Nr. 44 De Cubber gegen Belgien Entschädigung

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Transkript:

14.9.1987 De Cubber (Entschädigung) 505 Nr. 44 De Cubber gegen Belgien Entschädigung Urteil vom 14. September 1987 (Kammer) Ausgefertigt in französischer und englischer Sprache, die gleichermaßen verbindlich sind, veröffentlicht in Série A / Series A Nr. 124-B. Beschwerde Nr. 9186/80, eingelegt am 10. Oktober 1980; am 12. Oktober 1983 von der Kommission vor den EGMR gebracht. EMRK: Gerechte Entschädigung, Art. 50 (Art. 41 n.f., Text in EGMR-E 1, 654). Innerstaatliches Recht: Art. 441 Strafprozessordnung (Code d instruction criminelle). Ergebnis: Ersatz für immateriellen Schaden sowie Erstattung von Kosten und Auslagen im Verfahren vor dem Kassationshof und vor den Konventionsorganen zugesprochen. Sondervoten: Keine. Innerstaatliche Umsetzung der De Cubber-Urteile (Hauptsache und Art. 50), Überwachung durch das Ministerkomitee (gem. Art. 54 [Art. 46 n.f.]): Das Ministerkomitee des Europarats teilt im Anhang zu seiner Entschließung DH (88) 20 vom 9.12.1988 mit, es sei von Belgien darüber informiert worden, dass der Kassationshof im Anschluss an das De Cubber-Urteil in der Hauptsache vom 26.10.1984 (s.o. S. 495) im Jahr 1985 seine Rechtsprechung geändert hat Urteil vom 23.1.1985, Lomry und Marchal, Pasicrisie Belge, 1985 I, n 302. Der Kassationshof hat dieses Urteil in der Folge mehrfach bestätigt, so dass eine Konstellation wie im Fall De Cubber nicht mehr auftreten kann. Weiter heißt es: Tatsächlich hat sich der Kassationshof der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 der Konvention angeschlossen, wie sie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall De Cubber vorgegeben wurde. Ferner teilt das Ministerkomitee mit, Belgien habe die nach Art. 50 zu zahlenden Beträge (zusammen 278.221, BF) am 5.10.1987 an den Anwalt des Bf. überwiesen. Sachverhalt und Verfahren: (Zusammenfassung) Im Urteil zur Hauptsache De Cubber vom 26. Oktober 1984 (EGMR-E 2, 495) hat der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 der Konvention festgestellt, da die Strafsache des Beschwerdeführers (Bf.) in der ersten Instanz (vor dem Tribunal correctionnel Oudenaarde) nicht von einem unparteiischen Gericht entschieden worden ist und weder das Appellationsgericht Gent noch der belgische Kassationshof diesem Fehler abgeholfen haben. Einer der Richter am Tribunal correctionnel, das den Bf. zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt hat, war zuvor in demselben Verfahren als Untersuchungsrichter tätig gewesen. Nach Ansicht des Gerichtshofs hat die beanstandete Zusammensetzung des Tribunal correctionnel, die sich aus der internen Organisation des Gerichts ergab und die vom Appellationsgericht nicht korrigiert wurde, Anlass zu Zweifeln an der Unparteilichkeit des Gerichts gegeben. [1.-10.] Wie im Fall Piersack (Urteil zur Entschädigung, EGMR-E 2, 179) hatte der belgische Justizminister, auf Art. 441 StPO gestützt, auch in diesem Fall den Generalstaatsanwalt beim Kassationshof angewiesen, die Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Ziel der Aufhebung des Urteils erster Instanz zu betreiben. Im Fall Piersack hatte der Kassationshof dem Antrag stattgegeben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an ein anderes Gericht zurückverwiesen. Im vorliegenden Fall hat der Kassationshof in sei- N.P. Engel Verlag EGMR-E 2 Text Seite 505 28.8.09

506 EGMR-E 2, 505 Nr. 44 ner Entscheidung vom 27. Januar 1987 den Antrag des Generalstaatsanwalts für unzulässig erklärt. Der Kassationshof begründete seine Entscheidung wie folgt: Er sei als Organ der rechtsprechenden Gewalt keine in Art. 50 der Konvention erwähnte Vertragspartei; dies sei der belgische Staat; Art. 441 StPO greife dann, wenn die geltend gemachte Rechtswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung sich aus nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen ergebe; dies sei hier nicht der Fall; der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe in seinem Urteil vom 26. Oktober 1984 lediglich zu einer Rechtsfrage Stellung genommen, die der Kassationshof in seinem Urteil vom 15. April 1980 [bereits anders] entschieden habe. Zum Verfahrensablauf stellte der Gerichtshof am 22. Mai 1987 fest, dass unter den gegebenen Umständen eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist. Entscheidungsgründe: [11.] Art. 50 der Konvention lautet wie folgt: Erklärt die Entscheidung des Gerichtshofs, dass eine Entscheidung oder Maßnahme einer gerichtlichen oder sonstigen Behörde eines der Hohen Vertragschließenden Teile ganz oder teilweise mit den Verpflichtungen aus dieser Konvention in Widerspruch steht, und gestatten die innerstaatlichen Gesetze des erwähnten Hohen Vertragschließenden Teils nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Entscheidung oder Maßnahme, so hat die Entscheidung des Gerichtshofs der verletzten Partei gegebenenfalls eine gerechte Entschädigung zuzubilligen. Die vom Bf. im Rahmen dieser Vorschrift gestellten Anträge zielen sowohl auf Schadensersatz als auch auf Ersatz von Kosten und Auslagen. Der Bf. beantragt außerdem die Erklärung der Unpfändbarkeit der zugesprochenen Summen. I. Schaden A. Anträge des Bf. [12.-16.] Der Bf. argumentiert, ohne die vom Gerichtshof im Hauptsache-Urteil festgestellte Konventionsverletzung wäre er obwohl gesetzlich als Rückfalltäter (Betrugsdelikte) eingestuft im Ausgangsverfahren und in weiteren Verfahren zu kürzeren Freiheitsstrafen verurteilt worden. Bei seiner Berechnung geht er von insgesamt 2.774 Tagen ungültiger Strafhaft aus. Bei Zugrundelegung von 2.000, BF [ca. 50, Euro]* pro Tag gelangt der Bf. zu einer Schadensersatzforderung von insgesamt 5,548 Mio. BF [ca. 137.531, Euro]. B. Stellungnahmen der Regierung und der Kommission [17.-19.] Die Regierung hält die Forderung für abwegig, da der Bf. als Rückfalltäter keineswegs mit geringeren Strafen hätte rechnen können. Zu- * Anm. d. Hrsg.: Die hier und nachstehend in Klammern angegebene Umrechnung in Euro (gem. offiziellem Kurs: 1 Euro = 40,3399 BF) dient einer ungefähren Orientierung. Durch Zeitablauf bedingte Wertveränderungen sind nicht berücksichtigt. N.P. Engel Verlag EGMR-E 2 Text Seite 506 28.8.09

14.9.1987 De Cubber (Entschädigung) 507 dem hätte ein dem Bf. günstiges Urteil des Kassationshofs am 4. Februar 1980 keineswegs zu einem Freispruch geführt. Die Regierung erklärt sich jedoch bereit, für immateriellen Schaden eine Summe von 75.000, BF [ca. 1.859, Euro] in Anbetracht der Tatsache zu zahlen, dass die Unparteilichkeit des Tribunal correctionnel Oudenaarde zu berechtigten Zweifeln beim Bf. habe führen können. (Übersetzung) 20. Nach Auffassung des Delegierten der Kommission hat die unterbliebene Aufhebung des Urteils des Appellationsgerichts Gent es unmöglich gemacht, zu einem Ergebnis zu gelangen, das einer restitutio in integrum nahe kommt. Auch könne nicht darüber spekuliert werden, welchen Ausgang das beanstandete Verfahren ohne die Konventionsverletzung gehabt hätte. Der Delegierte der Kommission ist der Ansicht, der Bf. habe keinen materiellen Schaden dargetan, der sich aus der Nichtbeachtung von Art. 6 ergibt, wohl aber habe er einen immateriellen Schaden erlitten, für den das Urteil des Gerichtshofs vom 26. Oktober 1984 (EGMR-E 2, 495) keinen hinreichenden Ausgleich bietet. Er befürwortet deshalb eine höhere Entschädigungszahlung als von der Regierung angeboten, nennt jedoch keine konkrete Zahl. C. Entscheidung des Gerichtshofs 21. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 50 vorliegen: Das Verfahren in Belgien nach dem Urteil des Gerichtshofs (s.o. Ziff. 7 [abweisende Entscheidung des Kassationshofs]) hat der in dem Straßburger Urteil vom 26. Oktober 1984 (EGMR-E 2, 495) festgestellten Konventionsverletzung nicht abgeholfen. Das Verfahren hat also zu keinem Ergebnis geführt, das einer restitutio in integrum so nahe kommt, wie es der Natur der Sache nach möglich war (s., im Umkehrschluss, das Urteil Piersack vom 26. Oktober 1984, Série A Nr. 85, S. 15-16, Ziff. 11, EGMR-E 2, 180). Der Kassationshof hat am 27. Januar 1987 den auf Weisung des Justizministers gestellten Antrag des Generalstaatsanwalts für unzulässig erklärt; der Kassationshof hat das Urteil vom 4. Februar 1980 des Appellationsgerichts Gent nicht aufgehoben mit der Folge, dass der Bf. nicht in den Genuss einer neuerlichen Prüfung seiner Sache durch ein anderes Gericht gelangt ist, an welches das Verfahren zurückverwiesen worden wäre (s.o. Ziff. 5 und 7). Demzufolge hat der Gerichtshof im Rahmen von Art. 50 die Konsequenzen aus seinem Urteil vom 26. Oktober 1984 für den belgischen Staat zu beurteilen, der für die Funktionsfähigkeit seiner Institutionen insgesamt verantwortlich ist (s. insbesondere sinngemäß das Urteil Foti u.a. vom 10. Dezember 1982, Série A Nr. 56, S. 21, Ziff. 63, EGMR-E 2, 191 f., das Urteil Zimmermann und Steiner vom 13. Juli 1983, Série A Nr. 66, S. 13, Ziff. 32, EGMR-E 2, 293, und das Urteil Lingens vom 8. Juli 1986, Série A Nr. 103, S. 28, Ziff. 46, EGMR-E 3, Nr. 19). 22. Aus dem Straßburger Urteil ergibt sich, dass die alleinige Grundlage für die Zuerkennung einer gerechten Entschädigung im vorliegenden Fall in dem Umstand liegt, dass die Unparteilichkeit des Tribunal correctionnel Oudenaarde dem Bf. zweifelhaft erscheinen konnte (Série A Nr. 86, S. 16, N.P. Engel Verlag EGMR-E 2 Text Seite 507 28.8.09

508 EGMR-E 2, 505 Nr. 44 Ziff. 30, EGMR-E 2, 500). Der Gerichtshof betont in diesem Urteil, selbst keinen Grund zu haben, an der Unparteilichkeit des Untersuchungsrichters zu zweifeln, dass aber die Anwesenheit dieses Richters auf der Richterbank der ersten Instanz bei dem Bf. berechtigte Befürchtungen hervorrufen konnte (a.a.o., S. 16, Ziff. 30, EGMR-E 2, 500). Der Gerichtshof hat dort zwei Präzisionen angefügt: Erstens betraf der Fehler die interne Organisation ; denn er ergab sich aus der Zusammensetzung des erkennenden Gerichts; andererseits hat das Appellationsgericht [den Fehler] nicht korrigiert, weil es das Urteil vom 29. Juni 1979 nicht insgesamt aus diesem Grund aufgehoben hat (a.a.o., S. 19, Ziff. 33, EGMR-E 2, 503). 23. Der Gerichtshof kann nicht darüber spekulieren, wie das beanstandete Verfahren ausgegangen wäre, wenn die Konventionsverletzung nicht stattgefunden hätte; kein Sachverhaltselement weist darauf hin, dass das Resultat für den Bf. wahrscheinlich günstiger gewesen wäre. Die in dieser Hinsicht vorgebrachten Argumente des Bf. überzeugen nicht. Die Frage der Verjährung stellte sich zu dem Zeitpunkt, als das Tribunal correctionnel Oudenaarde und das Appellationsgericht Gent entschieden haben, nicht. Im Übrigen ist keineswegs gesichert, dass für den Fall, dass der Kassationshof das Urteil des Appellationsgerichts Gent aufgehoben hätte, die Amnestie auf die vom Bf. vor seiner Inhaftierung begangenen Taten anwendbar gewesen wäre und so diese Inhaftierung ungültig gemacht hätte. Ferner ist die bedingte Strafe, deren Gültigkeit der Bf. bestreitet (s.o. Ziff. 16), nicht vollstreckt worden. Jedenfalls handelt es sich zudem um eine auf drei Monate Gefängnis lautende Ersatzfreiheitsstrafe, die vom Appellationsgericht Gent am 4. Februar 1980 verhängt wurde und die der Bf. nur dann hätte verbüßen müssen, wenn er die auf 20.000, BF [ca. 496, Euro] lautende Geldstrafe nicht bezahlt hätte. Schließlich kann das Verfahren, das am 26. Juni 1986 zu einer erneuten Verurteilung geführt hat, die vom Appellationsgericht Brüssel am 6. März 1987 bestätigt wurde (s.o. Ziff. 14), nicht als relevant angesehen werden, da das Tribunal correctionnel Oudenaarde bereits am 29. Juni 1979 selbst die Tatsache festgestellt hatte, dass der Angeklagte ein Rückfalltäter war (Série A Nr. 86, S. 9, Ziff. 12, EGMR-E 2, 496). Kurz gesagt, zwischen der Konventionsverletzung und der Dauer der Haft ist kein Kausalitätszusammenhang nachgewiesen. 24. Dagegen ist die Anwesenheit des zuvor in dieser Sache tätigen Untersuchungsrichters auf der Richterbank der erkennenden Richter geeignet, durchaus berechtigte Befürchtungen bei dem Bf. hervorzurufen (Urteil vom 26. Oktober 1984, Série A Nr. 86, S. 16, Ziff. 30, EGMR-E 2, 500). In dieser Hinsicht hat der Bf. einen immateriellen Schaden erlitten, den das Straßburger Urteil nicht vollständig hat ausgleichen können. Auf der Grundlage der von Art. 50 geforderten Billigkeitserwägungen (s. insbesondere sinngemäß Urteil Colozza vom 12. Februar 1985, Série A Nr. 89, S. 17, Ziff. 38, EGMR-E 3, Nr. 1) erkennt der Gerichtshof insoweit dem Bf. eine Entschädigung von 100.000, BF [ca. 2.479, Euro] zu. N.P. Engel Verlag EGMR-E 2 Text Seite 508 28.8.09

14.9.1987 De Cubber (Entschädigung) 509 II. Kosten und Auslagen A. Einleitung 25. Der Bf. beantragt die Erstattung von Gerichtskosten sowie von Rechtsanwaltsgebühren und Auslagen. Nach ständiger Rechtsprechung hat die verletzte Partei nur dann nach Art. 50 Anspruch auf Erstattung der Kosten und Auslagen, wenn sie diese aufgewandt hat, um die Konventionsverletzung in der innerstaatlichen Rechtsordnung zu verhindern oder zu korrigieren und um die Kommission und den Gerichtshof dazu zu veranlassen, diese Konventionsverletzung festzustellen und deren Beseitigung zu bewirken (s. zuletzt Urteil Feldbrugge vom 27. Juli 1987, Série A Nr. 124-A, Ziff. 14, EGMR-E 3, Nr. 15). Die Aufwendungen müssen tatsächlich entstanden, notwendig entstanden und der Höhe nach angemessen sein (ebd.). B. Kosten in Belgien 26. In Bezug auf die in Belgien aufgewandten Kosten fordert der Bf. zwei Beträge. Der eine Betrag in Höhe von 39.742, BF [ca. 985, Euro] stellt die Kosten dar, zu denen der Bf. vom Tribunal correctionnel Oudenaarde am 29. Juni 1979 (30.784, BF [ca. 763, Euro]) und vom Appellationsgericht Gent am 4. Februar 1980 (8.958, BF [ca. 222, Euro]) verurteilt worden ist. Der andere Betrag in Höhe von 8.221, BF [ca. 204, Euro] entspricht den Kosten, zu denen der Kassationshof den Bf. am 15. April 1980 verurteilt hat. 27. Die Regierung nimmt hierzu nicht Stellung. 28. Der Delegierte der Kommission bezieht sich auf die vom Gerichtshof im Fall Piersack angewendeten Kriterien und äußert die Ansicht, dass die Forderung angemessen ist. 29. Nach Ansicht des Gerichtshofs weisen die Gerichtskosten in Bezug auf das Verfahren vor den erkennenden Gerichten Tribunal correctionnel Oudenaarde und Appellationsgericht Gent keine hinreichende Verbindung mit der in Straßburg festgestellten Konventionsverletzung auf, um für eine Erstattung in Frage zu kommen. Dagegen kann der Bf. die Erstattung der Kosten verlangen, die sich auf das von ihm selbst vor dem Kassationshof angestrengte Verfahren beziehen, denn einer seiner Beschwerdepunkte zielte darauf ab, die Verletzung von Art. 6 in der innerstaatlichen Rechtsordnung zu korrigieren (vorzitiertes Urteil Feldbrugge, Ziff. 14, EGMR-E 3, Nr. 15). Die fragliche Summe beläuft sich auf 8.221, BF [ca. 204, Euro]. C. Kosten in Straßburg 30. In Bezug auf das Verfahren vor den Konventionsorganen beantragt der Bf. 150.000, BF [ca. 3.718, Euro] für Anwaltshonorare und 20.000, BF [ca. 496, Euro] für diverse Kosten. Außerdem veranschlagt er seine Aufwendungen für den Fall, dass der Gerichtshof im Rahmen des Verfahrens zu Art. 50 eine mündliche Verhandlung durchführen sollte, auf 50.000, BF [ca. 1.239, Euro]. N.P. Engel Verlag EGMR-E 2 Text Seite 509 28.8.09

510 EGMR-E 2, 505 Nr. 44 31. Die Regierung hält einen Betrag von 100.000, BF [ca. 2.479, Euro] wie ihn der Bf. am 24. September 1986 vorgebracht hat, für akzeptabel, und sieht den später geforderten Betrag von 220.000, BF [ca. 5.454, Euro] (Schriftsatz vom 24. März 1987, s.o. Ziff. 8) als ungerechtfertigt und übertrieben an; die Regierung betont in dieser Hinsicht den hypothetischen Charakter des Postens von 50.000, BF [für den Fall einer mündlichen Verhandlung]. 32. Der Delegierte der Kommission stützt sich auf die Kriterien, die vom Gerichtshof im Fall Piersack angewandt wurden und hält die Forderung des Bf. für angemessen. 33. Der Gerichtshof hat keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die Kosten tatsächlich entstanden sind, mit Ausnahme der Kosten für die Teilnahme eines Anwalts an einer mündlichen Verhandlung im Rahmen des Verfahrens zu Art. 50 die nicht stattgefunden hat (s.o. Ziff. 10), die der Bf. antizipiert, aber nicht getragen hat. Im Hinblick auf die Notwendigkeit der Kosten und deren Angemessenheit der Höhe nach stellt der Gerichtshof fest, dass der Bf. vor den Konventionsorganen keine Verfahrenskostenhilfe beantragt hat und dass die aufgezählten Kosten und Honorare nicht außergewöhnlich hoch sind. Demzufolge sind dem Bf. 170.000, BF [ca. 4.214, Euro] zu erstatten. III. Antrag, die zugesprochenen Summen für unpfändbar zu erklären 34. Der Bf. beantragt, der Gerichtshof möge in seinem Urteil erklären, dass die nach Art. 50 zugesprochenen Summen nicht gepfändet werden dürfen. Er legt allerdings nichts zu der Wahrscheinlichkeit einer solchen Maßnahme dar. 35. Dieses so dargestellte Problem ist deshalb hypothetisch und abstrakt. Demzufolge kann der Gerichtshof hierüber nicht entscheiden, zumal weder der Verfahrensbevollmächtigte der Regierung noch der Delegierte der Kommission hierzu Stellungnahmen abgegeben haben. Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig, 1. dass das Königreich Belgien dem Bf. 100.000, BF [ca. 2.479, Euro] als Schadensersatz zu zahlen und 178.221, BF [ca. 4.418, Euro] an Kosten und Auslagen zu erstatten hat; 2. dass der Antrag auf gerechte Entschädigung im Übrigen zurückgewiesen wird; 3. dass über den Antrag, die dem Bf. zugesprochenen Summen für unpfändbar zu erklären, nicht zu entscheiden ist. Zusammensetzung des Gerichtshofs (Kammer): die Richter Wiarda, Präsident (Niederländer), Ganshof van der Meersch (Belgier), Bindschedler-Robert (Schweizerin), Gölcüklü (Türke), Matscher (Österreicher), Sir Vincent Evans (Brite), Bernhardt (Deutscher); Kanzler: Eissen (Franzose); Vize-Kanzler: Petzold (Deutscher) N.P. Engel Verlag EGMR-E 2 Text Seite 510 28.8.09