Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis

Ähnliche Dokumente
Dr. med Ralf Wagner Innovative Therapie und Operationsverfahren an der Wirbelsäule

Filme der Kindheit Kindheit im Film

Anatomischer Aufbau der Wirbelsäule Bandscheibenvorfall

Bandscheiben-Aktiv-Programm

Die Unternehmergesellschaft

Manuelle Therapie. Sichere und effektive Manipulationstechniken

System zur mikroinvasiven PLDD PLDD. Neue Möglichkeiten zur intradiskalen Schmerztherapie. Perkutane Laser Diskus Denervation/Dekompression

Klinische Psychologie: Körperliche Erkrankungen kompakt

Zeitung als Zeichen. Identität und Mediennutzung nationaler Minderheiten in Deutschland. Bearbeitet von Swea Starke

Die Erwartungen der Eltern an die weiterführende Schule beim Schulübertritt ihres Kindes von der Grundschule in die Sekundarstufe I

Indirekte Sterbehilfe

Zwänge verstehen und hinter sich lassen

Soziale Phobie bei Jugendlichen

Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik. Narzissmus. Theorie, Diagnostik, Therapie

Borderline-Therapie. Psychodynamik, Behandlungstechnik und therapeutische Settings. Bearbeitet von Dr. Mathias Lohmer, Otto F.

Lese-Rechtschreib-Störung

So führe ich mein Team

Wenn Alkohol zum Problem wird

Operative Versorgung von Wirbelsäulenerkrankungen der LWS

Zwischen fristgerechter und verspäteter Einschulung

Psychosoziale Beratung im Kontext von Pränataldiagnostik

schnell und portofrei erhältlich bei

Leitfaden Herztransplantation

Wenn Alkohol zum Problem wird

Der Impfkurs. Eine Anleitung zum richtigen Impfen. Bearbeitet von Prof. Dr. Wolfgang Jilg

Sprachförderung bei Kindern mit Down-Syndrom

Informationen über den Bandscheibenvorfall und die Barricaid Prothese zur Anulus-Rekonstruktion

Schulungspaket ISO 9001

Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik. Adipositas. Interdisziplinäre Behandlung und psychosomatische Perspektive

Sterben ohne Angst. Was Palliativmedizin leisten kann. Bearbeitet von Claudia Bausewein

Der Bandscheibenvorfall. von H. Meinig

Standard-Einsatz-Regeln: Kennzeichnung von Führungskräften, - fahrzeugen und Plätzen

Cyberstalking und Cybercrime

Mathe: sehr gut, 6. Klasse - Buch mit Download für phase-6

Gut leben mit Diabetes Typ 2

Kognitive Verhaltenstherapie

Geschichte der Psychologie

Bandscheibenleiden Degenerative Erkrankungen F 03

Zervikales Bandscheibenleiden Degenerative Erkrankungen F 04

PARADIGM SPINE. Patienteninformation. Der Bandscheibenvorfall an der Halswirbelsäule

Die Auswirkungen der englischsprachigen Hochschullehre in Deutschland auf das Deutschlernen in China

Wie Kinder ein Bilderbuch verstehen

Entfernung von Bandscheibenvorfällen mit minimalinvasiver OP-Technik

Handbuch Röntgen mit Strahlenschutz

Neurochirurgie/ Wirbelsäulen-Zentrum Köln

Klinik für Neurochirurgie Wirbelsäulenchirurgie

Lumbales Wurzelreizsyndrom. Definition:

Figur und Handlung im Märchen

ISO 9001: vom Praktiker für Praktiker. Bearbeitet von Norbert Waldy

Abstandsflächenrecht in Bayern

Die gemeinsame Trägerschaft von Einrichtungen durch mehrere Bundesländer

Ökologische Ethik und «Das Prinzip Verantwortung»

Strategie: Stimmungsmache

5.0. Was ist eine Übersichtsarbeit (Review)?

Bewegung, Spiel und Sport in der Ganztagsschule

Richtig einkaufen: Glutenfrei

Epilepsie und Psyche

Die zweite Instanz nach deutschem und englischem Zivilprozessrecht

Gerechtigkeit in der Schule

Prüfungsangst und Lampenfieber

Ästhetische Chirurgie

Das Archetypenkonzept C. G. Jungs

Controlling-Instrumente von A - Z

Wie mehrsprachige Kinder in der Deutschschweiz mit Schweizerdeutsch und Hochdeutsch umgehen

Narrative Kompetenz in der Fremdsprache Englisch

Die Roten Hefte / Ausbildung kompakt Bd 204. Tragbare Leitern. Bearbeitet von Thomas Zawadke

Krafttraining bei Kindern und Jugendlichen

Wie fange ich meine Rede an?

Depression. Helfen und sich nicht verlieren

Einführung in die Medienwissenschaft

Haufe TaschenGuide 179. Pflegeversicherung. Bearbeitet von Manfred Stradinger

Medi-Taping - Schmerzfrei im Handumdrehen

Einführung in die Kunstpädagogik

Die Roten Hefte / Ausbildung kompakt Bd 204. Tragbare Leitern. Bearbeitet von Thomas Zawadke

Sprachenlernen leichtgemacht!

Empathie und historisches Lernen

Schreiben in Unterrichtswerken

ADHS im Erwachsenenalter

Anonymus Casmiriensis Moksopaya. Historisch-kritische Gesamtausgabe Das Fünfte Buch: Upasantiprakarana

Mit Tod und Sterben leben lernen

Ein neues Verfahren zur Behandlung von Bandscheibenvorfällen im Bereich der Brustwirbelsäule

Chinesische Medizin für die westliche Welt

Werte und Bürgerschaftliches Engagement Perspektiven für Familie und Religion

Physikalisch-chemische Untersuchungsmethoden in den Geowissenschaften, Band 2

Das Zebra-Buch zur Geometrie

50 Strategien, die falschen Mitarbeiter zu finden... und wie Sie es besser machen können

ABC der Betriebswirtschaft

Was kann man an der Halswirbelsäule machen? Dr. Christopher Brenke

Qualitätssicherung klebemassenbasierter Verbindungstechnik für die Ausbildung der Luftdichtheitsschichten. Abschlussbericht

Haufe TaschenGuide 179. Pflegeversicherung. Bearbeitet von Manfred Stradinger. 3. Auflage Buch. 96 S. ISBN

Angewandtes Case Management

Preis und Markendehnung

Konzentration aufs Wesentliche!

BALANCE zur Sache. Mut zur Veränderung. Methoden und Möglichkeiten der Psychotherapie. Bearbeitet von Rosemarie Piontek

Polarlichter zwischen Wunder und Wirklichkeit

KOMPASS - Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus- Spektrum-Störungen

Herr Doktor, ich hab ne Bandscheibe

Grundwissen Theologie Offenbarung. Bearbeitet von Klaus von Stosch

Jetzt lerne ich die Zahlen und rechnen (ab 5)

Handels- und Gesellschaftsrecht Fälle und Schemata für Dummies

Transkript:

Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis 2. überarbeitete und erw. Auflage Bearbeitet von Regina Kunz, Günter Ollenschläger, Heiner Raspe, Günther Jonitz 1. Auflage 2007. Taschenbuch. 450 S. Paperback ISBN 978 3 7691 0538 4 Format (B x L): 16,5 x 23,8 cm Weitere Fachgebiete > Medizin > Human-Medizin, Gesundheitswesen > Biomedizin, medizinische Forschung, evidenzbasierende Medizin Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, ebooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

Kapitel 29 319 29 Evidenzbasierte Medizin am Beispiel des lumbalen Bandscheibenvorfalles Josef Ramsbacher 29.1 Einleitende Übersicht Die meisten Bandscheibenvorfälle sind degenerativ bedingt, wobei der Grad der Degeneration von der Leistungsfähigkeit des Gewebes und von der Größe der Belastung abhängig ist. Wegen der doppelten S-Form der Wirbelsäule und der damit verbundenen starken Belastung der Hals- und Lendenwirbelsäule, finden sich Bandscheibenvorfälle hauptsächlich in diesen beiden Abschnitten. Die Bandscheibe besteht aus einem äußeren Faserring, dem Annulus fibrosus, der den weichen Kern, den Nucleus pulposus, einfasst. Der allmählich im Laufe des Lebens fortschreitende Flüssigkeitsverlust der gesamten Bandscheibe führt zu einer Strukturveränderung mit Elastizitätsverlust, und als Folge der Materialermüdung kann der Faserring nachgiebig werden. Es kommt zu einer Bandscheibenvorwölbung (Protrusion). Wenn der Faserring reißt und es zum Austritt eines Teiles des Nucleus pulposus in den Wirbelkanal kommt, spricht man von einem Bandscheibenprolaps. Wird durch die Protrusion oder durch den Prolaps eine Nervenwurzel oder das Rückenmark komprimiert, so kommt es zu neurologischen Symptomen, deren Ausmaß von der Lage und Größe der Protrusion oder des Prolapses abhängig ist. Die ersten Bandscheibenvorfälle wurde über eine Laminektomie bzw. über eine Hemilaminektomie entfernt. Die Langzeitergebnisse dieser Operationen waren jedoch bedingt durch eine Reihe von Komplikationen, wie Infektionen, Rezidivbandscheibenvorfälle, Narbenbildung und Instabilitäten der Wirbelsäule nicht signifikant besser als bei konservativ behandelten Patienten [1]. Aus diesem Grund wurden im weiteren Verlauf neue Techniken entwickelt. Mittlerweile werden lumbale Bandscheibenvorfälle entweder mikrochirurgisch über eine interlaminäre Fensterung oder endoskopisch operiert. Neben diesen operativen Techniken wurde unter anderem auch die Chemonukleolyse entwickelt, bei der der Nucleus pulposus durch das über eine dünne Kanüle injizierte Chymopapain verdaut wird. Durch diese Volumenreduktion kommt es zu einer Entlastung der neuralen Strukturen [2]. Bei der mikrochirurgischen Technik wird über einen ca. 3 cm langen Hautschnitt das Ligamentum flavum eröffnet und teilweise entfernt. Unter mikroskopischer Sicht werden anschließend der Bandscheibenvorfall und falls nötig ein Teil des Nucleus pulposus entfernt. Bei diesen Eingriffen ist nach wie vor die Narbenbildung im Bereich der Nervenwurzel und die Destruktion von Muskelgeweben ein Problem. Bei den endoskopischen Techniken wird über einen kleinen lateralen Zugang ein Endoskop nach intraspinal vorgeschoben, wobei weder die Muskulatur noch das Ligamentum flavum verletzt werden. Der Nachteil dieser Technik besteht in ihrer eingeschränkten Anwendbarkeit, da nur ca. 25% aller lumbalen Bandscheibenvorfälle erfolgreich endoskopisch operiert werden können. Trotz der verbesserten minimal-invasiven Techniken klagen in den USA von den ca. 200 000 Patienten, die jährlich an einem Bandscheibenvorfall operiert werden, postoperativ zwischen 20 und 40% über dauerhafte neurologische Ausfälle oder Schmerzen. III

320 III EbM im ärztlichen Alltag 29.2 Klinisches Szenario Herr Siegfried, ein 45-jähriger Patient, bemerkte vor drei Wochen erstmalig eine leichte Fuß- und Großzehenheberschwäche sowie ein Taubheitsgefühl am Fußrücken und an der Großzehe rechts. Das klinische Bild wird durch starke Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule sowie im Bereich der Wade rechts komplettiert. Bei Belastung kommt es zusätzlich zu Kribbelmissempfindungen am Fußrücken und zu einer Zunahme der Schmerzen sowohl im Bereich der Lendenwirbelsäule als auch im Bereich der Wade rechts. Im Lendenwirbelsäulenbereich bestehen beiderseits neben der Wirbelsäule Muskelverhärtungen und die Bewegung der Wirbelsäule ist schmerzbedingt eingeschränkt. Das Anheben des gestreckten rechten Beines ruft bei 35 einen Nervendehnungsschmerz hervor. Anamnestisch ergibt sich, das die Symptome vor drei Wochen bei starker Belastung plötzlich aufgetreten sind, und dass sie sich seitdem nicht verändert haben. Eine konservative Therapie erfolgte nur in Form von Analgetika (Paracetamol). 29.3 Kritische Analyse der vorhandenen Evidenz Neben Expertenmeinungen, Kongressen und weiterführender Literatur ist heute das Internet, vor allem die MEDLINE-Datenbank, die wichtigste Informationsquelle. In unserem Fall wurde, um die derzeit geltenden Standards der nötigen diagnostischen Verfahren zu finden, folgende Suche veranlasst: D Suchbegriffe: X-ray and CT and MRI and Disc (Suchmodus: all fields). Ergebnis: 154 Veröffentlichungen. D Weitere Eingrenzungen durch den Begriff: Randomized keine Dokumente vorhanden. D Die Suche nach randomisierten kontrollierten Studien ergab: Es gibt in MEDLI- NE keine kontrollierten randomisierten Studien, die dem Evidenzgrad I oder II entsprechen würden. Dreiundvierzig veröffentlichte deutsch- und englischsprachige Reviews wurden gefunden, und in die nähere Auswahl gezogen. Bei der Suche nach dem besten diagnostischen Vorgehen wurde zusammenfassend Folgendes gefunden: D Alle bildgebenden Verfahren zeigen mit einer hohen Prävalenz abnorme Befunde in der Lendenwirbelsäule, die jedoch mehrheitlich keine Symptome hervorrufen und somit nur in der Verbindung mit den klinischen Daten zu einer zuverlässigen Aussage führen. Aus diesem Grund empfiehlt die Dutch Society for Neurology die Untersuchung durch einen Spezialisten und weiterführende Diagnostik nur, wenn die Indikation zur Operation gestellt werden sollte oder wenn die Diagnose unsicher ist. Folgenschwerer ist die Wahl der richtigen Behandlung. Hierbei lautet die Fragestellung: Welches Operationsverfahren Intradiskale Technik, Mikrochirurgische Technik, Chemonukleolyse, Transforaminale Endoskopische Technik bietet die größten Vorteile? Die Suche wird auf MEDLINE begrenzt. Die Suchterminologie sieht wie folgt aus: D Low back surgery and randomized. Ergebnis: 46 Veröffentlichungen (Suchmodus: all fields). D Desweiteren ergaben die Suche in MED- LINE unter clinical queries (im Suchmodus etiology, sensitivity) mit den Suchtermini: Lumbar discectomy 241 Veröffentlichungen und mit dem Zusatz randomized 23 Veröffentlichungen. In dieser Liste der oben genannten Suchergebnisse wurde eine Veröffentlichung gefunden,

29 Evidenzbasierte Medizin am Beispiel des lumbalen Bandscheibenvorfalles Kapitel 29 321 die besonders geeignet erscheint, die vorangehende Fragestellung zu beantworten. Der Abstract im Internet weist darauf hin, dass EbM angewandt worden ist und dass es sich um ein Review handelt, das neun randomisierte Studien, sechs Meta-Analysen, Review-Artikel, eine Leitlinie der EbM (Vorgehen zu diesem Fall), 38 chirurgische Fallserien und 35 zusätzliche Referenzen beinhaltet. Veröffentlicht wurde der Artikel Efficacy of lumbar discectomy and percutaneous treatment for lumbar disc herniation in Sozial- und Präventivmedizin von Carl D. Stevens [3]. Bemerkenswert ist, dass eine chirurgische Indikation bei Lumbalgien ohne neurologische Ausfallerscheinung bis zum Caudaequina-Syndrom reicht, und dass die neurologische Untersuchung zur Identifizierung eines Bandscheibenvorfalles nur eine Sensitivität von 50% und eine Spezitivität von 70% hat. Bildgebende Verfahren werden sehr häufig durchgeführt, führen aber nur in einem niedrigen Prozentsatz zu einem operativen Vorgehen. Bezüglich der Chemonukleolyse kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Studien, die die chirurgische Discektomie mit der Chemonukleolyse vergleichen, einstimmig besagen, dass ein größerer Erfolg mit der gewöhnlichen open -Operationstechnik zu erzielen sei. Ausschlaggebend ist aber die Feststellung, dass die Rate der fehlerhaften Chemonukleolysen zwischen 20 und 56% liegt. Über die perkutane Discektomie sind in der Literatur vorwiegend klinische Fallserien mit einer geringen Anzahl von Patienten zu finden. Es werden nur zwei randomisierte Studien genannt, wobei eine ein Spezialverfahren analysiert und die andere die perkutane Discektomie mit der Chemonukleolyse vergleicht. Über Techniken wie Laser-Discektomie und endoskopische Discektomie existieren häufig nur vorläufige Studien. Die Effektivität dieser Techniken kann darum zurzeit mangels valider Daten nicht evaluiert werden. 29.4 Diskussion Nachdem Langzeitergebnisse gezeigt haben, dass durch eine Laminektomie oder eine Hemilaminektomie in der Bandscheibenchirurgie keine signifikant besseren Ergebnisse erzielt werden als durch die konservative Therapie, wurde postuliert, dass die Eingriffe minimalisiert werden müssten [1; 4]. Hierbei konnte sich die mikrochirurgische Technik schnell durchsetzen. Im Rahmen der Umorientierung wurden aber auch viele alternative Verfahren, wie z.b. die Chemonukleolyse entwickelt. Diese perkutanen Operationsverfahren entsprachen dem Zeitgeist und waren sowohl bei den Medizinern als auch bei den Patienten sehr beliebt, da sie laut Werbung schonender sind und dem Patienten eine schnellere Schmerzfreiheit garantieren. Nach den ersten Erfolgsmeldungen [5; 6], die auch in der Boulevardpresse erschienen, stieg der Druck auf die Chirurgen, diese Verfahren anzuwenden. Dadurch wurde schnell eine große Anzahl von Patienten mit diesen Techniken operiert, wobei sich aber allmählich herausstellte, dass diese Verfahren nur sehr bedingt erfolgreich einsetzbar sind [3; 7]. Trotzdem wurden diese Techniken mehr als zehn Jahre favorisiert, bevor die schlechten Ergebnisse zu einem Umdenken führte. Die Gründe für die lange Vorherrschaft dieser Methoden liegen auf der Hand: D Alle perkutanen Operationstechniken können im ambulanten Bereich eingesetzt werden. D Trotz der großen Fallzahlen wurden nur wenige randomisierte Studien durchgeführt. D Der Druck der Patienten, mit dieser Technik operiert zu werden, war sehr groß. D Aus existenziellen Gründen sahen sich die Ärzte gezwungen, diese Techniken anzubieten. III

322 III EbM im ärztlichen Alltag 29.5 Auflösung des klinischen Szenarios Da es sich bei Herrn Siegfried um einen Bandscheibenvorfall handelt, bei dem der Annulus fibrosus bereits gerissen ist, wird dem Patienten grundsätzlich von einem intradiskalen Vorgehen abgeraten, da bei all diesen Verfahren (Chemonukleolyse, perkutane endoskopische Laser Discektomie, etc.) ein intakter Annulus fibrosus Voraussetzung für die Indikation ist. Eine transforaminale endoskopische Sequestrektomie erscheint ebenfalls wenig aussichtsreich, da erfahrungsgemäß, wie bei Herrn Siegfried vorhanden, eine Hypertrophie der Zwischenwirbelgelenke das Zwischenwirbelloch einengt und somit die Einführung des Endoskopes erschwert oder verhindert. Zudem erlaubt der enge Recessus lateralis keine sichere Sequestrektomie. Als optimale Methode wird dem Patienten daher das mikrochirurgische Verfahren empfohlen. Mit dieser Methode ist eine komplette Entfernung des Sequesters ebenso wie die partielle Ausräumung des Zwischenwirbelraumes möglich. Das ist ausreichend, um den zuvor unter Druck stehenden Nerv zu entlasten. Der längere Krankenhausaufenthalt (1 Woche), die Gefahr der Narbenbildung sowie das Risiko einer seltenen Wirbelsäuleninstabilität sind Nachteile gegenüber den endoskopischen Verfahren. Diese werden aber durch die sichere und ausgiebige Beseitigung des sequestrierten Bandscheibenmateriales kompensiert. Die Beantwortung der prozentualen Wahrscheinlichkeit eines guten postoperativen Ergebnisses ist trotzdem äußerst schwierig und sehr facettenreich. Abgesehen von den klinisch neurologischen Verschlechterungen ist die Zufriedenheit des Patienten der höchste Maßstab, wobei die Angaben in der Literatur zwischen 88 und 98% zufriedener Patienten schwanken. Im klinischen Alltag bleibt dabei der psychosoziale Aspekt weitgehend unbeachtet, obwohl eine Reihe von Arbeiten auf die psychodynamischen Theorien der Schmerzentstehung, die Auswirkung von persönlichen Ereignissen sowie über die multifaktorielle Ätiologie der Chronifizierung von Schmerzen hinweisen [8; 9]. Erst in den letzten Jahren wird häufiger, wie auch in unserer Klinik, ein interdisziplinäres Vorgehen bei der Behandlung von Patienten mit Bandscheibenvorfällen angeboten. 29.6 Schlussfolgerung Die Neurochirurgie ist ein Fach mit multidisziplinärem Ansatz, das sich durch ständige Innovationen vonseiten der Technik kontinuierlich weiterentwickelt [10]. Wie unschwer zu erkennen ist und auch oft in Fachzeitschriften erwähnt wird, fehlen häufig valide Studien, die eine Bewertung über die Effektivität zulassen [11]. In diesem Fach EbM anzuwenden ist problematisch, einerseits wegen der fortlaufenden Entwicklung, andererseits aufgrund der Schwierigkeit, valide Studien durchzuführen. Daher wird gefordert, durch Multicenterstudien mehr Klarheit über die Effektivität der einzelnen Operationsverfahren zu gewinnen. Nur dadurch kann der praktizierende Neurochirurg die einzelnen Operationstechniken vergleichen und den Patienten die optimale Therapie empfehlen. Literatur [1] Weber H, Lumbar disc herniation. A controlled, prospective study with ten years of observation. Spine. (1983), 8, 131 140 [2] Roggendorf W et al., Morphological alterations of the degenerated lumbar disc following chemonucleolysis with chymopapain. J Neurosurg. (1984), 60, 518 522 [3] Stevens CD et al., Efficacy of lumbar discectomy and percutaneous treatments for lumbar disc herniation. Soz Praventivmed. (1997), 42, 367 379 [4] Ogon M et al., Minimal-invasive Zugänge und Operationsverfahren an der Lendenwirbelsäule. Orthopade. (1997), 26, 553 561