Gewaltprävention Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen unter Schülerinnen und Schülern
Impressum Herausgeber: Text und Redaktion: Layout: Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) Beratungsstelle Gewaltprävention Winterhuder Weg 11, 22085 Hamburg; www.li-hamburg.de/bsg Sabine Christiansen (NEXUS) Susanne Engel (REBUS) Bianka Petri (LI) Bernd Priebe (Wendepunkt e. V.) Beate Proll (LI) Tobias Emskötter Auflage: 2000 Hamburg, April 2009 2
Für Lehrkräfte stellen sexuelle Grenzverletzungen unter Kindern und Jugendlichen eine besondere Herausforderung dar. Die Schule als Institution ist auf die Dynamik, die bei der Bearbeitung solcher Situationen zwangsläufig entsteht, häufig nicht vorbereitet. Die folgenden Hinweise sollen die Hamburger Schulen und Lehrkräfte darin unterstützen, geeignete Interventionsschritte bei sexuellen Übergriffen einzuleiten. An den Schulen wurden innerhalb eines Jahres (April 08 bis März 09) 14 Vorfälle mit 24 Tatverdächtigen anhand der Meldebögen erfasst. Die Zahl von minderjährigen Tatverdächtigen ist bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in den Jahren 1996 bis 2005 deutlich angestiegen: Bei Kindern sind die Tatverdächtigenzahlen in diesem Zeitraum um über 60 Prozent gestiegen und bei Jugendlichen haben sie sich fast verdoppelt 1. Ist eine Schule betroffen, empfiehlt sich für die Entscheidung, welche Schritte in Einzelfällen sinnvoll sind, eine Rücksprache mit Beratungsstellen, deren Adressen im Anhang genannt werden. Grundsätzlich sollten die Schritte und Gespräche während der Intervention von der Schule dokumentiert werden. Zum richtigen Umgang mit diesen Vorfällen ist das Wissen um die kindliche Entwicklung und Sexualität wichtig. Kindliche Entwicklung und Sexualität Es gibt eine weit verbreitete Unsicherheit im Umgang mit kindlicher Sexualität. Dieses gilt insbesondere bei der Konfrontation mit Verhaltensweisen, die als sexuell auffällig eingeordnet werden. 1 Quelle: Bange, Dirk; Hofmann, Sandra; Kristian, Silvia (2008): Minderjährige Sexual(straf)täter Fakten, Hintergründe und das Hamburger Modellprojekt. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 1/2008, S. 43 51 1
4 Grundsätzlich zeichnet sich kindliche Sexualität durch folgende Aspekte aus: Sie ist motiviert durch Neugierde, sie ist gekenntzeichnet durch Erkundungsverhalten, sie drückt sich spielerisch und ganzheitlich (weniger genital fixiert) aus, sie zeigt sich in spontanem, unbefangenem Äußern von Bedürfnissen und genussvollem Erleben aller Sinneswahrnehmungen. Bei der Einordnung dieser Verhaltensweisen ist zum einen der Entwicklungsstand des Kindes bzw. Jugendlichen zu berücksichtigen. Zeigt sich sexuell übergriffiges Verhalten im schulischen Kontext, bestehen zum anderen Tendenzen zur Dramatisierung oder Verharmlosung des Geschehens. Beispiel 1: Auf dem Ausflug der 3. Klasse beobachtet die Lehrerin, wie ein Schüler seinen Penis vor einer Mitschülerin entblößt. Die Lehrerin informiert unverzüglich ihre Schulleitung, die den Vorfall der Polizei meldet. Beispiel 2: Eine Schülerin der 6. Klasse berichtet ihrer Klassenlehrerin von wiederholten sexuellen Übergriffen durch einen Achtklässler: Er habe sie mehrfach abgefangen, an die Wand gedrängt und versucht, ihr den Slip runterzuziehen. Der von der Klassenlehrerin mit dem Vorwurf konfrontierte Junge leugnet die Tat und behauptet, das Mädchen sei beleidigt, weil er nicht mit ihr gehen wolle. Der Vorfall wird nicht weiter verfolgt. Für eine professionelle Intervention müssen Lehrkräfte sich u. a. mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Welche Verhaltensweisen werden als sexueller Übergriff eingestuft? Ab welchem Alter kann überhaupt davon gesprochen werden? Wann handelt es sich um Ausprobieren, d. h. um kindgerechte Verhaltensweisen? Wie ist das Vorgehen bei unterschiedlichen Aussagen?
Woran erkennt man sexuelle Grenzverletzungen? Faustformeln für die Einschätzung einer Situation können folgende Kriterien sein: Bei sexuellen Grenzverletzungen unter Kindern werden sexuelle Handlungen unfreiwillig, d. h. mit Druck, durch Versprechungen, Anerkennung oder mit körperlicher Gewalt ausgeübt. Die Voraussetzung dafür ist, dass ein Machtgefälle zwischen den beteiligten übergriffigen und betroffenen Kindern besteht. Anhaltspunkte für ein Machtgefälle sind u. a.: Altersunterschied, Geschlecht, körperliche Kraft bzw. Überlegenheit, Beliebtheit bzw. Position in der Gruppe der Gleichaltrigen, Abhängigkeiten (z. B. durch Erpressung und Bestechung), sozialer Status (nicht nur des Tatverdächtigen, sondern auch seiner Familie) und Intelligenz. Es handelt sich um so genannten sexuellen Missbrauch, wenn eine Person ihre Machtposition, d. h., die Unwissenheit, das Vertrauen und die Abhängigkeit eines Mädchens oder Jungen, für die eigenen Bedürfnisse nach Macht und sexueller Befriedigung benutzt. In der konkreten Situation kann es so aussehen, als ob das Opfer scheinbar freiwillig mitgewirkt hat. Seitens des Tatverdächtigen und seines Umfeldes wird der Übergriff häufig geleugnet oder bagatellisiert. Lehrkräfte sollten deshalb zur Aufklärung unbedingt Beratungsstellen einbeziehen. Bei der Planung von Interventionsschritten müssen kulturelle und soziale Hintergründe der Beteiligten berücksichtigt werden. Interesse und Verständnis für unterschiedliche Lebens- und Handlungskonzepte dürfen nicht zur Akzeptanz von übergriffigem und damit potentiell traumatisierendem Verhalten führen. 5
Hinweise zum Vorgehen bei Verdacht und konkreten Hinweisen auf sexuelle Grenzverletzungen unter Schülerinnen und Schülern Für den Fall, dass Lehrkräfte den Vorfall nicht selbst beobachten, sondern nachträglich informiert werden (z. B. von betroffenen Schülerinnen und Schülern, Zeugen oder Eltern), ist es erforderlich, zu einer eigenen Einschätzung der Situation zu gelangen. Es empfiehlt sich, zeitnah Klärungsgespräche (Klassen-, Beratungslehrkraft oder weitere Lehrkraft, getrennt mit beschuldigten und betroffenen Schülerinnen und Schülern) zu führen. Unterstützend kann eine Rücksprache mit REBUS, der Beratungsstelle Gewaltprävention (BSG-LI) sowie weiteren Beratungsstellen (s. Adressen) erfolgen. Bei der Planung der Intervention sollten die Betroffenen und deren Sorgeberechtigten, die Schulleitung, involvierte Lehrkräfte und der schulische Beratungsdienst (falls vorhanden) einbezogen werden. Handlungsschritte bei konkreten Hinweisen auf sexuelle Gewalthandlungen 6 Sofortmaßnahmen 1. Unterbindung des Geschehens durch die Lehrkraft (ggf. Unterstützung anfordern) 2. Versorgung des Opfers sicherstellen (Zuwendung und geschützten Raum bieten; prüfen, ob ärztliche Versorgung erforderlich ist) 3. Beaufsichtigung des Tatverdächtigen 4. Information über den Vorfall an die Schulleitung 5. Einschaltung der Beratungsstelle Gewaltprävention (BSG-LI), Beratung (Krisenintervention) 6. Information der Sorgeberechtigten (Opfer, Tatverdächtige) ggf. Untersuchung am UKE Kompetenzzentrum (UKE KINDER-KOMPT) 7. Dokumentation des Vorfalls durch Meldebogen und Weitergabe an die BSG-LI, REBUS, Schulaufsicht und Polizei.
8. ggf. Suspendierung des Tatverdächtigen durch die Schulleitung ( 49 (7) HmbSG) Pädagogische Maßnahmen 9. Betreuung des Opfers unter Einbeziehung von Beratungsstellen 10. Benennung einer Lehrkraft, die Kontakt zum Opfer und der Familie hält 11. Aufarbeitung des Vorfalls unter Einbeziehung von Beratungsstellen 12. kurze Information des Kollegiums u. evtl. auch - in angemessenem Rahmen - der Schulgemeinschaft (z. B. Klasse, Klassenstufe, Elternrat) Entscheidungen und Rückkehr in den Alltag 13. Begleitung und Unterstützung des Opfers und dessen Familie bei der Reintegration in die Schule 14. Begleitung des Tatverdächtigen (in alter oder neuer Schule) unter Einbeziehung von Beratungsstellen 15. langfristige Planung von Präventionsmaßnahmen (zwei, drei Monate später), Beratung durch Beratungsstelle Gewaltprävention (BSG-LI), Referat Gesundheitsförderung und Sexualerziehung 7
8 Hilfestellen bei Sexuellen Gewalthandlungen unter Schülerinnen und Schülern Schulische Ansprechpartner Beratungsstelle Gewaltprävention (BSG-LI) Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Geschäftszimmer: Tel. 42863-6244, Fax -6245 E-Mail: Gewaltprävention@li-hamburg.de Gesundheitsförderung, Sexualerziehung & Gender Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Frau Beate Proll: Tel. 42801-3714, Fax -2877 E-Mail: Beate.Proll@li-hamburg.de REBUS der jeweiligen Regionen, in Kooperation mit dem REBUS Coaching-Team zu sexuellem Missbrauch von Mädchen und Jungen Beratungsstellen Allerleirauh e.v. Tel. 29 83 44 83, Fax -4484 E-Mail: info@allerleihrauh.de Dolle Deerns e.v. Tel. 439 41 50, Fax 43 09 39 31 E-Mail: dolledeerns-beratung@t-online.de Dunkelziffer e.v. Tel. 39 90 18 28, Fax -38 99 E-Mail: info@dunkelziffer.de Mädchenhaus Hamburg Beratungsstelle Tel. 42 84 9-235 Zornrot e.v. Tel./Fax 721 73 63 E-Mail: zornrot@gmx.de Zündfunke e.v. Tel. 890 12 15, Fax 890 48 38 E-Mail: info@zuendfunke.com Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen e.v. Tel.: 25 55 66 Wendepunkt e.v. Beratung und Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige
Tel.: 70 29 87 61, Fax -762 E-Mail: hamburg@wendepunkt-ev.de Kinderschutzzentren Kinderschutzzentrum Hamburg Tel. 491 00 07, Fax 491 16 91 E-Mail: Kinderschutz-Zentrum@hamburg.de für den Bereich Harburg Tel. 790 104 0, Fax 79 01 04 99 E-Mail: Kinderschutzzentrum-Harburg@hamburg.de Prüfung von akuter Kindeswohlgefährdung in Zusammenhang mit sexuell auffälligem Verhalten Jeweils zuständiger ASD UKE Rechtsmedizinische Untersuchungsstelle für Opfer von Gewalt KINDER-KOMPT: Kompetenzzentrum für die Untersuchung von Kindern Tel.: 42803-3132 oder 0172/ 42 680 90 Polizei Landeskriminalamt (LKA 42) Tel.: 428 67-4200 Die Inhalte des Flyers wurden in Kooperation mit Nexus (Netzwerk Hamburger Beratungsstellen gegen sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen), REBUS und Wendepunkt e.v. entwickelt. 9