft Galileo Galilei Das Buch der Natur ist mit mathematischen Symbolen geschrieben. (Kurzform eines Zitats aus dem Saggiatore, 1623) Alles messen, was messbar ist und messbar machen, was noch nicht messbar ist. (Galilei zugeschrieben) Forschungsprogramm für die nächsten 400 Jahre

Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft N. Tartaglia F. Bacon G. Galilei D. Hume J.S.Mill R.Fisher 1500 1550 1600 1650 1700 1750 1800 1850 1900 1950 Paradigmatische Säulen empirischer Forschung (H. Kiene, 2001) (1) F. Bacon (17. Jh.): Aktive Erzeugung von Phänomenen (2) D. Hume (18. Jh.): Wiederholbarkeit von Befunden (3) J. S. Mill (19. Jh.): Differenzmethode / Vergleichskontrolle (4) R. Fisher (20. Jh.): Randomisation und Verblindung

Francis Bacon (1561-1626): Methodische Aktivität Weder die bloße Hand noch der sich selbst überlassene Geist vermag Erhebliches; durch Werkzeuge und Hilfsmittel wird das Geschäft vollbracht; man bedarf dieser also für den Verstand wie für die Hand. Und so wie die Werkzeuge die Bewegung der Hände erwecken und leiten, so müssen auch die Werkzeuge des Geistes den Verstand stützen und behüten. (Novum Organum Scientarium, 1620, 2)

Francis Bacon (1561-1626): Methodische Aktivität behüten vor vier Fehlerquellen: 1. Verzerrung durch Sinnesorgane (gattungsspezifisch) 2. Täuschung durch Auffassung (individuelle Prägung) 3. Kommunikations-/Sprachprobleme 4. Glaube an Autoritäten, Traditionen, philos. Schulen (Novum Organum Scientarium, 1620)