Positionspapier Perspektiven der inklusiven Schule in Niedersachsen Was wir zu lernen haben, ist so schwer und doch so einfach und klar: Es ist normal, verschieden zu sein. (Richard von Weizsäcker, 1993) 2012 hat sich Niedersachsen auf den Weg gemacht, die Schulen des Landes schrittweise für Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zu öffnen. Unter der Maxime der Wahlfreiheit steht die inklusive Schule für die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen an allen Bildungsangeboten. Eltern entscheiden darüber, welche Schulform die am besten geeignete für ihr Kind ist. Dabei haben sie die Wahl zwischen spezialisierten Förderschulen, die maßgeschneiderte Unterstützungsangebote für die Schüler bieten, und den Grundschulen bzw. den übrigen weiterführenden Schulformen. Inklusion beginnt im Kopf Für Schüler mit Behinderungen und ihre Eltern, aber auch für alle anderen Beteiligten ist die Einführung der inklusiven Schule eine Reform, die die Schule, wie wir sie bislang in Niedersachsen kannten, grundlegend verändert hat. Inklusion bedeutet nicht nur gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderungen. Inklusion beginnt im Kopf. Sie ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft und in den Schulen für jeden Einzelnen: Alle an Schule Beteiligten vom Schulleiter bis zum Hausmeister, vom Schulamtsleiter bis zum Elternratsvorsitzenden müssen an einem Strang ziehen, damit Inklusion gelingen kann. Wir wollen eine inklusive Schule, in der es keine Ausgrenzung oder Vorverurteilung gibt und in der jeder Schüler in seinem Tempo lernt, seinen Ansprüchen entsprechend gefordert und gefördert wird. So verschieden Schüler sind, so vielfältig sind ihre Bedürfnisse und Ansprüche. Jeden einzelnen Schüler mit seinen individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten in den Mittelpunkt zu stellen bedeutet, die Vielfalt der Lebensläufe im Rahmen des Umsetzungsprozesses bestmöglich zu berücksichtigen. Dies schließt auch die Möglichkeit ein, dass es für Kinder mit Behinderungen auch weiterhin, temporär oder dauerhaft, spezielle Lernangebote an Förderschulen geben muss. Inklusion ist eine Generationenaufgabe Die Schulgesetzänderung 2012 zur Einführung der inklusiven Schule wurde von einer breiten politischen Mehrheit im Landtag getragen. Der Gesetzgeber hat den Rechtsanspruch auf eine inklusive Beschulung verankert und das Kindeswohl in den Mittelpunkt gestellt das Wohl aller Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf. Darüber hinaus war das Gesetz geprägt durch den Grundsatz der Wahlfreiheit für den individuell besten Lern- und Förderort für jeden Schüler. Zwei Jahre nach der ersten grundlegenden Weichenstellung gilt es, den beschrittenen Weg unter Wahrung der Wahlfreiheit des Förderortes für jedes einzelne Kind weiterzugehen. Die ersten Erfahrungen von Schülern, Eltern und
Lehrkräften zeigen, dass es erforderlich ist, die strukturellen Rahmenbedingungen der Inklusion in unseren Schulen weiter zu verbessern und anzupassen. Dies ist ein laufender Prozess und nicht in wenigen Jahren zu bewältigen die Einführung der inklusiven Schule ist eine Generationenaufgabe. Die CDU-Fraktion im Niedersächsischen Landtag hält zur erfolgreichen weiteren Umsetzung der inklusiven Schule kurz- und mittelfristig die folgenden Schritte für notwendig: 1. Wahlfreiheit erhalten Förderschulen weiterentwickeln! Der Erhalt der echten Wahlfreiheit zwischen der Beschulung in einer allgemeinen Schule oder in einer Förderschule ist gerade für Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ein besonderes Recht, um eine optimale Förderung an einem dafür optimal ausgestalteten Lernort frei wählen zu können. Wichtiger Bestandteil für eine optimale Förderung ist die Weiterentwicklung der Förderzentren, um eine ortsnahe und direkte Unterstützung der inklusiven Schulen gewährleisten zu können. Eine weitere Abschaffung von Förderschulen ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht sinnvoll und darum ausgeschlossen. In einigen Regionen ist die Förderschule Lernen das einzige sonderpädagogische Angebot in erreichbarer und zumutbarer Entfernung. Unter Berücksichtigung der regionalen Unterschiede bei den Angeboten der verschiedenen Förderschulen ist zu überprüfen, ob die 2012 vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung über das vollständige Auslaufen der Förderschule Lernen im Grundschulbereich korrigiert werden muss. 2. Startphase kritisch begleiten Ressourcen gezielt einsetzen! Eine laufende Evaluation und regelmäßige kritische Bewertung der Entwicklungen und Erfahrungen seit Inkrafttreten der Schulgesetzänderung zur inklusiven Schule dient der Qualitätssicherung. In eine solche Evaluation ist auch die Elternzufriedenheit einzubeziehen. Denn sie ist Gradmesser für ein erfolgreiches inklusives Schulwesen. Eine Auswertung des bisherigen Anwahlverhaltens der allgemein bildenden Schulen gibt Auskunft darüber, welche Formen der sonderpädagogischen Förderung in den allgemein bildenden Schulen zur Verfügung gestellt werden muss und kann. Ebenso ist die Versorgung der Grundschulen mit Förderschullehrerstunden für die Bereiche Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung bedarfsbezogen weiter zu entwickeln und auszubauen. Inklusive Klassen benötigen mehr Ressourcen. Daher muss die bedarfsgerechte Ausstattung mit Lehrerstunden, Förderschul-Lehrerstunden und weiterem pädagogischen Personal laufend kritisch überprüft und ggf. ausgeweitet werden. Hierbei sollten gleiche Rahmenbedingungen für öffentliche Schulen und Schulen in freier Trägerschaft selbstverständlich sein.
3. Aus- und Fortbildung für Lehrer ausweiten! Inklusive Schule kann nur gelingen, wenn die Lehrkräfte auf die besondere Situation der Beschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf vorbereitet sind. Darum muss die Lehrerfortbildung weiter gezielt ausgebaut werden. Darüber hinaus muss die Ausweitung der Studieninhalte in der Lehrerausbildung im Hinblick auf heterogene Lerngruppen und ein Modul Sonderpädagogik in den Blick genommen werden. Die Bereitstellung von Fortbildungsangeboten muss einhergehen mit einem angemessen Ausgleich für die Mehrbelastung der Lehrer. Dieses ist auch bei der Ermittlung des Bedarfes an zukünftigen Förderschullehrkräften einhergehend mit einer Erhöhung der Studienkapazitäten für Sonderpädagogen - zu berücksichtigen. Kurzfristiges Ziel muss es sein, dass In jeder Grundschule eine im Bereich Sonderpädagogik fortgebildete Lehrkraft tätig ist. 4. Berufliche Bildung inklusiv gestalten! Die inklusive Schule muss in allen Schulformen Wirklichkeit werden. Daher bedarf es einer Aufnahme der berufsbildenden Schulen in die untergesetzlichen Regelungen zur Umsetzung der Inklusion. Die berufsbildenden Schulen benötigen darüber hinaus ein vergleichbares Unterstützungssystem wie die allgemein bildenden Schulen. Unter Berücksichtigung der besonderen Anforderungen der inklusiven Schule müssen auch an den berufsbildenden Schulen bedarfsgerecht zusätzliche Ressourcen für Schulen mit besonderen Problemlagen und für die Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit festgestelltem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf bereitgestellt werden. Optimiert werden müssen auch die Schnittstellen zwischen den allgemein bildenden Schulen, den Förderschulen und den berufsbildenden Schulen. Hier ist es erforderlich, Kooperationsformen zu finden, um insbesondere schulfernen Jugendlichen mit schweren sozialen Handicaps eine Starthilfe für einen gelingenden Übergang in die Welt der Arbeit zu geben. Nur so lassen sich Benachteiligungen und Diskriminierungen im berufsbildenden Bereich, aber auch auf dem Arbeitsmarkt vorbeugen. 5. Angemessene Beratung und Unterstützung gewährleisten! Die Startphase der inklusiven Schule hat gezeigt, dass eine Verbesserung der Beratungs- und Unterstützungsangebote für Schulen erforderlich ist. Gerade auch die Beratung der Eltern ist von besonderer Bedeutung. Gute Beratung und Unterstützung benötigt gute Gelingensbedingungen. Daher ist in den Förderzentren als Schaltstellen der schulischen Inklusion die Bereitstellung der notwendigen organisatorischen Ausstattung mit Räumen für Leitung, Verwaltung und Besprechungen sowie notwendigen Lehr- und Hilfsmitteln notwendig.
In Niedersachsen arbeiten die Mobilen Dienste zur Unterstützung der Schulen mit Förderschullehrern in vielen Regionen bereits jetzt in vorbildlicher Weise. Darüber hinaus gibt es Beratungs- und Unterstützungssysteme, die sich aus freien und öffentlichen Schulträgern zusammensetzen. Die verschiedenen Modelle der Mobilen Dienste müssen evaluiert werden. Im Anschluss ist ein tragfähiges Konzept zu erarbeiten, das landesweit umgesetzt werden kann und in dem sich auch die Förderschulen bzw. Förderzentren in freier Trägerschaft wiederfinden. 6. Förderzentren als zentrale Schaltstellen der Inklusion einrichten! Die Förderschulen sind zu echten Förderzentren weiterzuentwickeln. Hierfür müssen zunächst die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Mit dem Aufbau einer landesweiten Organisation für die Anbindung der Mobilen Dienste an Förderschulen als Förderzentren kann eine Steuerung der entsprechenden Unterstützungsangebote optimal gelingen. Es muss gewährleistet werden, dass ein qualitativ hochwertiges Beratungs- und Unterstützungssystem möglichst frühzeitig und somit präventiv zur Verfügung steht, um weiteren sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf gar nicht erst entstehen zu lassen. 7. Dialog mit den Kommunen wieder aufnehmen! Inklusion kann nur gemeinsam gelingen. Land und Kommunen sind hier gemeinsam in der Verantwortung. Daher muss das Land endlich den angekündigten Dialog mit den Kommunen aufnehmen, um auch für die Fragen der Konnexität tragfähige Kompromisse zu erarbeiten. Dies gilt insbesondere auch für die baulichen Voraussetzungen in den inklusiven Schulen. Bezüglich des stark gestiegenen Einsatzes von Schulbegleitern bzw. Integrationshelfern muss das Land zeitnah zu einer Einigung mit den Kommunalen Spitzenverbänden gelangen und tragfähige Lösungen zwischen Bund, Land und Kommunen erarbeiten, die im Interesse des Inklusionsgedankens und aller Schüler sind. 8. Lehrkräfte und Schulleitungen mitnehmen! Inklusion gelingt nur gemeinsam. Die Motivation der Lehrer und Schulleiter ist eine entscheidende Gelingensbedingung. Daher muss ein Konzept zur verbesserten Einbindung der Förderschullehrkräfte und Förderschulleiter erarbeitet werden. Hierfür ist es erforderlich, die Laufbahnverordnung und die Möglichkeit zur Bewerbungsfähigkeit auch in Funktionsstellen der allgemeinen Schulen zu verbessern. Darüber hinaus gilt es, ein tragfähiges und gerechtes Entlastungssystem für Förderschulleitungen zu entwickeln, das Engagement für Integration und Inklusion angemessen würdigt. 9. Kräfte bündeln Schulen in freier Trägerschaft einbinden! Die Förderschullandschaft in Niedersachsen ist traditionell eine gewachsene Struktur aus öffentlichen Schulen und Schulen in freier Trägerschaft. Auch für Schulen in freier Trägerschaft gilt der Grundsatz der Inklusion. Das Land muss
den Trägern der freien Schulen bei der Umsetzung Unterstützung in geeigneter Form anbieten. Der Austausch von Lehrkräften zwischen öffentlichen und freien Schulen ist zu fördern und auszubauen. Die Kooperationen zwischen den Systemen rechtlich, steuerlich und finanziell zu regeln, damit im Sinne der Schülerinnen und Schüler die sich daraus entwickelnden Synergien positiv genutzt werden können. Inklusion ist ein laufender Prozess es besteht Handlungsbedarf! Inklusion ist und bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. In Niedersachsen ist die inklusive Schule bereits gestartet es sind aber noch keine Lehren aus den Erfahrungen der Startphase gezogen worden. Die rot-grüne Landesregierung hat nicht erkannt, dass sie dringend nachsteuern muss! Der im Landtag mit breiter Mehrheit im März 2012 beschlossene Konsens zur Wahrung des Kindeswohls ist in konkreter Gefahr. Durch die von der Landesregierung geplante Abschaffung der Förderschulen können der optimale Förderort und die Wahlfreiheit für jedes einzelne Kind nicht mehr gewährleistet werden. Die Abschaffung weiterer Förderschulen zum jetzigen Zeitpunkt würde bedeuten, dass Niedersachsen den zweiten Schritt vor dem ersten macht. Es muss jetzt um die Weiterentwicklung des beschrittenen Weges gehen. Hierzu gehört eine fortlaufende Evaluation der ersten Erfahrungen, um die strukturellen Rahmenbedingungen der Inklusion weiter zu verbessern und anzupassen. Hier liegen die wichtigen Aufgaben der Zukunft der inklusiven Schule. Mobile Dienste leisten hierbei eine wichtige und gute Unterstützung für jedes einzelne Kind und sind damit sowohl integrativ und präventiv wichtige Bestandteile für eine erfolgreiche Inklusion. Je früher ein möglicher Förderbedarf festgestellt wird und Unterstützung einsetzt, umso besser kann den Bedürfnissen eines jeden einzelnen Kindes Rechnung getragen werden. Unverzichtbare Gelingensbedingung für die Förderung der Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Inklusion sind geklärte und gesicherte Rahmenbedingungen. Dazu gehört auch, dass der Erlass Klassenbildung und Lehrerstundenzuweisung überarbeitet wird. In Folge der Schulgesetzänderung sind bisherige Modellprojekte wie Integrationsklassen (I-Klassen) oder Regionale Inklusionskonzepte (RIK) insbesondere im Primarbereich schlechter gestellt worden. Die Lehrer an den allgemeinen Schulen und an den Förderschulen leisten Großartiges und stärken die Kinder in ihrer Entwicklung. Professionelles Handeln bedarf aber einer professionellen Ausbildung. Besondere Förderbedarfe verlangen besondere Kenntnisse über die Bedarfe eines Kindes, unabhängig vom Ort der jeweiligen Förderung. Daher ist eine hoch qualifizierte und spezialisierte Ausbildung von Sonderpädagogen unerlässlich und muss nicht nur erhalten, sondern weiterentwickelt werden.
Der fünfte Bildungsbericht der Kultusministerkonferenz (KMK) Bildung in Deutschland 2014 mit dem Schwerpunkt Menschen mit Behinderungen im Bildungssystem zeigt, dass bei den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten in den Bereichen emotionale und soziale Entwicklung und Sprache eine Verdopplung der Schülerzahlen zu verzeichnen ist. Der Bildungsbericht beschreibt das historisch gewachsene Bildungssystem mit dem Grundsatz der optimalen Förderung für Menschen mit Behinderungen, aus der eine Vielzahl fachlicher Spezialisierungen entstanden sind. Hier wird festgestellt, dass im Vordergrund stehen muss, wo Kinder am besten inkludiert werden und wo spezialisierte Einrichtungen für temporären und auch dauerhaften Besuch beibehalten werden müssen. Daher gefährdet die Diskussion über die Abschaffung einzelner Schulen die erfolgreiche Umsetzung der Inklusion. Inklusion kann nicht bedeuten, Einheitsschule für alle einzuführen. Damit werden wir dem Kindeswohl nicht gerecht, das Maßstab unseres Handelns sein muss. Nur wenn Inklusion als eine gemeinsame Aufgabe aller an Bildung Beteiligten verstanden wird, kann sie gelingen. Wir stehen erst am Anfang des Weges. (Franz-Josef Meyer, 2011)