Zur Situation von Menschen mit Intersexualität in Deutschland Stellungnahme Prof. Dr. iur. Konstanze Plett, LL.M.

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Transkript:

Zur Situation von Menschen mit Intersexualität in Deutschland Stellungnahme Prof. Dr. iur. Konstanze Plett, LL.M. Fragen zur Behandlung und Einwilligung Zu 1a) Nach der aktuellen Ausgestaltung des Rechts der elterlichen Sorge (konkret: der Personensorge) unterliegen Eltern hier keinen besonderen Beschränkungen, d. h. nur den allgemeinen. Nach neueren rechtswissenschaftlichen Untersuchungen 1 sind nicht vital indizierte, irreversible Eingriffe an minderjährigen Kindern nicht von der elterlichen Sorge gedeckt. Ein bislang nicht gelöstes Problem besteht aber darin, dass die für Überschreitung des elterlichen Vertretungsrechts vorgesehenen Mechanismen ( 1666 BGB, nach dem das elterliche Sorgerecht gerichtlich entzogen werden kann) in den meisten dieser Fälle nicht greifen und auch nicht das geeignete Mittel sind, die Entscheidungen der Eltern faktisch also keiner Überprüfung unterliegen. Zu 1b) In der Rechtssprache ist der Begriff Kastration der Entfernung der Keimdrüsen oder dauernden Unfruchtbarmachung des Mannes vorbehalten (vgl. 1 Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden Kastrationsgesetz); als umfassender Begriff wird Sterilisation verwendet. Im Übrigen s. Antworten zu 1a und zu 1c. Zu 1c) Die Bewertung, dass die elterliche Einwilligung in nicht vital indizierte geschlechtsangleichende Operationen (einschl. Gonadektomie) als Überschreitung elterlicher Befugnisse zu bewerten ist, 1 Kolbe, Angela: Intersexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Verfassungsrecht, Baden-Baden: Nomos, 2010, S. 163-172, 171 Fn. 895; vor allem demnächst Tönsmeyer, Britt: Die Grenzen der elterlichen Sorge bei intersexuell geborenen Kindern de lege lata und de lege ferenda, S. 84-151. 1

liegt nicht nur in 1631c Bürgerliches Gesetzbuch (Verbot der Sterilisation) begründet, sondern vor allem in einer Abwägung der Artikel 1, 2 und 6 Grundgesetz. Danach hat bei medizinischen Eingriffen, die so tief in das Persönlichkeitsrecht eingreifen wie die genannten, im Konfliktfalle das Elternrecht aus Artikel 6 hinter das Recht der minderjährigen Kinder aus Artikel 1 und 2 zurückzutreten, d. h. Einwilligungen in derartige Maßnahmen sind nicht stellvertretungsfähig. Zu 1d) Ja. Dies sollte insgesamt für nicht lebensnotwendige Behandlungen mit erheblichen irreversiblen Folgen vor allem für Behandlungen im Schambereich gelten. Zu 2) Bei sorgsamer Auslegung der geltenden Bestimmung gilt schon jetzt, dass in solche Eingriffe nur höchstpersönlich eingewilligt werden kann (s. o. zu 1a und 1c). Dies sollte de lege ferenda als Grundsatz klargestellt werden. Wenn derartige Maßnahmen zum Wohle des Kindes erforderlich sind, bevor es volljährig geworden ist, muss gleichwohl die (nicht rechtsgeschäftliche) Einwilligung des minderjährigen Kindes vorliegen; hierfür sollte eine Genehmigung durch das Familiengericht (vgl. auch unten zu 5) vorgeschrieben werden. 2 Zu 3) Anknüpfungspunkt sollte die Einsichtsfähigkeit sein, die individuell festgestellt werden kann und muss und nicht an ein standardisiertes Alter geknüpft wird. Das Selbstbestimmungsrecht gilt bereits ab Geburt; die Selbstbestimmungsfähigkeit bedarf besonderer Feststellung. Ob, wie von Tönsmeyer (Fn. 1) vorgeschlagen, ab dem Alter von 14 Jahren die Einwilligungsfähigkeit grundsätzlich angenommen werden kann, bedarf weiterer Diskussion. Die behandelnden Ärzte und Ärztinnen müssen die Einsichts- und Einwilligungsfähigeit jedoch auch dann (mit allem, was hinsichtlich Aufklärung dazu gehört) konkret feststellen. Das bedeutet, dass Minderjährige über Art, Ziel, Dringlichkeitsgrad, Folgen und Alternativen der Behandlung aufzuklären sind und festgestellt muss, dass sie all dies verstanden haben. Insbesondere zur Aufklärung über die Alternative einer nicht oder später durchgeführten Behandlung sollten intersexuelle Menschen hinzugezogen werden, die als Einzige über persönliche Erfahrungen verfügen. Zu 4) Da nach den hier vorgeschlagenen Regelungen die höchstpersönliche Einwilligung stets erforderlich ist, also auch festgestellt werden muss, und ohne diese Einwilligung vorgenommene 2 Für Konfliktlagen zwischen Minderjährigen und ihrem/ihren gesetzlichen Vertreter/n im Bereich der Vermögenssorge ist bereits seit dem Jahr 1900 eine gerichtliche Genehmigung erforderlich; vgl. 1643 BGB. 2

Eingriffe rechtswidrig wären, ist für ein Vetorecht rechtstechnisch kein Raum. Praktisch bedeutet das aber, dass Vetos unbedingt beachtlich sind. Zu 5) Das geltende Recht stellt mit dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) das Verfahren der Wahl für den Schutz Minderjähriger sowie für Konfliktfälle zwischen Minderjährigen (bzw. grundsätzlich nicht Einwilligungsfähigen) und deren gesetzlichen Vertretungen bereit. Ein Gremium zu schaffen, dessen Zusammensetzung und Entscheidungen im Zweifel nicht justiziabel wären, erscheint demgegenüber überflüssig. Im Übrigen ist die in der Frage angesprochene Parallele auch zweifelhaft. Die gesetzgeberische Wertung im Transplantationsgesetz (TPG) ist, dass Minderjährige für Lebendorganspenden gerade nicht herangezogen werden dürfen ( 8 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a TPG). Die einzige Ausnahme betrifft unter sehr engen Voraussetzungen die Knochenmarkspende ( 8a TPG). Im Ergebnis heißt das, dass irreversible Organspenden von Minderjährigen verboten sind und auch keine Ethikkommission darüber befinden kann. Fragen zum Personenstandsrecht Zu 6) Das Personenstandsrecht verlangt erst seit dem 1. August 2010, dass in das Geburtenregister nur männlich oder weiblich eingetragen werden darf. 3 Zur Sicht von intersexuell geborenen Menschen zu dieser Frage sollten diese selbst gehört werden. Aus meiner Sicht spricht gesellschaftlich allein die Tradition gegen eine Erweiterung der Eintragungsmöglichkeiten, die aber in Anbetracht der Menschenrechte aller Menschen rechtlich kein legitimer Grund sein kann. Einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung würde diese neue Regelung in der VwV-PStG deshalb m. E. nicht standhalten. Da die Menschenrechte bereits rechtsethisch und rechtsphilosophisch fundiert sind, spricht also alles dafür und nichts dagegen, dass andere Eintragungen als männlich oder weiblich in Personenstandsregistern möglich werden. Zu 7) Wenn Geschlecht weiterhin erfasst werden soll, muss das auf die Weise geschehen, dass eine Registrierung möglich ist, die sowohl weder männlich noch weiblich als auch sowohl 3 So die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz (VwV-PStG) vom 29.3.2010, in Kraft getreten am 1.8.2010, unter Nr. 21.4.3. Ein Vorschlag aus dem Rechtsausschuss des Bundesrates, dass dies nur grundsätzlich gelten solle, also Ausnahmen zuzulassen wären, fand bedauerlicherweise im Plenum des Bundesrates keine Mehrheit. 3

männlich als auch weiblich als auch Zwitter o. Ä. zulässt, je nachdem, wie es der individuellen Geschlechtsidentität der betroffenen Menschen entspricht. Zu 8) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner jüngsten Entscheidung zum Transsexuellengesetz 4 Folgendes festgestellt 5 : Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG schützt mit der engeren persönlichen Lebenssphäre auch den intimen Sexualbereich des Menschen, der die sexuelle Selbstbestimmung und damit auch das Finden und Erkennen der eigenen geschlechtlichen Identität sowie der eigenen sexuellen Orientierung umfasst. Auch wenn diese Auslegung in der Rechtsprechung zum Transsexuellenrecht entwickelt worden ist, das die Einteilung der Menschen in zwei wechselseitig exklusive Ausprägungen von Geschlecht also nicht grundsätzlich in Frage stellt, muss das so ermittelte Grundrecht für alle Menschen gelten, also auch für solche, die sich nicht in dem Raster entweder männlich oder weiblich aufgehoben sehen. Das Grundrecht auf sexuelle Identität, zu dem eben auch das Recht auf Entwicklung dieser individuellen Identität gehört, würde leer laufen, wenn Menschen, die weder männlich noch weiblich oder sowohl weiblich als auch männlich oder etwas anderes sind, in eine ihnen nicht entsprechende Richtung gezwungen würden. Diese Auffassung wird durch Art. 3 Abs. 3 GG gestützt, der Diskriminierungen wegen des Geschlechts verbietet. Im Übrigen enthält der Gleichheitsartikel des Grundgesetzes das Grundrecht, das vor einer Verewigung gesellschaftlicher Stereotype zum Nachteil von unterlegenen gesellschaftlichen Gruppen schützt. Zu 9) Nach den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Transgender-Fällen 6 ist die Anerkennung von intersexuell geborenen Menschen in ihrer je spezifischen Geschlechtlichkeit auch aus der EMRK ableitbar. Da die UN- Kinderrechtskonvention dem Schutz Minderjähriger in allen erdenklichen Lebenslagen gilt, lässt sich auch daraus ein Recht der Kinder auf ungestörte Entwicklung ihrer jeweils eigenen geschlechtlichen Identität ableiten. 7 D. h. auch aus den genannten Konventionen ist die Anerkennung einer Art drittes Geschlecht herleitbar. 4 BVerfG, 1 BvR 3295/07 vom 11.1.2011, http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20110111_1bvr329507.html. 5 Wie Fn. 4, Absatz-Nr. 51. 6 Christine Goodwin v. United Kingdom (28957/95) und I. v. United Kingdom (25680/94), beide vom 11.7.2002. 7 Vgl. hierzu auch Plett, Konstanze: Intersex und Menschenrechte, in: Lohrenscheit, Claudia (Hrsg.), Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht, Baden-Baden: Nomos, 2009, S. 151-167. 4

Zu 10) Nach der amtlichen Begründung zum AGG bezweckt dieses auch den Diskriminierungsschutz intersexuell geborener Menschen. Für die rechtsdogmatische Einordnung gilt hier, dass die Diskriminierung intersexuell geborener Menschen auf jeden Fall eine Diskriminierung wegen des Geschlechts darstellt; ob sie (auch) unter das AGG-Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Identität fällt, hängt davon ab, ob darunter nur die sexuelle Orientierung verstanden wird (enge Auslegung) oder auch das geschlechtliche Selbstverständnis (weite Auslegung). 8 Zu 11) Letzteres. Zu 12) Für das bundesdeutsche Recht spielt die Frage aktuell nur noch deshalb eine Rolle, weil derzeit noch zwischen Ehe (Verbindung verschiedengeschlechtlicher Menschen) und eingetragener Lebenspartnerschaft (Verbindung gleichgeschlechtlicher Menschen) unterschieden wird. Diese Unterscheidung ist in anderen europäischen Ländern bereits aufgehoben worden. Durch die Rechtsentwicklung wird auch für die Bundesrepublik die Unterscheidung (in den Rechtsfolgen) immer weiter eingeebnet. Aktuell wird in beiden Fällen nur nach dem Papier-Geschlecht gefragt, da es auch für die Lebenspartnerschaft nicht auf die sexuelle Orientierung, sondern nur auf das gleiche Geschlecht ankommt. Hintergrund der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes war, dass allen Menschen eine rechtlich anerkannte Verbindung zur Fürsorge- und Beistandsgemeinschaft offenstehen muss. Dies gilt selbstverständlich auch für sich selbst als intersexuell identifizierende Menschen. Wenn in nicht allzu ferner Zukunft Ehe und Lebenspartnerschaft einander gleichgestellt sind, wird das Papier-Geschlecht insgesamt überflüssig. 9 Die anderen Fragen, bei denen nach Geschlecht unterschieden wird (so insbesondere im Arbeitsschutz), bedürfen keiner Eintragung des Geschlechts, da es hier auf die tatsächliche Lebenslage ankommt (so gilt z. B. der Mutterschutz ja weder für alle Frauen noch auch nur für alle Mütter, sondern nur für Schwangere und Frauen, die gerade geboren haben). Ob die wenigen noch existierenden geschlechtsdiskriminierenden Bestimmungen im Arbeitsschutz heute einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten würden, darf bezweifelt werden. 8 Vgl. hierzu auch Plett, Konstanze: 1, Rn. 48-54 und 99-102, in: Rust, Ursula / Falke, Josef (Hrsg.), AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz mit weiterführenden Vorschriften: Kommentar, Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2007, S. 189-191 und 204-206. 9 Von politischer Seite wird gelegentlich auch der Einwand gebracht, dass internationale Bestimmungen des Reiseverkehrs eine eindeutige Zuordnung zu männlich oder weiblich erfordern. Hiergegen schon Plett, Konstanze: Rechtliche Aspekte der Intersexualität, in: Zeitschrift für Sexualforschung, Jg. 20, 2007, 162-175. Zwar haben sich einige der dort zitierten Bestimmungen geändert. Jedoch gilt auch weiterhin, dass nationale Regelungen über den Personenstand international beachtlich sind. Weitere Einzelheiten hier nachzuzeichnen, würde den Rahmen der Beantwortung des Fragebogens sprengen. 5

Die Wehrpflicht ist ebenfalls kein Argument, da sie nur für Männer gilt; ausgenommen davon sind dann nicht nur Frauen, sondern alle nicht männlichen Menschen. Wenn Intersexuelle (sofern die aktuelle Aussetzung der Wehrpflicht aufgehoben würde) gezogen würden, die sich als weder noch oder etwas anderes identifizieren, wären sie zu Unrecht gezogen; falls es solche betrifft, die sich als sowohl als-auch identifizieren, müsste es ihnen überlassen bleiben, ob die die Wehrpflicht ableisten wollen. Zu 13) In diesem Bereich sollte weniger normativ gedacht werden. Mit oder ohne Eintrag im Geburtenregister werden die Eltern die Entwicklung des Kindes beobachten und es in seinem Eigenen darin unterstützen. Eltern und Kind sollten darin unterstützt werden, dass es bei ihnen etwas anders ist als bei anderen, dass sie aber auch keineswegs einmalig in dem Anderssein sind. Was die Eltern und später das Kind nach außen kommunizieren, ist ihre Sache. Bereits jetzt können ja auf Antrag auch Geburtsurkunden ohne Geschlechtseintrag ausgestellt werden ( 59 Abs. 2 Personenstandsgesetz). Davon, dass die Gesellschaft letztendlich Widersprüche zwischen Geburtenregister und individueller persönlicher Erscheinung aushalten muss und aushält, geben die Menschen, die die Transsexuellen-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts herbeigeführt haben, Zeugnis. Zu 14) Siehe Antwort zu Frage 12. Fragen zur Entschädigung Zu 15) Ja. Dabei kommt es vor allem darauf an, dass damit zum Ausdruck gebracht wird, dass diesen Menschen in ihrer Kindheit und Jugend und dem weiteren Verlauf ihres Erwachsenenlebens Unrecht geschehen ist. Eine wirkliche monetäre Kompensation wäre wohl unbezahlbar. Zu 16) Ja, damit wenigstens symbolisch Kompensation geleistet wird und vor allen denjenigen, die aufgrund der aus heutiger Sicht unrechten Behandlung mit Kosten belastet sind, die ohne diese Behandlung nicht entstanden wären, hierfür Ersatz geleistet werden kann. Heranzuziehen wären die Ärzteschaft, Kliniken und ergänzend der allgemeine Staatshaushalt, da es sich hier auch um ein allgemein gesellschaftliches Problem handelt. 6

Ergänzende Anmerkungen zu weiteren Rechtsproblemen I. Verjährungsfragen Die geltenden Verjährungsvorschriften im Zivilrecht und im Strafrecht (in Letzterem ganz besonders) passen nicht auf die Situation intersexuell geborener Menschen und an ihnen vollzogene Eingriffe. Diese Vorschriften sind dringend daraufhin zu überarbeiten, dass intersexuell Geborene auch im Erwachsenenalter noch die Möglichkeit haben, an ihnen vollzogene medizinische Eingriffe gerichtlich überprüfen zu lassen. II. Dokumentationspflichten und Aufbewahrung von Akten Zum Schutz der Betroffenen, aber auch der behandelnden Ärzte und Ärztinnen sind klare Bestimmungen über Dokumentations- und Archivierungspflichten von Patientenakten zu schaffen. Die Aufbewahrungspflicht darf nicht kürzer sein als die Verjährungsfristen, da letztere sonst ins Leere laufen würden. Auch Statistik- und Archivgesetze (Bundes- und Landesrecht) sind daraufhin anzupassen. III. Abbildungen in medizinischen Lehrbüchern Ein Blick in einschlägige medizinische Publikationen lässt erkennen, dass das Recht am eigenen Bild hier offenbar wenig bis gar nicht beachtet wird, obgleich es nach 22 Kunsturhebergesetz (KUG) seit über hundert Jahren unter besonderem gesetzlichen Schutz steht. Abbildungen von aus medizinischem Interesse gemachten Aufnahmen fallen unter keine Ausnahmeregelungen ( 23, 24 KUG). Teilweise werden sogar dieselben Fotos für unterschiedliche medizinische Sachverhalte benutzt. Das lässt darauf schließen, dass Medizinverlage einen Fundus an Fotos haben, die nach Bedarf verwendet werden. Der Rechtsschutz nach KUG ist derzeit allerdings zu schwach ausgebildet. Strafrechtliche Verfolgung erfolgt nur auf Antrag, ebenso der zivilrechtliche Anspruch auf Schadensersatz nach den allgemeinen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs bzw. Vernichtung rechtswidrig hergestellter Abbildungen nach 37 KUG. Beides dürfte verjährt sein, wenn die Betroffenen davon erfahren. Hier ist sicherzustellen, dass in Zukunft keine Fotos mehr veröffentlicht werden, für die nicht eine schriftliche Einverständniserklärung der Betroffenen nachgewiesen werden kann. 7